1. Auf dem Kreuzweg nach Säben
Lassen Sie sich heute morgen einen kleinen Moment aus dieser Messehalle entführen in das Kloster Säben in Südtirol, wo mein Nachdenken über unser Thema Gestalt gewann. Schon von weitem sieht man die Silvouette des Klosters wie eine funkelnde Krone hoch über der kleinen Stadt Klausen im Eisacktal. Komm, lass uns da mal rauf gehen, sage ich zu meinem Mann. Das sind ja sicher nur 10 Minuten. Bald schon entdecken wir den Zugang zum Burgberg am Ende der Einkaufsstraße : es geht durch einen Torbogen mit einem Kruzifix einen alten, steinigen Weg hinauf. Zunächst noch angenehm flach, unter schattigen Bäumen, dann immer steiler den Berg hinauf. Schon bald, nach der nächsten Kehre, sieht man hinunter über die Weinberge ins weite Land und entdeckt: mit 10 Minuten ist es nicht getan. Da habe ich Lust stehen zu bleiben und einmal durchzuatmen, denn der Weg scheint doch viel weiter, als ich dachte. Und mein Puls ist vermutlich auch schon an der Grenze, die meine Pulsuhr normalerweise für gesund hält.. Genau in diesem Moment sehe ich rechts an der Seite die Station eines alten Kreuzwegs. Es ist schon die dritte, die ersten beiden habe ich offenbar gar nicht wahrgenommen. Von jetzt an geben also die Kreuzwegstationen den Rhythmus vor – von Laufen und Schauen, Schwitzen und zur Ruhe kommen, eine perfekte Kombination. Mitten in den Anstrengungen immer mal halt machen und sie relativieren können .. Wie die Kreuzwege unseren Weg mit dem Jesu verbinden – was für eine große Tradition! Laufend merke ich: der steinige Weg ist gerade so steil, dass wir beide noch reden und einen Rucksack tragen können. Singen würde mir schon schwerer fallen. Jetzt allerdings kommt uns einer entgegen gerannt, der weder rechts noch links sieht, sondern vermutlich ein Marathontraining absolviert – es gibt eine Geschwindigkeit, die ganz auf die eigenen Ziele ausgerichtet ist, da treibt der Wettbewerb voran und die Beziehung zu einem anderen hat da kaum noch Platz.
In meinem Alltag kenne ich das leider sehr gut . Und ich kann mir vorstellen, dass es vielen hier genauso geht. Einerseits fühle ich mich manchmal von Kommunikation überschwemmt. Ich spüre den Druck, meine Ziele zu erreichen, renne deadlines hinterher, bekomme kurzfristig neue Aufträge ,komme außer Atem und schließlich aus dem Tritt. Anrufe, Mails, Briefe, Meetings zerren von allen Seiten – so schön es ist, gut vernetzt zu sein, so schmerzhaft, wenn die Zeit gar reicht nicht, um wirklich in Beziehung zu kommen. Da wechseln dann Phasen, in denen zuviel auf einmal an Begegnungen auf dich einströmt mit solchen des Rückzugs auf dich selbst. Soziologen wie Sennet haben deutlich gemacht, dass das der Preis ist für die modernen Erwartungen an flexible, schnelle, mobile und selbständige Mitarbeitende. Arbeitsmediziner betonen, wie schwer es ist, in den aktuellen Veränderungsprozessen mit immer neuen Kollegen und Vorgesetzten stabile und kooperative Beziehungen zu entwickeln. Und Magazine von „ Stern“ bis „ Psychologie heute“ beschäftigen sich ernsthaft mit der Tatsache, dass der Burnout längst nicht mehr nur ein Thema in sozialen Unternehmen ist.
Aber da eben auch. Vor einigen Jahren habe ich eine spannende Untersuchung der Dortmunder Gerontologin… über den Schritt in der Altenpflege gehört. Sie macht deutlich, dass alle Mitarbeitenden aufgrund der Zeitvorgaben gezwungen sind, weit schneller über die Stationen zu gehen als die alten Menschen, für die sie arbeiten. Sie müssen an ihnen vorbei laufen, ohne wirklich Kontakt aufnehmen zu können. Und auch, wenn sie ein Zimmer betreten und wieder verlassen, ist es schwer, in kurzer Zeit auf Augenhöhe, auf Hörweite zu kommen und dem langsameren Rhythmus, der Unbeweglichkeit Rechnung zu tragen. Entschleunigung wäre nötig, um wirklich in die Welt des anderen einzutreten. Beschleunigung und Arbeitsverdichtung aber prägen den Alltag. Ich muss hier nicht erinnern an die Einführung der Module in der ambulanten Pflege, an den Druck der DRGs und die Verkürzung der Liegezeiten im Krankenhaus – in allen Diensten haben Pflegende den Eindruck, ihrem Beruf nicht mehr wirklich gerecht werden zu können, sich kaum noch einlassen zu können auf die Menschen, für die sie da sein wollen. Vielleicht geht es vielen von Ihnen auch so.
