Vortrag Wildbad Rothenburg, 22.11.19
1. Ich bin der Herr, Dein Arzt
Das Bibelwort findet sich noch heute auf einem alten Schmuckstein im Florence-Nightingale-Krankenhaus in Kaiserswerth. Ja, klar, sagten Patienten und Angehörige, das haben wir schon immer gewusst. Der Arzt als Halbgott in Weiß…
Dabei spielt die Medizin erst seit Mitte des 19.Jahrhunderts eine entscheidende Rolle im Krankenhaus. Auch das Kaiserswerther Krankenhaus war zunächst ein Hospital, ein Pflegeheim, das ältere, gebrechliche und pflegebedürftige Menschen aufnahm, aber nicht den Anspruch hatte, sie geheilt zu entlassen. Die moderne Medizin stand noch am Anfang und auch für die Pflege gab es kaum eine fachliche Ausbildung. 1850, als Florence Nightingale zum ersten Mal nach Kaiserswerth kam, gehörten zur Diakonissenanstalt ein Krankenhaus mit hundert Betten, eine Schule für Kleinkinder, eine Haus für Straffällige, ein Lehrerinnenseminar- und weit über 100 Diakonissen. Das Haus war eher ein christlicher Orden als eine medizinische Stätte. Die Vollnarkose war gerade entdeckt worden, aber Antiseptika fehlten noch. Große Operationen mit Bauchschnitt galten als verbrecherische Wagestücke, weil sie fast sicher zum Tode führten, wie der badische Arzt Adolf Kussmaul schrieb. Die Schwestern, deren Leben aus einem klösterlichen Rhythmus von Arbeit und Gebet bestand, übernachteten auf den Stationen, lebten mit den Patientinnen und für die Patienten .An einem Sterbebett sitzen gehörte ganz selbstverständlich zu ihren Aufgaben.
Als ich Ende der 90er Jahre ins Florence-Nightingale-Krankenhaus nach Kaiserswerth kam, war die letzte Diakonisse längst von der Station verschwunden, die Schwestern versuchten Arbeit und Familie unter einen Hut zu bringen und für das Sitzen am Sterbebett blieb kaum noch Zeit. Aber nach Jahren, in denen die Toten nachts von der Station geschoben wurden, war das Sterben in unseren Häusern endlich kein Tabu mehr- wir hatten Abschied genommen von der Vorstellung, jede Krankheit in den Griff zu bekommen. Mit Palliativ- Care bekamen auch die Pflegeberufe wieder neue Bedeutung. Der Anspruch einer neuen Sorge an sterbenden Patienten und ihren Angehörigen galt nun berufsübergreifend. Annehmen und die verbleibende Zeit gestalten- trotz oder gerade wegen des medizinischen Fortschritts rückte das Unverfügbare neu ins Bewusstsein. Gegen einen anderen Trend, dessen Symbol die DRGs geworden sind.
Die Umstellung von Tagessätzen auf Fallpauschalen war eine Revolution im Gesundheitswesen. Bernd Hontschik sieht darin den Ausgangspunkt für einen völlig veränderten Umgang mit den Erkrankten – ging es doch jetzt darum, Kranke in möglichst kurzer Zeit entlassen zu können. „Wer sich auf eine zeitraubende, empathische Behandlung einlässt, macht Verluste.“ Seit der Einführung der DRGs hat sich die Liegenzeit halbiert, die Zahl der Patienten ist um ein Fünftel gestiegen, gleichzeitig wurden 60.000 Stellen in der Pflege gestrichen. Denn die Frage sei nun nicht mehr: „Was braucht der Kranke“, sondern „Was bringt er uns ein“. Um das zu klären, werden neue Fachkräfte gebracht: Kodierer und Kontroller. Längst ist auch der Arzt nicht mehr Herr im Krankenhaus: Den Primat hat die Betriebswirtschaft und was das für Medizin und Pflege bedeutet, sieht man in dem überall diskutierten Film „ Der marktgerechte Patient“.
