Etwas dazwischenkommen lassen„Was uns dazwischenkommt, kommt uns mitunter gerade recht“, sagt Markus Mirwald. So geht es mir oft mit den besonderen Zeiten im Kirchenjahr. Zu Beginn dieses Jahres war ich ganz auf die Katastrophen konzentriert, deren Zeugen wir gerade sind: auf den Krieg in der Ukraine, das Erdbeben in der Türkei und in Syrien, aber auch auf Long-Covid, das so gar nicht zu Ende gehen will. Zugleich war und bin ich beeindruckt von Menschen, die gegen schlimme Zustände aufstehen. Von den Protestierenden im Iran oder denen in Belarus, die aus der medialen Aufmerksamkeit hierzulande verschwunden sind und doch noch immer kämpfen. Oder auch von Menschen in Deutschland, die mit Fantasie und Energie auf Probleme hinweisen, die schlicht aus dem Blick von Medizin und Politik gefallen zu sein scheinen: Marina Weisband und andere zeigen in den Sozialen Medien ihre Schuhe, die sie nicht mehr benutzen können, weil sie wegen Long Covid oder anderer Krankheiten unter chronischer Fatigue leiden, die kaum jemand ernst nimmt. Und da mitten hinein begann dann die Fastenzeit. Oder soll ich sagen: die Passionszeit? Das würde ja wieder passen – denn dieses unbegreifliche, ungeheuerliche Leiden so vieler Menschen stellt uns das Leiden des Menschensohns vor Augen. Und die Bilder des Gekreuzigten, die Pietà-Skulpturen in unseren Kirchen erinnern mich nun an die unerträglichen Fernsehbilder von Folterkammern und verwaisten Eltern in der Ukraine. „Lass leuchten!“, ruft uns nun die diesjährige Fastenaktion von 7 Wochen Ohne zu. Gegen unsere Hilflosigkeit angesichts all der Dunkelheit, vielleicht auch gegen unser Stumpfwerden in eigener Bedrängnis. „Irgendwo in Ihnen ist Licht“, schreibt der Redakteur Martin Vorländer dazu. „Auf Ihre Weise leuchten Sie. Ihr Schein trägt dazu bei, dass die Welt für andere heller wird.“ Um dieses Licht überhaupt wahrzunehmen, muss ich mich in der Tat unterbrechen lassen. Das Fasten ist für mich eine gute Art, aufmerksamer zu werden, auch für mich selbst. Und meine eigene Kraft.
Ein Fastenkalender hilft, „bei der Stange zu bleiben“, und gibt immer wieder neue Impulse. Sie können den Kalender noch bestellen oder die Fastenmail abonnieren unter 7wochenohne.de. Vielleicht möchten Sie sich auch inspirieren lassen von der Fastenaktion des Ökumenischen Bündnisses für Klimaschutz und Klimagerechtigkeit. Auch da geht es ja um Achtsamkeit, um einen bewussten, zärtlichen Umgang mit der Natur. Die Auseinandersetzung über angemessene Antworten auf den Klimawandel hat an Schärfe zugenommen – wie die Folgen des Klimawandels selbst. Ich denke an die „Letzte Generation“, das Reden von der Klima-RAF und den Deal mit dem Oberbürgermeister in Hannover, Belit Onay, der sich mit der „Letzten Generation“ auf ein Stillhalteabkommen geeinigt hat, aber wegen des geforderten Bürger*innenrats in die Kritik geriet. Und natürlich denke ich an Lützerath. „Auch als evangelische Kirche setzen wir uns ein für mehr Tempo bei der Energiewende, um konsequent und zukunftsmutig dem Klimawandel entgegenzutreten“, sagte die Bischöfin der Nordkirche Kristina Kühnbaum-Schmidt am 2. März vor dem angekündigten Aktionstag von Fridays for Future. Sie verstehe und teile die Ungeduld vor allem junger Menschen im Blick auf das Tempo der Energiewende. „Denn während die ersten LNG-Terminals in Deutschland in nur einem Jahr gebaut wurden, geht es beim Ausbau der erneuerbaren Energien weiterhin nur sehr langsam voran“, so die Beauftragte für Schöpfungsverantwortung der EKD. Nach meinem Eindruck geht es bei allem aber auch darum, mit welchen Mitteln, in welchen Formen wir zu politischen Entscheidungen kommen. Basisdemokratische Ansätze stehen gegen die Strukturen der repräsentativen Demokratie, das Bedürfnis nach unmittelbarem Handeln gegen die etablierten demokratischen Entscheidungsstrukturen. Die Fronten scheinen festgefahren. Dabei scheint mir außer Frage zu stehen, dass eine lebendige Demokratie sich auch entwickeln muss. Hier ein nachdenklicher Beitrag, der das Konzept des von der Letzten Generation geforderten, per Losentscheid gebildeten Gesellschaftsrats zum Ausgangspunkt nimmt.
Und dann kommt es einfach zu einer unmittelbaren Begegnung: Eine christliche Gruppe aus Lüchow-Dannenberg, die sich seit Jahrzehnten gegen Atomkraft und auch für andere Umweltthemen einsetzt und seitdem jede Woche Andacht im Wald von Gorleben hält, hat sich im letzten Jahr mit Lützerath kurzgeschlossen. Zunächst mit einem Passionsweg und dann mit einer Kreuzkapelle auf dem Gelände von RWE. Was aus diesem Kreuz wurde, wie es bei der Polizei landete und nach Lüchow zurückkam, lesen Sie hier. Wenn das keine Ostergeschichte ist.