Von wegen begeistert! Ich erinnere mich an einen Leitbildworkshop in der Kaiserswerther Diakonie, wo ich 6 Jahre lang Vorsteherin war. In Arbeitsgruppen ging es darum, den Bildern und Mythen auf die Spur zu kommen, die das Werk geprägt haben und dafür ein Thema zu finden. Kaiserswerth ist eine alte, die erste Diakonissenanstalt und bis heute geprägt von den Gründerfiguren Theodor und Friederike Fliedner und vielen alt gewordenen Schwestern, deren Lebens- und Glaubenserfahrung leuchtet und Vertrauen erweckt. Viele Kaiserswerther sind stolz darauf, bei den Schwestern im Krankenhaus geboren zu sein und viele erwarten noch heute eine besonders menschliche und liebevolle Behandlung, wenn sie in dieses Krankenhaus kommen. Kein Wunder: bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts gab es Diakonissen, die auf der Station übernachteten, damit sie Sterbenden beistehen konnten. Und auch Florence Nightingale, nach der das neu gebaute Haus in den 70ern genannt wurde, um das Selbstbewusstsein der Pflege zum Ausdruck zu bringen – Florence Nightingale blieb die Lady mit der Lampe, die unter Aufbietung aller Kräfte in den Lazaretten am Kaukasus schuftete und am Ende selbst im Krankenbett landete. Wie arbeitet man heute als Pflegekraft, wenn man an solchen Vorbildern gemessen wird? Wenn man zu Hause ein Kind zu versorgen hat, in Teilzeit Schichtdienst fährt und mal gerade so über die Runden kommt? In dem Leitbildworkshop in Kaiserswerth kam eine Arbeitsgruppe mit einem Titel zurück, der das Problem traf und mich zutiefst erschreckte: „ Zwischen Verheißung und Verheizung“. Ich hatte das Gefühl, ein Misstrauen zu hören, dass die Leitbildarbeit letztlich nur dazu diente, noch mehr Leistung aus den Mitarbeitenden herauszupressen. Noch mehr Engagement und Überstunden. Vielleicht war es aber auch einfach die Angst, dass die Verheißung, von der da die Rede war, dieses Aufleuchten eines tiefen Sinns in Deiner Arbeit, Dich wegtragen könnte. Die Angst, sich selbst nicht schützen zu können, sich über das Maß zu verausgaben.
Diese Angst ist berechtigt. Und vielleicht versuchen wir ja, uns durch Zeitmanagement und Kosten-Nutzen-Rechnungen vor Verheizung schützen könnten. Ganz sicher versuchen wir in allen sozialen Berufen durch wachsende Professionalisierung Distanz zu schaffen zwischen unserer Arbeit und dem ungeheuren Anspruch des Du, zwischen unserem Alltag und den ungeheuren Herausforderungen, die uns auf diesen Berufsweg gebracht haben. Pflege oder Sozialarbeit professionell zu betreiben, das heißt eben zu unterscheiden zwischen dem, was Fachkräfte tun müssen und was delegiert werden kann. Mit der teuren Zeit der Fachkräfte hauszuhalten, Grenzen zu setzen und auch darauf zu achten, dass die Selbstpflege nicht zu kurz kommt. Aber gelegentlich passiert es dann eben, dass unter dem coolen Wirtschaftsethos der Frust wächst. Dass der Rücken schmerzt, weil man sich vorkommt wie am Fliessband oder in der Autowerkstatt. Und plötzlich merkt man : die Motivation ist erkaltet. Wo einmal ein Feuer brannte, ist nur noch Asche. Management und Professionalität schützen nicht vor dieser Gefahr. Es braucht einen anderen Weg mit unserer inneren Flamme umzugehen als die bloße Beschreibung von Standards und clinical pathways.