Das ökonomische Denken allerdings ist so neu nicht. Schon gegen Ende der Weimarer Republik ging es um die Frage, wie effektiv die Wohlfahrtspflege wäre und ob die Hilfe richtig eingesetzt wäre. Angesichts der begrenzten Mittel wuchs auch damals der Wunsch nach Kontrolle – und die Gefahr der Ausgrenzung derer, für die der Einsatz angeblich nicht lohnte. Die entsprechenden Hausbesuche der Fürsorgerinnen sind im kollektiven Gedächtnis geblieben. Zur Geschichte von Diakonie und Kirche in Deutschland gehört die Anpassung an dieses Denken. Auch die Theologie hat versagt, als es darum ging, Patienten und Bewohner mit Behinderung, psychisch Kranke, jüdische Schwestern als Teil ihrer Sorge- Gemeinschaft zu verteidigen. Schwestern führten unter Tränen Sterilisationen durch, andere sahen zu, wie ihre Zöglinge abtransportiert wurden. Längst waren aus den alten Vereinen Anstalten mit staatlicher Refinanzierung geworden. Die Hilfesuchenden waren zu Zöglingen, Insassen, Klienten geworden- und letztlich zu Fällen, die Kosten erzeugen.
Auch wenn nur hinter verschlossenen Türen über Rationierung diskutiert wird – die Verteilung der knapper werdenden Mittel ist auch bei uns ein Thema. Mit der Verbetriebswirtschaftlichung der Häuser grundiert Zweckrationalität das Denken. Ein Kleinkind mit Muskelschwund: Darf, soll oder muss das neue Medikament eingesetzt werden, das zwei Millionen kostet? Soll der neue Pränatest als Vorsorge für alle von der Versicherung bezahlt werden? Damit niemand mehr ein Kind mit Behinderung zur Welt bringen „muss“? Während solche Debatten die Medien bestimmen, werden Kreißsäle geschlossen und Betten auf Kinderstationen stillgelegt, weil Hebammen und Pflegekräfte fehlen. In einem System, das auf Selbstbestimmung setzt, werden Kinder, Menschen mit Behinderung und Demenzerkrankte diskriminiert– alle die besondere Fürsorge brauchen. Wer sich nicht entsprechend artikulieren und für sich selbst sorgen kann, gilt nicht als vollwertiges Gegenüber, wird unmerklich exkludiert.
Wer keine Familie und keine Freunde hat, die sich kümmern können, braucht Menschen, die für ihn eintreten. Das ist die Rolle von Ärzten und Pflegenden – denn die Patientenbeziehung als Sorgebeziehung ist eben mehr als eine Geschäftspartnerschaft, eine Kundenbeziehung, in der die eine Seite aus Optionen der Hilfe auswählt und die andere darauf achtet, dass Gewinn dabei herausspringt. Genau dieses Berufsethos ist aber unter Druck. „ Warum Heilberufe ihre Identität verteidigen müssen“, das beschäftigt Giovanni Maio in seinem Buch „ Werte für die Medizin“. Er spricht von einer heimlichen Neudefinition der Ärzte zu Ingenieuren für den Menschen, von einer Produktionslogik, in der die personalintensive Kontaktzeit zum Patienten als zu minimierender Aufwand betrachtet werde.
Eine neue Ethik der Sorge, eine Care-Ethik ist also mehr als notwendig. Mit dem Begriff „Care“ problematisiert die feministische Theorie die Dominanz einer ökonomisierten Sichtweise im Sozial- und Gesundheitswesen. „Sorge“ steht hier für alle Beziehungs- und Zuwendungsarbeit privater wie professioneller Natur, für das grundlegende, umfassende Für-einander-da sein. Aus dieser Perspektive geht es also nicht nur um das Berufsethos der Beschäftigten, sondern auch um die Stärkung des gesamten Umfelds von Familien, Freunden, Ehrenamtlichen.