Nach- und Vorausdenken
Auf das innere Licht achten, auf das Osterlicht, das im Dunklen leuchtet, das will ich selbst in diesem Jahr auch weit über Ostern hinaus. Zwischen Juni und August werde ich weitestgehend auf Vortrags- und Workshoptermine verzichten und mein neues Buch schreiben. In „Nochmal von vorn“ geht es um Politik – um Sozial- und Gesellschaftspolitik. Inzwischen verfolge ich seit vierzig Jahren aktiv, was da geschieht – oder eben auch nicht geschieht, mische mich ein, versuche mitzugestalten. Im letzten Jahr hatte ich angesichts der großen gesellschaftlichen Umbrüche den Eindruck, dass eigentlich Zeit für große Reformen wäre – vom Bürgergeld über die Kindergrundsicherung bis zur Krankenhausreform. Und trotzdem bleiben die Entwürfe vorsichtig-verhalten. Statt neuen Anläufen Stillstand, beispielsweise bei der dringend notwendigen Pflegereform, wie die BAGSO prägnant schreibt. In einem Tagebuch aus dem letzten Jahr denke ich darüber nach, woran dieser Stillstand liegt, was nötig wäre und was das alles mit Kirche zu tun hat. Wahrscheinlich ist es in der Kirche gar nicht anders. Kurz vor der Eröffnung der letzten Sitzung des Synodalen Weges sagte der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing: „Es gibt seit vielen Jahrzehnten einen Ballast an Fragestellungen, die wir mit uns führen.“ Bätzing scheint mir für einen langen Atem zu plädieren – den allerdings die meisten im Blick auf Kirche nicht mehr haben. Zumindest in Deutschland – weltweit sieht es anders aus. Die Spannung zwischen dem Sich-Üben in Geduld, bei dem es eben auch darum geht, möglichst viele Gruppen „mitzunehmen“, und der Notwendigkeit der Erneuerung beschäftigt mich gerade sehr. Im Sommer will ich mir bewusst Zeit nehmen zum Recherchieren, Schreiben, Zeit auch für neue Gedanken.
Ich bin in diesem Zusammenhang auf einige neue Bücher zu Kreativität und Schreiben gestoßen: Sehr praktisch orientiert ist Alina Gauses Kompass für Künstler. Ein persönlicher Wegbegleiter für Kreative – auf der Website finden Sie ein toll kommentiertes Inhaltsverzeichnis. Und wer über das Schreiben selbst nachdenken will, dem lege ich Arno Geigers Buch Das glückliche Geheimnis ans Herz. Mich fasziniert die Erzählung, wie Schreiben und Leben, aber auch Wegwerfen und Entdecken verbunden sind. Interviews mit Schriftstellerinnen in 12 Zimmer für sich allein machen Lust, das eigene Schreiben neu zu entdecken. Und Iris Wolff, deren Romane ich hier schon einmal vorgestellt habe, ist eine von drei Autor*innen, die ein Buch über ihre Schreibzeit auf der Wartburg in Luthers „Schreibstube“ herausgebracht haben. „Das Schreiben hat zwei Richtungen“, sagt sie: „Es führt in die Welt und gleichzeitig auf einen selbst zu – es ist die sinnvollste Tätigkeit, die ich für mich entdecken konnte.“ (Iris Wolff, Uwe Kolbe, Senthuran Varatharajah: Der Augenblick nennt seinen Namen nicht). Aber die Einsamkeit der Turmstube bringt nicht immer neue Inspiration – manchmal hilft der Austausch in einer Gruppe weiter. Wohl auch deshalb haben die Schreibworkshops seit einigen Jahren Konjunktur. Dr. Dagmar Deuring, mit der ich bei diesen Newslettern, bei meiner Homepage und anderen Projekten zusammenarbeite, bietet nun solche Workshops an. Schauen Sie doch mal rein!
Mit dem Coaching geht es, wenn es notwendig ist, auch in Schreibzeiten weiter – es hat ja seine ganz eigene Schrittfolge! Dieser Dialog, in dem ich andere bei der Klärung ihres Wegs unterstütze, ist auch für mich selbst etwas zutiefst Lebendiges, denn wir sind in diesem Prozess – selbst wenn Vergangenes im Blick ist – immer dicht auf der Schwelle zur Zukunft. Mit Freude nehme ich wahr, wie die Zahl meiner Coachees wächst und wie allmählich auch Männer darunter sind. Da ich öfter gefragt werde: Ich coache auch online, finde es aber wichtig, dass wir jedenfalls einmal auch vor Ort miteinander arbeiten. Normalerweise beginnt alles mit einem Online-Kennenlerntermin von ca. einer Stunde, dem dann drei bis vier weitere Termine folgen, online oder analog, jeweils meist zwei bis drei Stunden. Wenn es nur einen Face-to-Face-Termin gibt, kann der auch etwas länger sein. Wir legen am Anfang gemeinsam Ziele fest – wenn gewünscht auch in einem schriftlichen Vertrag. Manchmal übernehmen die Arbeitgeber*innen die Kosten (über den Stundensatz reden wir gern persönlich), bei Coaching im beruflichen Kontext lassen sie sich aber auch von der Steuer absetzen. Was mich in dieser Arbeit als „Reisebegleiterin und Realitätenkellnerin“ nach wie vor fasziniert, ist der Aufbruch: in eine neue Position, ein neues Arbeitsumfeld, die Selbständigkeit oder eine herausfordernde ehrenamtliche Aufgabe – Aufbruch, der schon damit beginnt, dass Menschen ihr Leben mit anderen Augen anschauen möchten, um sich auf einen neuen Weg zu wagen. Auch das oft eine heilsame Unterbrechung der eingespielten Gewohnheiten. Ehrenamtliche lassen sich noch selten coachen, dachte ich kürzlich, als ich bei der Fortbildung der Diakonie in Baden und Württemberg „Fit für den Aufsichtsrat!“ referierte. Dabei wäre das natürlich für Vorstandsvorsitzende und Mitglieder in Aufsichtsräten der Diakonie genauso wichtig.