Der Läufer, der mir vorhin auf dem Kreuzweg entgegenkam, ist längst über alle Berge. Ich wache aus meinen Erinnerungen auf und schaue auf die Kreuzwegstation. Das Schweißtuch der Veronika – keine biblische Geschichte. Aber eine schöne, einfache Geste. Da steht eine Frau am Weg und reicht Todgeweihten ein Tuch, um Blut und Schweiß abzuwischen. Bis heute, sagt man, soll sich auf diesem Tuch das Gesicht Christi zeigen. Erfahrungen überlagern sich in meiner Erinnerung; da sind die Kreuzwegprozessionen in dem katholischen Dorf meiner Kindheit. Die Gesänge, Gebete, Andachten vor diesen Steinhäuschen – das blieb mir fremd, weil ich eben nicht mehr sah als diese Steinmetzarbeiten. Keine lebendigen Bilder. Heute allerdings erinnere ich mich an dieser Stelle an die ersten Schritte einer Krankenhaushospizgruppe. Die erste Runde in der Gruppe zu Palliativversorgung und Sterbebegleitung. Eine Schwester weint, weil sie es nicht mehr ertragen konnte, dass die Toten möglichst abends und mit einem Bettuch bedeckt aus den Zimmern gefahren wurden, damit sie niemand sieht. Damit die anderen nicht mit dem Tod konfrontiert werden. Ich kann meine Traurigkeit nicht mehr herunterschlucken, sagt die Schwester. Ich hätte doch gern wenigstens eine Rose auf dieses Tuch gelegt. Nach diesen Tränen begann etwas Neues: eine Hospizgruppe von Schwestern im Ruhestand, die sich endlich Zeit nehmen konnten, am Bett zu sitzen und ganz da zu sein. Ich habe die Schwierigkeiten, diese ehrenamtliche Gruppe zu implantieren nicht vergessen – soviel Zuwendung schien den Betrieb zu stören.. Und schließlich kam der Aufbruch. Aus der kleinen Gruppe wurde eine Bewegung, die mehr als 200 Leute in Krankenhaus und Altenhilfe erfasste. Sogar die Schreiner und die Paramentik machten mit: Das Symbol dafür: die Lade, eine kleine Schub-Lade mit Kerze, Spruchkarte, Kreuz und einem weißen Deckchen für den Nachtisch – für jede Station, für jede Pflegekraft, die den Abschied gestalten will. In dem weißen Tuch ist der Schmetterling eingestickt, ein altes Auferstehungszeichen. Es hat mich unglaublich begeistert, zu sehen, wie die Palliative-Care und Ethikarbeit in Kaiserswerth wuchs und immer neue Früchte trug: vom Moseskörbchen in der Geburtsstation bis zur Ethikberatung in der Altenhilfe – das schönste daran war, dass Mitarbeitende sich beflügelt fühlten, weil sie endlich wieder die eigene Berufung spürten. Wer in diesem Sinne bei sich selbst ist, kann auch bei anderen bleiben. Auch an den schwierigen Stationen.
Wir sind ja noch auf dem Kreuzweg. Das klingt ziemlich katholisch, ich weiß. Und trotzdem; die Erfahrungen, die gezeigt werden, sind eben doch Spiegel unser eigenen Erfahrungen. Wer unter Belastungen zusammenbricht, braucht jemanden, der mit trägt. Wer Blut und Wasser schwitzt, braucht eine, die ihm den Schweiß abwischt. Wer sich für andere einsetzt, stört manchmal den ganzen Betrieb, der gnadenlos weitergeht. Notfalls auch über Leichen. Es ist zum Aussteigen und Weglaufen – aber auch das gehört dazu. Viele der Jünger Jesu sind vorsichtshalber abgetaucht, weil sie sich selbst schützen wollten. Wie wir aus der Bibel wissen, haben sie das später bereut. Es war Verrat an ihren eigenen Träumen, an ihrer Berufung. Das lässt einen leer zurück.
Sagen konnten sie das aber auch erst, als sie wussten, dass der Weg Jesu Sinn hatte. Nach Ostern, als sie seine Energie wieder spürten, seine Kraft und Nähe. Wie viel Stationen hat so ein Kreuzweg überhaupt, habe ich meinen Mann gefragt, der sich mit dem Katholizismus besser auskennt als ich. Vierzehn – und die letzte ist die Grablegung. Ich denke: am Ende stünde die herrliche Kapelle da oben, der Raum auf dem Berg, den wir noch lange nicht erreicht haben. Es kommt, glaube ich, doch viel darauf an, was wir am Ende erwarten. In Kloster Säben war es ein unglaublich schöner Rundblick über die ganze Landschaft, der den steinigen Weg vergessen ließ. Und eine mittelalterliche Kapelle, die um ein Taufbecken aus dem 4. Jahrhundert herumgebaut ist. Ein großes, steinernes Becken im Boden, in das man hinabsteigen und eintauchen konnte. Da stand man am Ende ganz an den Ursprüngen des Christentums. Wo alles begann.