Gegen den Trend zum effizienzorientierten Unternehmen brauchen Pflegeeinrichtungen, ambulante Dienste, ja auch Kliniken heute eine neue Einbindung in Netzwerke der Zivilgesellschaft mit ihren sorgenden Gemeinschaften, für die die Erkrankten vor allem ein Gegenüber bleiben – ein ganzer Mensch mit seiner eigenen Geschichte, seinen Vorlieben und Fragen. Wie leicht sich eine andere Logik einschleicht, haben wir auch in der Geschichte der Diakonie erlebt. Aus der Gemeinschaft mit dem kranken Nächsten wurde die Gemeinschaft der Helfenden im Gegenüber zu den Hilfebedürftigen, der Gleichen im Gegenüber zu den anderen. Da haben Diskriminierung und Exklusion ein leichtes Spiel. „Das herkömmliche Hilfeethos der Diakonie ist ans Ende gekommen. Die herkömmliche Für-Kultur muss abgelöst werden durch eine Mit-Kultur“, sagt Johannes Degen. Und die Maio macht deutlich: Die Werte, um die es dabei geht – Sorgfalt und Geduld, Offenheit und Feinsinn, Behutsamkeit und Demut und die Treue zum sozialen Auftrag, sind tief in den Professionen verankert. Es kann also nicht darum gehen, die Sorge von Ehrenamtlichen oder Nachbarn gegen die der Beruflichen auszuspielen- so als seien die vergangenen 150 Jahre kein Fortschritt gewesen. Es führt kein Weg zurück in die Hospitäler der ersten Diakonissenanstalten. Vielmehr geht es um ein gutes Miteinander aller Beteiligten.
2. Die Wiederentdeckung der Werte
Jahrelanger Stellenabbau, Arbeit in normierten Zeittakten, zunehmende Arbeitsverdichtung, überborgende Dokumentationspflichten haben die Pflege krank gemacht. Pflegende leiden zunehmend unter körperlicher und psychischer Überforderung; sie erleben die Spannung zwischen den Anspruch maximaler Effizienz und ihrem professionellen Selbstverständnis. Nicht das empathische Begleiten von Patienten und Patientinnen führt zur Erschöpfung- Begleitung nicht ermöglichen zu können, führt zum Burnout.
„Es ging weiter, immer weiter wie durch ein Museum des Verfalls. Ich lernte Frau Dahl kennen, die kein einziges Körperteil bewegen und kein Wort artikulieren konnte, aber vollkommen klar im Kopf war. Sie wartete darauf, dass man ihr die einzige richtige Frage stellte, und auf dem Weg zu dieser Frage wehrte sie mit zornigem leichten Kopfwiegen, mehr ging nicht, die dummen und falschen Fragen nach Essen und Trinken ab. Weiter, weiter schien sie zu sagen, nächste Frage, irgendwann musste die richtige doch kommen, so dumm, so grausam konnte der ungelernteste Hilfspfleger nicht sein, dass er ihr die Frage vorenthielt, auf die sie in schlaflosen Nächten und in Jahre dauernden Tagen wartete: Möchten Sie sterben?“, schreibt Hilmar Kluthe in seinem Roman “Was dann nachher so schön fliegt“. Er erzählt von einem Zivi, der im Pflegeheim arbeitet – eigentlich aber Schriftsteller werden will. So achtet er auf die Worte, die von der Sehnsucht nach einem anderen Leben erzählen; aber auch von Lebensmüdigkeit und Überlastung. „Wir übergeben uns gerade“, sagte Herbert am ersten Tag. Er hatte mich gefragt, ob ich einen Kaffee wolle; jetzt hatte ich eine Keramiktasse mit bitterem Filterkaffee vor mir stehen. Weil ich wie ein Fragezeichen guckte, erklärte Gilla, dass sie eine Übergabe machten. Und Herbert machte sich die nächste Marlboro an.