Hiob in der Ukraine, in der Türkei und in Syrien
Das Erdbeben in der Türkei und in Syrien und die Folgen haben mir zwischenzeitlich das Gefühl gegeben, dass wirklich alles bebt. – Ja, zunächst schaue ich politisch und sehe in den Ereignissen die Konsequenzen aus falschem Handeln, frage, wer verantwortlich ist etwa für unzulässige Baugenehmigungen oder, mit Blick auf den Krieg in der Ukraine, für eine falsche Außen- und Energiepolitik, frage, was wir besser machen können und müssen. Ich sehe all die Bilder und weiß: Macht- und Profitgier, Korruption, Zerstörungswut machen vor den Schrecken des Erdbebens nicht halt, nicht vor dem einfachen Wunsch nach Leben. Doch Seuche und Krieg, Erdbeben und Inflation – das hat offenbar noch eine tiefere, existenzielle Dimension auch für uns, die wir nur Zeug*innen sind. Manchmal kommen mir tatsächlich die apokalyptischen Reiter in den Sinn. Nichts ist mehr, wie es war. Alle Selbstverständlichkeiten sind in Frage gestellt, sagen die Jüngeren. Manche Ältere erinnern sich an ihre eigene „Erfahrung des Krieges, die sich uns in den Bombennächten einprägte, [die wir] ein Leben lang mit uns herumgetragen haben“. Doch die Schlussfolgerungen, die die Autor*innen des „Manifests der 80jährigen“ ziehen, kann ich nicht teilen, weder in Bezug auf die Wahrnehmung der hiesigen medialen Auseinandersetzung mit dem Krieg als einsinnig noch hinsichtlich des Wunschs, mit Vertrauen in Friedensverhandlungen mit Russland zu gehen. Solange Putin Zivilist*innen bombardieren lässt, ist kein Waffenstillstand möglich – und erst recht keine Verhandlung über Frieden. Die Ratsvorsitzende der EKD, Annette Kurschus, sprach vom Sog des Kriegsgeschehens, der uns hineinzieht in die Dunkelheit. Serhij Zhadan, der Friedenspreisträger, hält fest am gerechten Frieden. Aber er spricht auch vom totalen, enthemmten Bösen. Dass dieses Thema – Hölle, Sünde, Teufel – in die Theologie zurückkehren und wieder politisch missbraucht werden würde, wie es der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill tut – das hätten wir wohl lange nicht gedacht. Kyrills Foto begegnete ich übrigens einige Jahre lang im Haus meiner Eltern – es hing zwischen zahlreichen Fotos aus ökumenischen Begegnungen an der Studierzimmerwand; mein Vater, ebenfalls auf dem Foto und damals „Außenminister der EKD für Ökumene“, hat ihn nicht nur einmal getroffen. Dass es der EKD allerdings bis in die Gegenwart nicht gelungen ist, in den zahlreichen Begegnungen einen anderen Grundstein für das Miteinander zu legen, das sollte uns im Blick auf Forderungen nach mehr Diplomatie nachdenklich machen – zumal wir heute aus sicheren Quellen wissen, was wir damals nur über Gerüchte hörten: in welchem Maße die Moskauer Ökumenegruppe mit dem KGB verbunden war. Alles bebt. In Klagenfurt wird gerade HIOB aufgeführt, eine Oper, die auf Joseph Roths Roman nach dem biblischen Stoff beruht, und mir scheint, es lässt sich auch als eine Reflexion auf dieses Geschehen lesen. An der Hiobgeschichte tröstet mich – nach all dem Ringen, all dem Leid – die Zärtlichkeit, mit der die Bibel von seinem späten zweiten Leben mit seinen neu geborenen Töchtern erzählt. Jenseits der Theologie bewegt sich naturgemäß das Werk des Historikers Gregor Schöllgen Krieg. Hundert Jahre Weltgeschichte. Der Titel ist pointiert, ebenso die Darstellungsweise, doch aus meiner Sicht ermöglicht das Buch eine wichtige Perspektive auch auf die aktuelle Situation (hier ein Blick auf einige Rezensionen).
Herbert Grönemeyer singt von der Hand, die ihn hält, die er hält. Ich möchte zwei Organisationen nennen, deren Arbeit mir besonders einleuchtet und die ich gern mit Spenden unterstütze: die Weißhelme, eine zivilgesellschaftliche Organisation in Syrien, die gerade im Zusammenhang mit dem Erdbeben zahllosen Menschen geholfen hat und hilft, pragmatisch, nah dran. Auch Ärzte ohne Grenzen helfen im syrischen Erdbebengebiet und lassen sich nicht abhalten von politischen Grenzen. In beiden Organisationen helfen die Freiwilligen mit überwältigendem persönlichem Mut und Engagement. Ein ganz anderes Beben geht derzeit durch Israel mit den Plänen der rechtsnationalen Regierung für eine Justizreform – Yuval Noah Harari nennt es Staatsstreich – sowie mit ihrer Siedlungspolitik. Zur deutschen Debatte über Israel möchte ich Meron Mendels Über Israel reden empfehlen, das knapp und doch differenziert für die höchst komplexe Situation im Land sensibilisiert.