2. Die Bewegung des Mitleidens – ein kleines Kapitel Theologie
Ich will sie jetzt nicht länger mitnehmen von Station zu Station dieses Kreuzwegs. Ich möchte uns aber bewusst machen, dass die Bewegung der Diakonie ganz ähnlich ist. Man muss nicht an Elisabeth von Thüringen erinnern, um sich klar zu machen, dass der Ursprung von Hospitälern, Obdachlosenheimen, Armenfürsorge, politischer Lobbyarbeit genau in dieser Nachfolgebewegung liegt. Immer hat es angefangen mit Menschen, die überzeugt waren, dass sie in den Heruntergekommenen, Verzweifelten, Sterbenden Jesus begegnen. Dass das Schweißtuch, dass sie reichen, am Ende allemal das Gesicht Jesu zeigt. Dass in dem Bett, das sie dem Kranken bereiten, der Gekreuzigte liegt. Dass Gott selbst am Wegrand unter die Räuber gefallen ist- wie in der Geschichte vom Barmherzigen Samariter. Dass Gott leidet, wo ein Mensch leidet und an den Rand gedrängt wird, wo Menschen niedergemacht werden. Dass unsere Frömmigkeit auf dem Spiel steht, wo die Menschlichkeit auf dem Spiel steht.
Die Schweizer Pflegewissenschaftlerin Elisabeth Käppeli hat gezeigt, dass dieses Motiv des mit leidenden Gottes die wichtigste religiöse Wurzel der sozialen Arbeit im Christentum und auch im Judentum ist. Gottes Mitleiden, seine Liebe und Gerechtigkeit stärken Israel den Rücken, aus der Sklaverei aufzubrechen. Und seine Sympathie gewinnt dann in Jesus ein Gesicht, sodass es in der Bibel heißen kann: Wir haben einen Hohenpriester, der mit unseren Schwächen mitfühlt und mitleidet – unser Gott schwebt nicht über den Dingen. Das griechische Wort Sympathie ist das gleiche wie das englische compassion, einer der zentralen Begriffe der Pflegewissenschaft heute, die manche auch als die Kunst der mitleidenden Aufmerksamkeit bezeichnen. Das ist es, was uns an Elisabeth von Thüringen oder Florence Nightingale bewegt – die radikale Bereitschaft, in den Schuhen des anderen zu gehen, in Berührung mit Kranken und Leidenden zu kommen. Und es ging weiter mit Menschen wie Eva Thiele-Winkler ,oder. Jean – Vanier, dem Gründer der „ Arche-Gemeinschaften“, der Lebensgemeinschaften von Behinderten und Nicht-Behinderten, von denen ich nachher noch erzählen will.
Hinter dieser Bewegung des Mitgehens, der Liebe und der Solidarität steht die biblische Überzeugung, dass jeder Mensch Ebenbild Gottes ist, auch wenn er uns noch so erbärmlich oder unmenschlich erscheint. Kein Untermensch, kein Unberührbarer, kein Objekt, kein Bürger zweiter Klasse und auch mehr als ein Klient oder Kunde. Wer Hilfe braucht ist mit der gleichen Würde ausgestattet wie der, der Helfen kann. Diese biblische Rede von der Ebenbildlichkeit, die schon in der Schöpfungsgeschichte vorkommt, hat übrigens einen atemberaubenden Hintergrund: Das Wort zäläm, also Ebenbild, das da im hebräischen Wortlaut steht, wurde damals für die Götterbilder und Götterstatuen gebraucht, in denen der Gott oder die Göttin auf der Erde anwesend war. Stellen Sie sich so eine vergoldete griechische oder ägyptische Statue vor, die man kaum zu berühren wagte – und denken Sie: „So ist der Mensch, jeder Mensch, nicht nur der, den Du liebst: : heilig, unverletzbar, schön, zum Niederknien.“ Wer so denken und handeln kann, wer das mit seiner diakonischen Arbeit vermittelt, kann unglaubliche Kräfte freisetzen. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Kollegin in der Behindertenhilfe, die eine neue Wohnanlage mit aufgebaut hat. Die Einrichtung war so schön, dass man gern selbst eingezogen wäre, und die Atmosphäre voller Wärme. Ich kenne kaum jemanden, der so viele Spenden gesammelt hat wie sie – einfach weil es zu Herzen geht, wenn Menschen mit ihren Schwächen angenommen werden und sich entwickeln können. Inzwischen haben die Kollegen dort übrigens einen Partnerschaftsservice aufgebaut – die Schatzkiste. Es war wunderbar, zu erleben, wie sich das erste Paar gefunden hat.