Während ich Klutes Roman las, habe ich manchmal an das Fachseminar für Altenpflege gedacht, neben dem wir lange wohnten. Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus ganz Europa, meist schon in mittleren Jahren, viele von der Arbeitsagentur gefördert. Vom Stress gezeichnet. In den Pausen stand man mit Kaffeebecher und Zigarette vor der Tür. Am Abend blieben volle Aschenbecher zurück. Wer den Roman liest, weiß nicht, ob die Tristesse in den Bewohnerzimmern oder im Stationszimmer grösser ist. Das eine scheint nur der Spiegel des anderen. Klar ist: Wer Pflege nicht wertschätzt, kann die Pflegebedürftigen nicht schützen.
Auch Giovanni di Maio, für den die Identität aller Heilberufe durch die umfassende Ökonomisierung bedroht ist, sieht die Pflege besonders betroffen: „Pflege ist ein Beziehungsberuf, in dem es nicht nur um die gekonnte Aktion, sondern vor allen Dingen um die Interaktion geht“. In den Kliniken von heute, er nennt sie „weiße Fabriken“, sieht er fordistische Produktionsstätten, in denen die Patienten eben nicht als Individuen gesehen werden, sondern als Objekte, an denen man standardisierte Verrichtungen vornimmt. Die unersetzbare Expertise der Pflege bestehe darin, sich auf den einzelnen Menschen einzulassen und ihm in seiner Angewiesenheit seine ihm eigene Würde widerzuspiegeln- das sei aber gerade nicht formalisierbar, dokumentierbar, zählbar. Bis zur Grenze der Selbstausbeutung versuchten Pflegende den Kern ihrer Profession zu bewahren –unweigerlich zerrieben an der moralischen Dissonanz, die ihnen das Gesundheitssystem auferlege. Und spiegelbildlich empfänden sich eben auch Pflegebedürftige nur noch als Aufwand – als Pflegefall, der Zeit und Geld kostet. „Kranke Pflege“ heißt das Buch von Alexander Jörde, der bekannt wurde, weil er sich in der Wahlarena mit der Kanzlerin anlegte. „Das Pflegepersonal“, schreibt er, „ist eine der Hochrisikogruppen für arbeitsbedingte Belastungen. Nach dem aktuellen BKK–Gesundheitsatlas liegt der Durchschnitt der Krankheitstage in der Krankenpflege bei 19,3 Tagen, in der Altenpflege sogar bei 24,1 Tagen – gegenüber 16,1 Tagen im Durchschnitt.“
Letztlich läuft, wie schon in der Hospizbewegung, alles auf die Frage hinaus, ob wir Orte schaffen können, in denen man neu auf ihre Bedürfnisse als Bedürfnisse ganzer Menschen hört. Orte, an denen Menschen für einander das sind, Zeit füreinander haben, füreinander sorgen. Im Kaiserswerther Pflegemuseum hängt das Foto einer Diakonisse am häuslichen Krankenbett der Mutter. In der Wohnküche ist die ganze Familie versammelt – eine Tochter kocht, eine andere bringt Wasser ans Bett, während die Diakonisse eine Spritze aufzieht. Alle sind beschäftigt, das Krankenbett ist der Mittelpunkt der geteilten Sorge, zu der die Diakonisse die Mädchen anleitet, während sie pflegt. Die Familien haben sich gewandelt; Pflege ist nicht mehr nur Frauensache. Aber etwas von diesem selbstverständlichen Umgang mit Krankheit und Sterben ist dank der ambulanten Palliativpflege in die Häuser zurückgekehrt. Wenn wir heute von Quartierspflege reden, geht es darum, die Aspekte der Gemeindeschwesternarbeit, die eher Sozialarbeit oder Seelsorge waren, in neuen Teamkonstellationen wiederzugewinnen. Vielfältige Assistenzdienste und Nachbarschaftsnetze entstehen. Und die ambulante Hospizversorgung zeigt, wie wichtig die interdisziplinäre Zusammenarbeit, die Verknüpfung mit Einrichtungen, aber auch mit zivilgesellschaftlichen Netzen ist.