Europa, wo bist du? Migration, Energie und innere Zerreißproben
Inzwischen haben allerdings viele Kommunen und auch Freiwilligengruppen das Gefühl, durch die Geflüchteten, die bei uns ankommen, überfordert zu sein. Es fehlen Unterkünfte und Wohnungen, Schul- und Kitaplätze, aber auch Deutschkurse. Und oft entstehen schwierige Konflikte. In Berlin wurde eine Senior*inneneinrichtung eines diakonischen Trägers geräumt, um Geflüchteten Platz zu machen – eine problematische Entscheidung. Aber so schwierig es auch ist: Es kommt immer auf die Art des Miteinanders und der Kommunikation an. In diesem Sinne antwortete auch der Berliner Bischof Stäblein zu den dortigen Ereignissen. Auf europäischer Ebene wird über einen stärkeren Grenzschutz und mehr Kontrollen nachgedacht – aber es „kann nicht sein, dass wir nur darüber reden, ob die Grenzen rund um Europa hochgezogen werden, sondern es geht darum, ein gemeinsames Asylsystem zu haben mit einer gerechten Verteilung“, sagte Nancy Faeser – sicherlich auch mit Blick auf die jüngste Verschärfung des Asylrechts in Großbritannien, das ja weiterhin zu Europa gehört. Ich hoffe sehr, dass hier endlich Bewegung in die seit Jahren starren Positionen kommt. In einer Ansprache zum Volkstrauertag im letzten Jahr habe ich mich dem Thema Flucht und Vertreibung auf der Ebene der einzelnen Geschichten zugewandt und geschaut, was von dort aus in Bewegung geraten kann – wenn Menschen dafür offen sind. Fragen der Migration sind nicht die einzigen drängenden Probleme, die auf europäischer Ebene gelöst werden müssen. Dazu gehören auch die Energiepolitik und die Unterstützung der europäischen Wirtschaft gegenüber dem amerikanischen Inflation Reduction Act. Hier wie bei der Unterstützung für die Ukraine sucht Deutschland offenbar nach wie vor nach der eigenen Rolle. Wer eine gedankliche Rundreise zu den gesellschaftlichen Veränderungen und politischen Herausforderungen in Europa wagen will, dem sei Alex Ruehles Europa: Wo bist du? empfohlen. Und natürlich Robert Menasses Roman Die Erweiterung, der uns von Brüssel auf den immer noch in sich zerrissenen Westbalkan führt. „Klar ist: Die Europäische Union war die vielleicht kühnste Erfindung der Politikgeschichte – und ein großes Versprechen“, schreibt Ruehle. Gerade deshalb ist auch seine Nachfrage so wichtig: „Aber was davon wird eingelöst und kommt hier draußen an?“ Wenn Sie sich über sozialpolitische Debatten in Europa auf dem Laufenden halten möchten, mögen Sie vielleicht den Newsletter Social Europe, die Europa-Informationen der EKD, die BBE Europa-Nachrichten oder auch politico abonnieren. Überall in Europa wachsen derweil die Zerreißproben zwischen prekär Beschäftigten und wohlsituierten Erben – zwischen Armen und Reichen (hier einige aktuelle Zahlen und Berichte zur wachsenden Armut in Deutschland). Und der Krieg in der Ukraine, die Energiekrise und die Inflation schieben diesen Prozess noch weiter an. Während in Frankreich weite Teile der Bevölkerung gegen die Rentenreform auf die Straße gegangen sind, streiken hierzulande die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes und viele weitere – gemeinsam mit Fridays for Future für eine sozial-ökologische Transformation. Thomas Piketty hat schon vor Jahren dargestellt, dass sich in Westeuropa Rentiers-Gesellschaften entwickeln. In Deutschland beispielsweise werden jährlich 450 Milliarden Euro vererbt – das ist fast die Höhe des Bundeshaushalts. Würde man eine entsprechend gerechte Erbschaftssteuer berechnen, meint Piketty, dann wäre ein wirkliches Generationenerbe möglich. Jeder junge Mensch könnte zu seinem 25. Lebensjahr 120.000 Euro als kollektives Erbe erhalten und hätte die Sicherheit, sich ein gutes Leben aufbauen zu können. Denn das ist das Entscheidende am Erbe: Es gibt Sicherheit, während eine prekäre Existenz eben nicht nur durch wenig Geld geprägt ist, sondern auch durch eine Unsicherheit, die die Entfaltungs- und Handlungsmöglichkeiten der Menschen einschränkt wie erstickter Atem. Mit diesen Fragen hat sich auch Yannick Haan in seinem Buch Enterbt uns doch endlich beschäftigt. Eine Sendung von Michael Hollenbach, der auch mich zum Thema Erben und Erbstreit interviewt hat, kann man noch nachhören. Eine stabile Demokratie lebt auch von sozialer Gerechtigkeit.