Die lebendige Atmosphäre in dieser Wohnanlage, hilft auch dem Mitarbeiterteam, Zeiten von Stress und Krankheiten zu ertragen und immer neue Energie und Phantasie einzusetzen, wenn es darum geht, einen Werkstattplatz oder eine Reittherapie zu finden oder auch den Dienst so zu gestalten, dass die Extras unterkommen- trotz Schichtdienst und immer knapperen Budgets. Die sagenumwobenen langen Arbeitsstunden im Diakonissen-Mutterhaus sind ja Gott sei Dank Geschichte. Aber sie waren eben auch unterbrochen von gemeinsamen Mahlzeiten, Andachten und Einkehrtagen, die genauso wichtig genommen wurden wie der Dienst. Dieser Rhythmus, das Pendeln zwischen Zuwendung und Nachdenken, zwischen Arbeit und Meditation erscheint heute wie der Zauber einer versunkenen Welt. Es sind diese regelmäßigen Zeiten des Rückzugs und der Reflexion, es ist diese Ganzheitlichkeit, nach der sich viele sehnen. Manche vermissen auch solche Orte der Inspiration, wie die alten Mutterhäuser mit ihren Kapellen und Kirchen sie boten. Es war auch ein Geschenk, dass die Schwestern hierher nach Hause kommen konnten, egal, ob sie gerade in der Nachbarschaft oder im Ausland arbeiteten. Da konnte man sich erholen, traf Menschen, mit denen man austauschen, bei denen man sich ausweinen und Rat finden konnte. Das half den eigenen Weg mit der Bibel zu reflektieren und neu auszurichten.
Es ist dieses Pendeln zwischen eigener Anstrengung und Reflexion, das auch den Kreuzweg ausmacht. Für die Diakonie ist es bedrohlich, wenn dieser Zusammenhang verloren geht. Manchmal habe ich das Gefühl, das sei schon längst geschehen. Nicht nur, weil kaum noch jemand etwas mit den Sprüchen anfangen kann, die auf den schönen alten Häusern stehen – zum Beispiel das Jesuswort „ Wer ein Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf“, sondern auch, weil gelegentlich vor lauter Budgets, DRGs und Modulen, vor lauter Standards und Zahlen die Lebendigkeit aus dem Blick gerät. Ich erinnere mich an die Wut der Patienten und Mitarbeiter, als zeitweilig in unserem Krankenhaus das kostenlose Wasser abgeschafft wurde, das auf den Nachtischen stand. Weil das Herbeischaffen und Wegräumen der Flaschen zu viele Personalkosten band, wurde der Service outgesourct . Man musste das Wasser also kaufen.. „Und das in einer Kirche, die vom barmherzigen Samariter redet“, sagte ein wütender Mann. „Nicht mal Wasser haben Sie für den, der im Dreck liegt.“
Ich könnte viele solcher Geschichten erzählen. Wichtig daran ist für mich: oft sind es die anderen, die Kunden, die Ehrenamtlichen, die uns daran erinnern, dass unsere Quellen versiegt sind. Dass unsere innere Flamme erloschen ist. Dass wir unsere Arbeit mechanisch tun, ohne noch zu wissen warum. Mit ungeheurem Tempo und viel Effektivität vielleicht – aber am Menschen vorbei, und darum letztlich nicht zielorientiert. Ein gutes Management und wirtschaftliche Arbeit sind wichtig – Dienste und Arbeitsplätze hängen davon ab. Aber wenn wir anfangen, alles im Leben zu planen und zu normieren von der Geburt bis zum Tod, wenn wir alles in Zeit und Geld berechnen, dann büßen wir unsere Lebendigkeit ein und springen dem Tod auf die Schippe. Es ist nicht leicht zu ertragen, wenn einen jemand damit konfrontiert, aber es tut letztlich gut . Es macht uns nämlich bewusst, dass wir entscheiden müssen, was wir mit unserem Leben, mit unserer Arbeit, in unserer Kirche leben, erleben und erreichen wollen – für was wir leben wollen. Ohne innere und äußere Kämpfe geht das wahrscheinlich nicht ab, aber Humanisierung ist eben in diesem Sinne auch ein Kampf.