Und die „Sorgende Gemeinschaften“, von denen zurzeit überall die Rede ist, stehen für gemeinsame Werte und Verantwortungsbeziehungen, wie wir sie aus Familien, Freundeskreisen oder aus religiösen Gemeinschaften kennen. Sie leben aus einem gemeinsamen „Spirit“, der ganz unterschiedliche Menschen zusammenhält. Denn die christliche Spiritualität hatte immer auch eine diakonische Dimension. Bei der Erneuerung der Diakonie im 19. Jahrhundert hat das Gleichnis vom großen Weltgericht eine entscheidende Rolle gespielt – die Werke der Barmherzigkeit. Es geht um eine tiefe Aufmerksamkeit für die Situation des anderen, eine selbstverständliche Hinwendung. Andere speisen und tränken, kleiden, besuchen und pflegen –die alltäglichen Sorgetätigkeiten sind in der christlichen Tradition Ausdruck von Spiritualität und ermöglichen spirituelle Erfahrungen. Wer den anderen in seiner leib-seelischen Ganzheit wahrnimmt, schaut tiefer: Die Begegnung mit einem anderen kann mir zur Gottesbegegnung werden.
Diakonische Arbeit ist nicht einfach Dienstleistung, sondern immer Koproduktion mit dem Anderen. Und mehr noch: Begegnung mit dem Leben selbst. Vielleicht eine Gottesbegegnung, die auch den Helfern hilft, ihr eigenes Leben neu zu sehen. Dienstleistung wird nach Zeit berechnet. Und weil Zeit in den sozialen Diensten das teuerste Gut ist – wird daran gespart, wo immer möglich. Damit werden die „Resonanzflächen“ geringer und die Möglichkeiten, sich einzufühlen und Feedback im Alltag aufzunehmen, schwinden. Daneben kommt es zu einer wachsenden Spreizung von Qualifikationen und Einkommen und auch bei den Mitarbeitenden schwinden die Verweildauern. Teams werden immer neu gemischt, einzelne Module und Dienstleistungen im Case Management aneinandergereiht – die Beziehungen geraten in Zerreißproben und werden brüchig. Das gilt auch für die Beziehung der Kolleginnen und Kollegen untereinander. „Bei aller Konkurrenz wegen des wirtschaftlichen Drucks“, schreibt Matthias Düring auf Care-Slam, „dürfen wir nicht vergessen: es geht immer um die Menschen, die vor uns liegen. Sie legen uns ihre Gesundheit, manchmal auch ihr Leben, aber auf jeden Fall ihre Würde in die Hände. Die Würde bleibt unantastbar und gehört in diesem speziellen Bereich besonders geschützt.”
3. Versorgungsfälle, Robotik und Teilhabe
Im Internet kann man inzwischen T-Shirts bestellen, auf denen steht: „ Ich bin kein Pflegeroboter“. Und tatsächlich gleichen ja die Abläufe in manchen Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen notgedrungen eher einer durchgeplanten Abfertigung. Da geht es dann nur noch darum, die vielen Fälle ohne große Katastrophen zu bewältigen. Manches kann sicher von Robotern übernommen werden. Aber was den Menschen zum Menschen macht- die Begegnung, die den anderen in seiner Würde spiegelt, lässt sich nicht delegieren.
In dem Maße, in dem ein Mensch das, was ihm wichtig ist, nicht mehr selbst durch eigenes Tun verwirklichen kann, werden Begegnungen, Beziehungen und Teilhabe bedeutungsvoller. Letztlich geht es darum, dass wir chronisch kranke und pflegebedürftige Menschen als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft und nicht nur als Versorgungsfälle wahrnehmen. In ihrem Buch »Vita activa « hat Hannah Arendt Teilhabe als einen wahrhaftigen Austausch beschrieben. Sie benennt drei wichtige und grundlegende Voraussetzungen für ein Leben in gerechter Teilhabe:
– Jeder Mensch hat Zugang zum öffentlichen Raum, konkret: Kein Mensch wird aus der Gemeinschaft ausgeschlossen.
– Jeder Mensch wird in seiner Einzigartigkeit anerkannt und geachtet.