Wohnschule und Mitmachregionen – Strategien gegen Einsamkeit
„Einsamkeit schmeckt nach 1000 verschiedenen Gewürzen, wie Curry“, schreibt die krebskranke, blinde Pastorin Christina Ernst auf ihrem Facebook-Blog. In meinen Vorträgen und Newslettern habe ich schon öfter über das Thema Einsamkeit nachgedacht, das sich während der Corona-Zeit so zugespitzt hatte. Es bleibt brisant und wir dürfen es nicht aus dem Blick verlieren, nur weil die Kontaktbeschränkungen aufgehoben sind. Einsamkeit erhöht das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, aber auch für Depressionen und Suizidalität. Nach einer Berechnung einer Forschergruppe aus Großbritannien, wo es ja seit einigen Jahren ein Einsamkeitsministerium gibt, könnten 20 Prozent Gesundheitskosten eingespart werden, wenn man soziale Angebote auf Rezept verschriebe. Während der Corona-Krise entstanden an vielen Orten Einkaufs- und Fahrdienste für die Älteren – oft spontan in der Nachbarschaft, oft aber auch organisiert von Kirche, Diakonie oder Caritas. Solche Projekte haben aufgenommen, was sich in der Quartiersbewegung schon länger entwickelt hatte. Ich freue mich darüber, denn aus meiner Sicht liegt in dieser Bewegung das Potenzial für Antworten auf sehr unterschiedliche Herausforderungen unserer Zeit – von der eben angesprochenen Einsamkeit über die Situation der Pflege (hier möchte ich noch mal auf das tolle Erasmus-Projekt See Me hinweisen, das bei den Pflegekompetenzen gerade auch das sinnerfüllte Leben der pflegebedürftigen Alten in den Blick nimmt), den Umgang mit Demenz bis hin zu Fragen der Willkommenskultur oder der Politikverdrossenheit. Seit vielen Jahren engagiere ich mich daher mit meinen Vorträgen und Workshops in diesem Bereich. Dabei interessiert mich immer mehr das Thema Kommunalpolitik. Es geht mir hier nicht nur um Serviceorientierung und Digitalisierung, sondern um Kommunalpolitik als Schnittstelle zur Zivilgesellschaft. Am 16. März hatte ich Gelegenheit, in Sonthofen mit Kreisrätinnen aller Fraktionen daran zu arbeiten – denn auch hier muss sich etwas verändern: Die Parteien müssen offener und zugänglicher werden, damit mehr Frauen, mehr Alleinerziehende oder Pflegende, mehr Menschen mit Migrationshintergrund in die Kommunalpolitik gehen. Und dort etwas bewirken: „Wenn man sich ein Problem zu Herzen nimmt, wenn man den Impuls verspürt, aus dem Privatinteresse herauszutreten und sich mit anderen zusammenzutun, und wenn dies Leidenschaft und Reaktionen weckt, dann findet Politik statt“, sagen die Philosophinnen Luise Muraro und Chiara Zamboni. Gern gebe ich hier auch wieder einige Hinweise auf Initiativen, Netzwerke, Lernangebote und Tools, die aus meiner Sicht beispielhaft sein oder Engagierte unterstützen können. Ganz konkret und auf der Straße treffen sich Menschen beim Tag der offenen Gesellschaft am 17. Juni. Am 26. Mai ist der von nebenan.de initiierte Tag der Nachbarn (auf der Website motivierende Berichte aus dem letzten Jahr). Begegnung ist schließlich der Anfang dafür, gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen. Eine weitere starke Initiative des Miteinanders ist das Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement. Wie bei der Offenen Gesellschaft lohnt es sich, immer wieder auf deren Website zu gucken und sich vielleicht bei neuen Aktivitäten einzubringen, etwa bei der Kampagne Engagement macht stark im September, bei der auch ein*e Engagementbotschafter*in gekürt wird.
Ein hilfreiches Instrument für Initiativen, die sich auf diesen Weg begeben, ist die Vernetzungskarte der Mitmach-Regionen. Im letzten November wurde die Wohnschule Düsseldorf eröffnet, die zahlreiche Ansätze zu Wohnen und Arbeit, Gesundheit und Wohlbefinden, Teilhabe und auch zu Kultur und Herzensangelegenheiten zusammenbringt. In einem tollen Interview von Achim Beiermann mit Karin Nell werden viele Facetten und auch aktuelle Praxisbeispiele des Konzepts der Wohnschulen deutlich. Ein spannendes Wohnprojekt entsteht im Kloster Weingarten. Dort findet am 18./19. Juli ein Symposium Gemeinschaft baut Zukunft statt. Dabei geht es auch um die neue Nutzung von Immobilien der Kirche. Eine kreative Online-Toolbox bietet midi zum Thema Sozialraumentwicklung an. Es sind nicht zufällig oft kirchliche Träger, die Quartiersinitiativen anstoßen oder bündeln – oder die, wie in Stuttgart und dem Kloster Weingarten, kirchliche Immobilien entsprechend umnutzen. Und aus meiner Sicht ist dies tatsächlich ein wichtiges Handlungsfeld, in dem Kirche ihre Rolle für die Zukunft findet. Für meine Rede zum Neujahrsempfang der Diakonie Essen hatte ich mir die dortigen Aktivitäten noch einmal angeschaut – und war beeindruckt, auf wie vielen Ebenen und in wie unterschiedlichen Kooperationen Mitarbeitende und Ehrenamtliche quasi schon immer sich um die Ärmsten kümmern, Zugewanderten beim Ankommen helfen, Menschen zusammenbringen. Auch in Essen wenden sich viele von der Kirche ab. Aber „die Gemeinden treten nicht den Rückzug an. Im Gegenteil: Sie öffnen sich und fühlen sich verantwortlich für die Arbeit in den Quartieren“, habe ich dort gesagt. Und ich denke, das ist auch die richtige Antwort auf die zahlreichen Kirchenaustritte (hier die aktuellen Zahlen für die EKD). Oder darauf, dass laut einer Bertelsmann-Studie Kirche und Religion für viele nicht mehr als wichtige Orientierung