So betrachtet, hat das er alte Kreuzweg auch eine therapeutische Funktion. Er konfrontiert mit Leiden und Tod und mit der Frage nach unserem Selbstverständnis, nach unserem Ziel. Mag sein, dass das der Grund ist, warum die Jakobswege und Elisabethwege so boomen in Europa ! Im Alltag allerdings gilt es aber, ganz neue Wege zu entdecken. Wege ohne Geländer sozusagen. Wege, auf denen uns niemand sagt, in welchen Stellen wir Gott begegnen können, was uns erschüttern wird, wo unsere Menschlichkeit gefragt ist, was heilig ist. Eigentlich muss es ja auch so sein . Hätten die Menschen damals in Jerusalem das Gefühl gehabt, dass dieser Kreuzweg alles in sich birgt, sie hätten sich anders verhalten. Es nützt also nichts, wenn wir ihn einfach nachstellen – es liegt alles daran, dass wir mitten in unserem Alltag die Augen offen halten.
3. Wegstationen – wo heute Gottes Nähe spürbar wird
Deswegen will ich jetzt von Orten erzählen, an denen für mich Licht auf den Weg fäll, wo Gottes Nähe spürbar wird. Ich will aber auch darüber sprechen, was uns selbst helfen kann, in unwegsamen Gelände Orientierung zu finden.
Weil ich davon ausgehe, dass unser Leben ein Weg ist und dass wir in diesem Sinne alle Pilger sind, leuchtet mir der Gedanke ein, dass Kirchen, Gemeinden und diakonische Einrichtungen vor allem anderen Herberger sein sollen. Orte der Gastfreundschaft, an denen man sich fallen lassen und zu sich kommen kann, wo man auftanken kann und ein Pflaster für die Wunden bekommt, wo du deine schmutzige Wäsche waschen kannst und eine Wanderkarte findest, um nicht vom Weg abzukommen. Wer genau hinschaut, wird entdecken, wie viele sich auch heute wieder an dieser Stelle engagieren. Sie fangen mit denen an, die am wenigsten Chancen auf dem Markt haben: mit den Ausgegrenzten und Mittellosen. Denken Sie nur an die Tafelbewegung, die angesichts der Armut in unserem Land immer noch weiter wächst, und längst besonders darauf achtet, dass Kinder wieder eine warme Mahlzeit am Tag bekommen. Oder an die Obdachloseneinrichtungen, die neben dem Tisch auch eine Dusche und eine Waschmaschine, einen Internet- und einen Postanschluss zur Verfügung stellen. Besonders begeistert bin ich von dem Projekt „Reichtum 2“ in Berlin. Das „Schönste Sozialhotel für Wohnungslose“ – das erste steht in Moskau – wurde von der Künstlerin Miria Kilali mitgestaltet.. Farben, Fotos, Bilder in Goldrahmen – ein wohltuend schöner Ort ist da entstanden, ein Ort, der Energie spendet und Menschen die Beklemmung der Armut nimmt. Und das nicht, weil die Kunden so zahlungskräftig sind – sondern einfach als Hommage an die Menschen, die seit langem nirgendwo mehr zu Hause waren. Friedrich von Bodelschwingh, der Gründer von Bethel der damals mit ähnlichen Initiativen begann, hat das so zusammengefasst, dass das Ziel gleich mit im Blick war: „ Das ist aller Gastfreundschaft tiefster Sinn, dass wir einander Heimat geben auf dem Weg nach dem ewigen Zuhause.“
Genauso bewundernswert finde ich die Arbeit der Ärztin Adelheid Franz,, die seit Jahren in der Malteser Migrantenmedizin arbeitet und Menschen ohne Aufenthaltsstatus hilft. Sie hat ein dichtes Netzwerk aufgebaut – vom Entbindungsplatz bis zum Krankenhaus, von der Kinderkleiderkammer bis zur Flüchtlingsberatung – von ehrenamtlichen Ärzten, Juristen, Sozialarbeitern bis zu Freiwilligendiensten, um Untergetauchten, Illegalen und Flüchtlingen zu helfen. Fast 10.000 schwer kranke Menschen wurden dort in den letzten 6 Jahren behandelt. Alle davon fanden Zuflucht in Angst und Verfolgung, ohne ihre Identität aufdecken zu müssen. Einfach, weil sie Menschen in Not waren.