– Jeder Mensch erhält die Gewissheit, sich in seinem Handeln und Sprechen »aus der Hand geben« zu können, das heißt, von anderen Menschen angenommen zu sein und diesen vertrauen zu können.
Hannah Arendts und auch Martha Nussbaums Blick auf diese grundlegenden Bedürfnisse sind in der Inklusionsbewegung für die Rechte von Menschen mit Behinderung längst grundlegend. Die Rechte von Pflegebedürftigen und Demenzkranken sind dabei aber noch nicht im Blick. Noch sehen wir sie vielmehr als Objekte der Hilfe, und weniger als Subjekte mit sozialen Rechten. Pflegebedürftige und Demenzkranke erinnern uns daran, dass Einschränkungen, Schmerzen und Verluste zum Leben gehören. Das scheint schwer zu ertragen. Auch wenn die Zeit der Halbgötter in Weiß vorbei ist: die Käuflichkeit von Gesundheitsleistungen nährt die Illusion, dass wir allein selbst für unsere Gesundheit verantwortlich sind. Die Theologin Gunda Schneider-Flume spricht in diesem Zusammenhang von der »Tyrannei des gelingenden Lebens«, die unsere Gesellschaft beherrsche.
Gott sei Dank ist in Literatur und Medien endlich eine Angehörigenbewegung im Gange, die anders auf unsere Beziehungen sieht. Stella Braam oder Arno Geiger begreifen Demenzerkrankte als Gegenüber, von dem wir lernen können, wie sehr wir alle auf Beziehung und Zusammenhalt, auf Einfühlung und Respekt angewiesen sind. Das ist der Ausgangspunkt für eine neue Sorgekultur.
4. Achtsam bleiben – nicht funktionieren
„Du sollst nicht funktionieren“, hat Ariadne von Schirach ihr beeindruckendes Buch genannt, in dem sie daran erinnert, in welchem Maße Leben es mit dem Unplanbaren mit Vergänglichkeit und Tod zu tun hat. Wer im Gesundheitswesen arbeitet, braucht den Respekt vor der Endlichkeit, vor den Rhythmen des Lebens; wer Prozesse organisieren will, wer Abläufe planen will, braucht auch diesen Blick auf das Unplanbare. Dabei ist die Zusammenarbeit mit den Kranken und ihrem Umfeld wesentlich. Wer in diesem Sektor arbeitet, braucht ein hohes Maß an Empathie und Kommunikationsfähigkeit, um situativ angemessen reagieren zu können. Die Kaiserswerther Oberin Charlotte Renner sprach von „ungeteilter Aufmerksamkeit“ – nicht nur in „Gebetsstille und Meditation“- sondern auch im Alltag der Sorge. Die östliche religiöse Tradition spricht in diesem Zusammenhang von „einfühlsamer Präsenz“: Dazu gehören, wie der Psychologe David Richo schreibt, fünf Qualitäten: Aufmerksamkeit, Annahme, Wertschätzung, Zuneigung und Zulassen.
Hier finde ich die Werte wieder, die Maio in seiner Ethik der Sorge betont: Treue, Demut, Kompetenz, aber auch ein großes Versprechen. Das Versprechen, dass Deine Würde geschützt wird. Dass das Wohl der Patienten und Bewohner absoluten Vorrang hat. Wir können nicht über unsere Sorgetraditionen reden, ohne daran zu erinnern, wie oft dieses Versprechen gebrochen wurde und gebrochen wird. Auch heute gibt es Augenblicke in denen Widerstand geboten ist – wenn ein behindertes Kind zum Risiko wird, wenn die Zeit zum Abschied nehmen nicht reicht, wenn Menschen ohne häusliche Hilfe aus dem Krankenhaus entlassen werden. Wenn es um Respekt und soziale Rechte, um Beziehungsnetze geht.