und Stütze für die Krisenbewältigung zählen. Sicherlich ist es weniger und weniger die Kirche als Institution, der sich die Menschen anvertrauen, denke ich. Aber ich vertraue darauf, das existenzielle und religiöse Fragen zum Thema werden können, wenn Menschen echte Nähe und Gemeinschaft erfahren. Dabei geht es darum, dass wir G‘tt nicht „besitzen“, dass diese fremde Kraft uns vielmehr unvermutet begegnet, wenn wir einander ehrlich begegnen – auch mit unseren Ängsten und Zweifeln, wie die Jünger auf dem Osterweg nach Emmaus. Wo wir also über das Gewinnen und Halten von Mitgliedern diskutieren, sollten wir das nicht vergessen: Wer das Evangelium als Stärkung und Ermutigung erlebt, wer neue Entfaltungsräume und Netzwerke findet, wer sich zugehörig fühlt, wird vielleicht gern Mitglied. Wer aber zuerst nach dem Kosten-Nutzen-Verhältnis fragt, könnte schnell enttäuscht werden. Die Mitgliedschaft in der Volkskirche mit ihrer Kirchensteuer war ja nicht auf den individuellen Nutzen, sondern auf Gemeinwohl und den Einsatz für die Schwächeren angelegt. Darum ist es umgekehrt auch „absurd, ausschließlich zwischen Mitgliedschaft und Nichtmitgliedschaft zu unterscheiden“, sagt Hans-Martin Barth, wenn die Kirche „die Einsicht ernst nimmt, dass Glaube immer ein Prozess ist und dass Areligiosität auch unter Kirchenmitgliedern vorhanden ist.“ „Welche Kirche wollen wir in Zukunft sein – und was muss sich ändern auf dem Weg dahin?“, habe ich meinen Vortrag bei der Frühjahrssynode in Dreieich genannt, in dem ich auch so interessante Ansätze wie den von Barth vorstelle. Hier auch ein Zeitungsbericht über diese sehr lebendige Tagung! Was also kommt nach der Volkskirche? Überlegungen dazu sind in dem von meinem ehemaligen EKD-Kollegen Vicco von Bülow herausgegebenen Buch „Modell“ Volkskirche? zusammengetragen. Die Tagungsdokumentation reflektiert die gesellschaftliche Bedeutung, die Kirche im 20. Jahrhundert mit dem Stichwort Volkskirche zugeschrieben war, und fragt nach deren Zukunft. Unten bei den Büchern von Freund*innen stelle ich noch weitere wichtige Beiträge vor. Und ich freue mich über zahlreiche Initiativen, deren Kreativität und Schwung ich anzumerken meine, wie viel Begeisterung es eben auch auslösen kann, gemeinsam in dieser unserer Kirche etwas zu unternehmen: der Chrismon Wettbewerb Gemeinde 2023: Worauf wir stolz sind. Abstimmen bis 21. März; die Kampagne zum Taufjahr 2023: Weil du ein Segen bist oder das Netzwerk der frischen Ausdrucksweisen! Wohin es führt, wenn wir alles, auch Gemeinschaft, Begegnung und Care-Arbeit, der Kosten-Nutzen-Rechnung unterwerfen, dass Kapitalismus einen kannibalischen Charakter hat, das hat gerade die Philosophin Nancy Fraser in einem Interview auf den Punkt gebracht. Es muss nicht die Kirche sein, durch die sich Menschen zu Gemeinschaft, Mitmenschlichkeit, Engagement angestiftet fühlen. Aber wenn die Kirche diese Dimensionen aus dem Blick verliert, verliert sie auch ihren eigenen Kern.
Schönheit des Alters, Frauen in Bewegung
„Moin, Frau Coenen-Marx, es schreibt Ihnen eine Baby-Boomerin im Ruhestand. ;-)“ So begann eine Mail, die ich vor kurzem bekam. „Die Kirchengemeinde, zu der ich gehöre, bedankte sich bei den Gemeindeblatt-Verteilerinnen. Es gab einen Bedankemich-Nachmittag mit Eistorte und Kaffee. Auf den Fotos: mehrere Frauen, alle zwischen 60 und 80 Jahren. Text darunter: wir bedanken uns bei den Helferlein. HELFERLEIN!!! Wie ist es möglich, dass so despektierlich von diesen Frauen geschrieben wird? […] Wir Baby-Boomer sind viele, könnten die Welt ein ganzes Stück verändern. Wir haben Gaben, die wir einsetzen können. Aber nicht ohne Wertschätzung!“ Die Mail meiner Facebook-Freundin erreichte mich vor einem Vortrag, den ich digital für eine Fachversammlung zum Thema Alter in Nürnberg zu halten hatte. Und sie spricht für sich. Ich habe über das Thema unter anderem in einem Interview auf evangelisch.de nachgedacht. In der Sozialwissenschaft wird inzwischen neben Rassismus und Klassismus von Ageismus gesprochen. Die Diskriminierung hat viele Facetten. Eine von der Bundesbeauftragten für Antidiskriminierung herausgegebene Studie von 2022 stellt fest: Rund ein Drittel der Befragten stimmt der Aussage zu, dass alte Menschen „Platz machen“ sollten für die jüngere Generation, indem sie wichtige berufliche und gesellschaftliche Rollen aufgeben. 51 Prozent der Befragten sind für eine Regelung, wonach „Menschen nur bis zu einem bestimmten Alter, wie etwa bis 70 Jahre, politische Ämter haben dürfen“. 53 Prozent der Befragten sagen, ältere Menschen trügen nicht entscheidend zum gesellschaftlichen Fortschritt bei. 40 Prozent sagen, dass junge Menschen von alten Menschen bei der Bewältigung des Klimawandels im Stich gelassen werden. Unter den jüngsten Befragten sagen das sogar 63 Prozent. 74 Prozent der Befragten überschätzen den Anteil der älteren Menschen über 70 Jahre in der Bevölkerung erheblich. Am häufigsten wurde er auf 30 Prozent geschätzt – obwohl er bei rund 18 Prozent liegt. Überall erleben Menschen, dass ihr Alter eine Rolle spielt und Nachteile mit sich bringen kann. 78 Prozent der Senior*innen fühlen sich von der Politik nicht gehört. Der Kalte Krieg der Generationen heißt das neue Buch von Johannes Pantel. Dass der Ageismus Frauen noch mehr betrifft als Männer, wundert sicher niemanden.