Wer solche Projekte kennt, kann sich das Klagelied über die ökonomisierte Diakonie eigentlich schenken. Es ist wirklich großartig, was gerade Ehrenamtsinitiativen in unserem Land bewegen- wie viel Zeit und Phantasie dahinter steckt. Das geht von dem diakonischen Altenbesuchsdienst „ Urlaub aus dem Koffer“ über die Freiwilligen, die am Servicetelefon der Diakoniestation Tag und Nacht am Telefon zu erreichen, bis hin zu den Gründerinnen und Gründern von Kinderhospizen und all den Initiativen, die kleine Dienste in der Nachbarschaft organisieren. Ich mag schon die phantasievollen Namen wie
„ Löwenherz“ oder „Heute ein Engel“. Da steckt das ganze Wissen drin, dass wir einander Engel werden können, wenn wir uns anrühren lassen von der Not des anderen. Jemand hat neulich gesagt: Wir sind nicht automatisch Nächste, wir werden einander immer neu zu Nächsten durch konkrete, aktuelle Herausforderungen.
Genau das hat die Geschichte vom Barmherzigen Samariter festgehalten. Da heißt es nämlich: Wer ist denn nun dem, der unter die Räuber gefallen ist, zum Nächsten geworden? Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Der ihn aufhob, auf sein Reittier setzte, an einen sicheren Ort transportierte, Geld gab für seine Versorgung und Heilung …Alles Werke der Barmherzigkeit, wie unsere Tradition sagt. Orte, an denen wir Gott begegnen können. Tafeln und Kleiderkammern, Hilfe für Fremde und Verfolgte, Medizin und Besuchsdienste – offenbar müssen sie selbst im Sozialstaat immer neu erfunden werden. Keine Institution kann uns die Achtsamkeit für unsere Mitmenschen abnehmen, im Gegenteil: wir sind es selbst, die mit all unserer Phantasie wahrnehmen müssen, was geschieht, damit wir die Dienste neu gestalten.. Henri Nouwen, der Gründer einer Gemeinschaft von Behinderten und Nichtbehinderten in der Arche meint: „ Es sind die Armen, die Kleinen, die von der Gesellschaft an den Rand Gedrängten, die uns den Weg der Liebe lehren.“ Der Aufbruch in der Diakonie kommt nicht von oben, sondern von unten.
4. Mut zum Aufbruch – und was dabei hilft
Für alle, die Leitungsverantwortung haben und dafür einstehen müssen, dass Arbeitsplätze erhalten bleiben und Institutionen überleben, ist das allerdings nicht ohne. Es bedeutet nämlich, sich der Kritik von Mitarbeitenden, Patienten, Bewohnern, mit allem Ernst zu stellen – auch wenn die Erwartungen ökonomisch betrachtet überhöht scheinen. Es bedeutet, Freiräume zu geben für neue Wege und gemeinsam nach Modellen zu suchen. Und oft auch, Geld zu investieren. Der Arbeitsbereich, in dem ich das selbst am stärksten erlebt habe, war die Palliativcare-Arbeit und die dazugehörende Ethikberatung. Ich habe am Anfang kurz davon erzählt. Dass es in diesem Rahmen gelungen ist, über Jahre eine Ethikberatung aufzubauen, in der Ärzte, Pflegende, Theologen und Juristen, aber auch Hauswirtschafterinnen und Ehrenamtliche kritische Fragen aus Krankenhaus und Altenhilfe diskutierten, das war ein großes Geschenk. Voller Spannungen, aber auch voll kleiner Erfolge, in denen ein wirkliche Teams rund um die Patientinnen und Patienten entstanden. In denen Menschen lernten, ihre eigenen Werte zum Ausdruck zu bringen und dazu zu stehen. Die Ethikberatung findet ja wirklich an Wegkreuzungen statt, da, wo Entscheidungen nötig sind und die Achtsamkeit besonders hoch sein muss. Wo sie gelingt, können auch Abschiedsprozesse glücken, kommen Eltern mit ihren schweren Schwangerschaftskonflikten zurecht, bleiben Pflegende nicht unbegleitet, wenn sie keine PED –Sonde legen. Da entsteht so etwas wie ein inneres Einverständnis, Trost, der für die nächste Wegstrecke reicht, und ein Stück Weggemeinschaft. Das lohnt die Investition.