Der Philosoph und Politikwissenschaftler Matthew Crawford, Gründer einer Motorradwerkstatt, hält es für wesentlich, dass Arbeit uns in einer Wertegemeinschaft verankert. Was ich tue, sagt er, muss Teil eines umfassenderen Bedeutungskreises sein – es soll dem Leben dienen. Ich arbeite nur mit Menschen, denen es genauso geht. Dieses Bewusstsein, das gar nicht ausgesprochen werden muss, konstituiert unser Team. Wir stehen in einer Art „ tätigem Gespräch“ miteinander – und durch dieses Gespräch kann die Arbeit unser Leben zu einem in sich schlüssigen Ganzen machen.
Auch Theodor Fliedner, der Gründer von Kaiserswerth, hatte klare Kriterien, wann er seine Diakonissen aus einem Krankenhaus zurückzog. Dabei ging es um Qualität und Ethik der Pflege, es ging aber auch um die Gesundheit der Schwestern, dass sie Urlaub und dass sie Zeit genug zur Erholung hatten. Was für Klienten wichtig ist, das brauchen die Berufsträger auch: Tragfähige Netze, inspirierende Begegnungen, den Austausch untereinander, und Orte, an denen man sich gern aufhält. Wir brauchen Zeit, uns selbst gut zu versorgen, eine Aufgabe, die uns fordert, das Gefühl, unser Leben gestalten zu können und eine Gemeinschaft, in der wir Zugehörigkeit und Resonanz erfahren. Wo die Resonanz fehlt, verlieren wir uns an Routinen, bleiben im Tunnelblick, vergessen uns selbst.
„Bitte ziehen Sie zuerst die Atemmaske zu sich herunter und helfen Sie dann Kindern, Schwächeren, Ihren Nachbarn“, erklären die Flugbegleiter, bevor wir abheben. Ganz bewusst für uns selbst zu sorgen, ehe wir uns anderen zuwenden, das müssen wir vielleicht auch im Gesundheitswesen wieder lernen. Ein Lehrbuch zur Thaimassage, das ich vor Jahren aus Bangkok mitgebracht habe, zeigt die Gesten und Haltungen der Vorbereitung: Reinigungsgesten, Gebetsgesten. Es erinnert mich an die regelmäßigen Gebetszeiten in den Klöstern, die ganz selbstverständlich die Arbeit unterbrachen. Gelegenheiten, die Gedanken zu klären. Und zu spüren, dass auch für uns gesorgt wird. Es ist hundertfünfzig Jahre her, dass der Elisabethorden in München mit seinen Geldgebern darüber stritt, ob diese Gebetszeiten und die gemeinsamen Mahlzeiten zur Arbeit gehören oder nicht. Wir wissen, wie der Streit ausging- die Tischgemeinschaft ist lange keine Dienstzeit mehr, das Gebet wurde zur Privatsache.
Mit bis zu 14 verschiedenen Beschäftigten hat ein Krankenhauspatient in einer Woche zu tun – und dabei hatte er den intensivsten Kontakt zu den Reinigungskräften. Die zunehmende Aufspaltung hat ja nicht nur die Ausgliederung von Jobs ermöglicht; sie hat auch die Zahl der prekär Beschäftigten ansteigen lassen. Prekäre Arbeit belastet dabei nicht nur die davon selbst Betroffenen, sondern auch die Kolleginnen und Kollegen, weil sie darin letztlich eine Abwertung ihres eigenen Arbeitsfeldes erleben. Ein Blick zurück in die Diakonissentradition zeigt in scharfem Kontrast die verlorene Ganzheitlichkeit der Pflege – und eine Taschengeld-Gemeinschaft, in der die unterschiedlichen Tätigkeiten gleiche Wertschätzung erfuhren, so dass ein und dieselbe Schwester durch ganz unterschiedliche Arbeitsfelder wechseln und den Gesamtzusammenhang erleben konnte.