Der Equal Pay Day und der Equal Care Day haben uns gerade wieder daran erinnert, dass die ungleiche Verteilung der Sorgearbeit und die ungleiche Bezahlung der Erwerbsarbeit – und beides hängt zusammen, wie Verena Bentele klar ausspicht – am Ende gerade bei Frauen zur Altersarmut führt. Doch bei allem Kampf gegen die sozialen Ungerechtigkeiten finde ich es auch wichtig, die Stärke des Alters und speziell alter Frauen zu sehen: „Ich bin eine alte Frau und finde das ganz toll!“, sagt Maren Kroymann. Und ich glaube, hier sollten wir anknüpfen! Es wird Zeit, unsere Stärke zu zeigen. Es gibt so viele starke alte Frauen, die unsere Gesellschaft vorangebracht haben und voranbringen. Haben Sie den Film Die Unbeugsamen schon gesehen? Er porträtiert Politikerinnen aus der Geschichte der Bundesrepublik, die sich in dieser männlichen Domäne erst Gehör verschaffen mussten. Ein Film voll Weisheit, Energie – und Humor! Es hat mich berührt, in dem Film auch Hildegard Hamm-Brücher zu sehen, die Grande Dame der FDF, die ich in meiner Zeit als Jungdemokratin öfter auf Landesparteitagen erleben durfte. Aber ich denke auch an Frauen wie Ute Gerhard, Gesine Schwan, Martha Agerich oder Helga Schubert. Sie alle haben, jede in ihrem Bereich, so viel bewegt und waren damit auch für meine eigene Biografie prägend. Im April wird der zwanzigste Todestag von Dorothee Sölle mit zahlreichen Veranstaltungen begangen (auf dieser privaten Website zu Sölle sind die Termine zusammengetragen; auch das aktuelle Extra-Heft des Politik Forums ist ihr gewidmet). Bei ihr habe ich vor fünfzig Jahren in Köln ein germanistisches Seminar zum Thema Angst belegt und später das politische Nachtgebet erlebt. Man solle versuchen, sich in seinem Leben zu der Person zu entwickeln, die man als junger Mensch gern bei sich gehabt hätte, diesen Rat habe ich irgendwo gelesen und er begleitet mich. Dorothee Sölle war so eine Person für mich wie für viele andere. Bei diesem Ratschlag fallen mir übrigens auch Luisa Neubauer und Dagmar Reemtsma ein, die gemeinsam das Buch Gegen die Ohnmacht. Meine Großmutter, die Politik und ich geschrieben haben. Hier zeigt sich, dass die Themen, die die Enkelin bewegen, schon von der Großmutter angeschoben worden sind – und wie wichtig auch deshalb der Dialog der Generationen ist.
Es gibt sie also nach wie vor, die starken alten Frauen, die unsere Gesellschaft voranbringen. Um sie nach vorn zu stellen, denke ich über einen Blog oder Podcast mit Interviews nach. Vielleicht wollen Sie mich auf eine spannende Interviewpartnerin aufmerksam machen? Ich würde mich freuen! Manchmal muss man die eigene Stärke ja erst finden oder wiederfinden, gerade nach einer Unterbrechung wie dem Ende des Erwerbslebens. Ich schreibe in diesen Newslettern ja öfter darüber, denn wie im Coaching, so beschäftigt mich dieses Thema des Aufspürens von Träumen und von ganz eigenen Potenzialen auf vielen Ebenen. Für die Dezemberausgabe der Zeitschrift Pastoraltheologie habe ich erneut darüber geschrieben: Neue Freiräume nutzen – alte Träume gestalten. Von der Erwerbsarbeit zum nachberuflichen Engagement. Wichtig für die professionelle Arbeit mit älteren oder alten Menschen ist aber zunächst auch ein differenzierter Blick. „Älter, alt, hochbetagt – Alter als differenzierter Lebensabschnitt“ heißt darum das erste Modul einer Weiterbildung der EEBT für Haupt- und Ehrenamtliche in sieben Bausteinen, das am 15. April stattfindet. Die Weiterbildung insgesamt erstreckt sich bis 2024 und ich unterstütze das Projekt gern. Die Vielfalt und die Potenziale des Alters zu erkunden, dazu lädt ein Fotowettbewerb der BAGSO ein. Er richtet sich sowohl an Profis als auch an Amateure. Eine unabhängige Jury vergibt Preise im Gesamtwert von 19.000 Euro. Teilnahmeschluss ist der 21. Mai.