Denn diese Augenblicke intensiv gelebter Gemeinschaft treten heute an die Stelle der alten, fest gefügten diakonischen Gemeinschaften. Da sind die Führungskräfte, die sich regelmäßig zur Fortbildung und auch zum Stammtisch treffen. Da ist eine Mitarbeitergruppe, die an einem Basiskurs zur diakonischen Bildung teilnimmt und bei den Einführungstagen für neue mitmacht. Da ist die Theatergruppe in Bethel, die mit Behinderten und Nichtbehinderten wunderbar kreative Stücke aufführt. Da ist ein Team in der Altenhilfe, das sich einmal im Monat Zeit nimmt, um gemeinsam mit den alten Menschen zu essen – statt nur das vorbereitete Tablettessen aufzutragen. Da sind die Kollegen aus der Palliativarbeit, die vierteljährlich Gottesdienste für die trauernden Angehörigen anbieten. All das braucht Zeit, manchmal auch Geld – aber es hat soviel Attraktivität, dass viele Menschen sich dafür einsetzen. Oft weit über die Arbeitszeit hinaus. In solchen Projekten ist nämlich spürbar, wie viel Energie uns gute Arbeit geben kann. Wenn wir uns neuen Herausforderungen stellen, statt die Augen zu verschließen, wenn wir unserem Weg und unseren Zielen treu bleiben, auch durch Schmerzen und Enttäuschungen hindurch, wenn wir bereit sind, uns selbst verändern zu lassen, dann geschieht etwas an uns: wir werden offener, vielleicht auch verletzlicher, vor allem aber demütiger . Wir werden geerdet und nehmen vielleicht den Himmel besser wahr.
Das ist die Eigenart des spirituellen Lebens, es verändert und verwandelt uns, es schärft unsere Einfühlungsfähigkeit und unsere Phantasie, es lässt uns hineinwachsen in eine neue Zuversicht, Dankbarkeit und Fröhlichkeit. Es ist dynamisch, weil Gott dynamisch ist und uns herausfordert. Durch die Menschen und Situationen, die uns begegnen. Durch Lebensgeschichten, die uns berühren. Durch Gedanken und Bilder, die unseren Erfahrungen einen neuen Rahmen geben. Wer sich danach sehnt, einen solchen Weg zu gehen, tut gut daran, von den neuen Jakobspilgern zu lernen. Man muss das Ziel klar vor Augen haben, regelmäßig Rast machen und vielleicht auch einen Begleiter zu suchen. Das kann ein Mensch sein, ein Freund oder ein Fremder, ein spiritueller Begleiter. Das kann aber auch ein imaginärer Begleiter sein, ein spirituelles Tagebuch. Ich finde aber die wieder entdeckte Tradition der spirituellen Begleitung besonders wichtig und ich werbe dafür, dass Kirche und Diakonie Menschen dazu fortbilden und solche Netzwerke begleiten.
Es gibt ja doch Augenblicke auf dem Weg, an denen man allein nicht mehr weiter weiß und am liebsten abbrechen möchte. Weil man ausgepowert oder enttäuscht ist, weil man Schmerzen hat. Mir ging es so, als ich mir in Säben kurz vor dem Ziel mal wieder den Fuß verstauchte – dazu habe ich leider Talent. Gott sei Dank war ich in diesem Augenblick nicht allein und konnte mich auf meinen Mann stützen. Immerhin waren wir ganz dicht an der Kapelle auf dem Berg mit dem wunderbaren Ausblick, von dem ich am Anfang erzählt habe. Es sind ja oft die letzten Meter, auf denen es kritisch wird – und es wäre schade, wenn wir kurz vor dem Durchbruch aufgeben. Mir ging es im Frühjahr so in Jerusalem. Ich war mit dem Rat der EKD dorthin gereist, um einen Vertrag zwischen der palästinensischen Partnerkirche und der EKD zu besiegeln, an dem wir drei Jahre lang gearbeitet hatten. Dieser gemeinsame Konsultationsprozess hatte Augenblicke größter Spannung, aber auch Momente der Nähe und des Verstehens. Jetzt aber, in den Tagen vor der großen Feier, kamen die Spannungen noch einmal zutage. Ich selbst war erschöpft, und ich erinnere mich, dass ich in der Nacht vor dem Gottesdienst lange geweint hatte. Dann aber, im Gottesdienst, beim Abendmahl, fiel das alles wie ein Nebelschleier ab – und plötzlich sah ich die Menschen, die sich da versammelt hatten, mit anderen Augen. Die unterschiedlichen Wege, die sie gekommen waren, die große Vielfalt, die Versöhnung der Gegensätze – ein kleines Stück Himmel. Dafür, dachte ich, hat sich alles gelohnt. Weil ich überzeugt bin, dass so eine Erfahrung am Ziel unseres Weges stehen wird, weiß ich, es lohnt sich, immer wieder aufzubrechen. Auch heute.