Zwei Ausstellungen in Frankfurt am Main widmen sich gerade außergewöhnlichen Künstlerinnen, die in besonderer Weise auch am Bild von Frauen in der Kunst gearbeitet haben: Die Präsentation zu Niki de Saint Phalle in der Schirn (bis 21. Mai) und die zu Rosemarie Trockel im Museum für Moderne Kunst (bis 18. Juni). De Saint Phalles Nanas kenne ich aus Hannover, wo das Werk der Künstlerin ja insgesamt sehr präsent ist. Doch in Frankfurt sind auch Bilder, die Tarotgärten und Arbeiten wie der Schießstand aus der ersten Zeit zu sehen. Der tolle Katalogtext zu einer von Trockels Arbeiten regt an, sich nicht den Schönheitsdiktaten und der Diskriminierung der Gesellschaft unterwerfen, sondern „die Selbstbeobachtung wieder zur eigenen Sache“ zu machen: „Wenn der Arm nicht bloß ein Arm ist, sondern der starke Arm der eigenen Sache, kann ihn auch der Faltenwurf des Alters nicht beugen.“ Oder, um es mit der soeben mit dem Oscar als beste Hauptdarstellerin gekürten Michelle Yeoh (60) zu sagen: „Ladys lasst euch niemals einreden, dass eure Zeit vorbei ist!“ An die anderen Frauen zu denken, wie es Michelle Yeoh im Moment der Preisverleihung tut, so ein grundlegender Zusammenhalt, ist eine fundamentale Kraft im Kampf für die Rechte von Frauen weltweit. Und ich möchte meine Überlegungen zur Unterbrechung beenden mit dem Hinweis auf den Kampf der Frauen und Mädchen in Afghanistan und im Iran gegen die patriarchalen Diktaturen in ihren Ländern. „Feministische Weltgeschichte geschieht gerade im Iran“, schreibt die deutsch-iranische Autorin Gilda Sahebi in ihrem Buch Unser Schwert ist Liebe. Die feministische Revolte im Iran, in dem sie über die Aktionen und Demonstrationen der Menschen dort berichtet. Im Iran sind es Menschen aller Altersstufen und Gesellschaftsschichten, Frauen genauso wie Männer, die sich gegen das diktatorische Regime zur Wehr setzen. In Afghanistan dagegen reicht der Terror gegen Frauen von der Entrechtung und Verfolgung durch die Taliban bis zur Unterdrückung durch die Männer der eigenen Familie. „Wir haben keine Solidarität zwischen Männern und Frauen in Afghanistan“, sagt Sajia Behgam, die von dort nach Deutschland geflohen ist, im Handelsblatt. „Wenn die Frauen bei uns auf die Straße gehen, um für ihre Rechte zu kämpfen, dann befürchten die Männer, dass sie selbst ihre Autorität verlieren könnten, wenn die Frauen stärker werden.“ (Vgl. auch den aktuellen Länderreport des Bundesministeriums für Migration und Flüchtlinge). Die Agentur für Asyl der Europäischen Union (EUAA) hat Ende 2022 – endlich – festgestellt, dass die Einschränkungen für Frauen und Mädchen in Afghanistan mit Verfolgung gleichzusetzen sind. Es wird Zeit, dass dies auch im deutschen Asylwesen umgesetzt wird. Das Projekt Weiter Schreiben lässt Afghaninnen zu Wort kommen in Briefwechseln und literarischen Texten. Aufregend ist dabei schon, wie es gelungen ist, Stimmen aus Kabul und anderen Orten hörbar werden zu lassen und die Frauen dabei zu schützen. Aus den Texten spricht Verzweiflung, aber auch „Widerstandsgeist und Mut der Frauen Afghanistans, ihre Träume und Sehnsüchte und die Weigerung, sich erneut zum Schweigen bringen zu lassen“. Umso mehr freue ich mich, dass in Jerusalem gerade die erste palästinensische Pastorin, Sally Azar, ordiniert wurde. Auch die Kirchen im Nahen Osten sind ja durchaus patriarchal – aber in der lutherischen ELJHL stand theologisch nichts im Weg – und mit Gewohnheiten lässt sich brechen. Ein großer Schritt für die Kirchen.
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Thale-Neinstedt ist ein kleines Städtchen am Rand des Harzes. 1850 gründete das Ehepaar Nathusius dort ein „Knabenrettungsheim“. Die heutige Evangelische Stiftung Neinstedt hält zahlreiche Angebote bereit, die behinderten und psychisch kranken Menschen eine Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen sollen. Mit dem Projekt „Den Zahlen einen Namen geben“ und einem anrührenden Denkmal erinnert die Organisation auch an die Verbrechen, die während der NS-Zeit an mehr als tausend Menschen in Neinstedt begangen wurden. Bei Führungen kann man die Stiftung näher kennenlernen. Ich freue mich, den Ort und die engagierten Menschen dort nun auf anderem Wege näher kennenzulernen und vielleicht etwas von meinen Erfahrungen einbringen zu können, denn zum 1. März wurde ich dort in den Stiftungsrat berufen. „Professionelle Gastlichkeit in einer Wohlfühl-Atmosphäre“, mit diesen Worten wirbt das Hohenwart Forum am Rand von Pforzheim. Und ich kann sie nur bestätigen. Die Atmosphäre wird durch die freundlichen Mitarbeitenden und das besonders gute Essen geprägt, aber auch durch die teilweise sehr originell gestalteten Zimmer – und nicht zuletzt durch den herrlichen Blick über Stadt und Landschaft. Hoffentlich haben Sie auch Zeit für Spaziergänge, wenn Sie dort sind! Die Gruppe „Fit für den Aufsichtsrat“, die ich dort begleitet habe, fand jedenfalls, unter diesem Standard ginge in Zukunft gar nichts mehr! Um schöne Wanderungen zu planen und die Wege dann auch zu finden, nutze ich immer häufiger die App Komoot und empfinde sie als sehr hilfreich und leicht bedienbar. .
Der nächste Newsletter wird voraussichtlich Ende August erscheinen. Ich möchte Sie aber schon auf meine Morgenandachten vom 11. bis 16. September im Deutschlandfunk hinweisen. Als Thema habe ich mir „Trosttuch und Hoffnungsanker“ ausgesucht. Am 23. Juni werde ich mir, ebenfalls im Deutschlandfunk, Gedanken zur Woche machen. Möglicherweise geht es dann auch noch um Erfahrungen vom Kirchentag. Vielleicht sehen wir uns dort? Er findet vom 7. bis 11. Juni in Nürnberg statt. Ich wünsche Ihnen frohe Ostern. Die Feiertage von Gründonnerstag bis Ostermontag, die stille Woche, die Semana Santa, das ist eine klassische Unterbrechung im Jahreslauf – Zeit, darauf zu schauen, wie und wo das Licht sich durchsetzt. „Die kürzeste Definition von Religion ist Unterbrechung“, so lautet ja das bekannte Zitat des katholischen Theologen Johann Baptist Metz. Dazu hier auch noch eine Ermutigung zur Unterbrechung: ein bekanntes Gedicht von Dorothee Sölle. Vielleicht lesen auch Sie es in diesen Zeiten mit anderen Augen. Ihre Cornelia Coenen-Marx ______ Du sollst dich selbst unterbrechen Zwischen Arbeiten und Konsumieren Zwischen Zwischen Dorothee Sölle ______
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