Wer den Gesamtprozess vor Augen hat, wer sich getragen und geschätzt fühlt, bekommt Kraft, durchzuhalten, auch wo Erfolg nicht zu sehen ist. Im gemeinsamen Reden und Handeln müssen gute Lösungen für unterschiedliche Lebenszusammenhänge und Wertesysteme gefunden und auch ethische Konflikte ausgetragen werden. Ohne Respekt und Vertrauen, ohne Zeit und Verlässlichkeit, ohne Offenheit und persönlichen Einsatz kann das nicht gelingen. Deshalb brauchen Mitarbeitende im Gesundheitssystem eine Arbeitszeitgestaltung, die private Verpflichtungen der Beschäftigten ernst nimmt und damit dem Ethos der Fürsorge entspricht und Fort- und Weiterbildungen, um die eigenen Ressourcen zu stärken. Sorgearbeit erfordert eine ganzheitliche Arbeitsorganisation, denn nur so kann sich der Sinngehalt der Arbeit entfalten. Das setzt der Rationalisierung und Spezialisierung, dem Auf- und Abspalten von Tätigkeiten Grenzen.
5. Engagement statt Gleichgültigkeit- Solidarität in Sorgekämpfen
„Wir müssen reden: Über unseren Alltag. Über unsere Sorgen, unsere Verzweiflung und unsere Wut. Aber auch über unsere Freude, die Erfolge und unsere Leidenschaft. Darüber, was wir können und leisten und darüber, was wir gerne tun würden – wenn man uns nur ließe“, heißt es auf der Plattform Careslam. Seit 3 Jahren bietet sie Altenpflegern, Krankenschwestern und auch pflegenden Angehörigen Raum, über Missstände, Personalmangel und die Zwänge der Ökonomisierung in der Pflege zu sprechen.“ Wir können nicht von Politikern erwarten, dass sie irgendetwas ändern, wenn wir selbst nicht einfach mal aufstehen, den Mund aufmachen. Pflege muss nicht nur laut sein, sondern einfach mal sagen: Nein! Das mache ich nicht!”, sagt Claudia Hanke, eine der Gründerinnen.
„Nein“ sagen gehört nicht zur diakonischen Tradition. Die traditionellen Gemeinschaften waren „Ersatzfamilien“ – „Schwesternschaften“ waren Lebens- und Arbeitsgemeinschaften, ihre „Mutter- und Krankenhäuser“ Gemeinschaftsorganisationen. An der Wurzel der modernen Pflegegeschichte steht die Überzeugung, dass die Pflegeberufe eine Art Ersatz für die Arbeit der Ehefrau in der Familie sind. Schritt für Schritt- oft genug gegen die Kirche- musste die Unabhängigkeit erstritten werden, immer wieder gerieten Professionalität und Ökonomie in Spannung zueinander. Es gab Streit um den 8-Stunden-Tag, die Länge der Ausbildungszeiten, um fachlich überzeugende Curricula und die Refinanzierung gut ausgebildeter Schwestern. Bis heute reicht das Entgelt kaum, um eine Familie zu ernähren- Heinz Bude spricht von dem neuen Dienstleistungsproletariat. Trotzdem bleiben die Massenproteste aus. Pflegende wandern ab – im Schnitt nach 7,5 Jahren. Nur 10 Prozent sind gewerkschaftlich organisiert.
Nein sagen gehört nicht zur Tradition. In dem alten Schwesternschaftsmotto „ Gemeinschaft mit dem Nächsten, Gemeinschaft untereinander, Gemeinschaft mit Gott“ fehlt das Selbst, das im Dreieck von Gottesliebe, Nächstenliebe und Selbstliebe seinen Platz hat. Aber ohne Selbstsorge kann die Fürsorge nicht gelingen, ohne Selbstmitgefühl keine Empathie. Denn sich wirklich auf andere Menschen einzulassen, ihre Sorgen wahrzunehmen, mit ihnen nach dem zu suchen, was gut tut und Hoffnung gibt, bedeutet immer ein Risiko. Aber ohne die eigene Person einzubringen, wird man auf Dauer weder pflegen noch heilen oder beraten können.
Wenn ich darüber nachdenke, wie Care heute organisiert werden kann, dann geht es darum, Energie fließen zu lassen, Barrieren und Bürokratie abzubauen. Aus der individuellen Abwanderungsbewegung muss ein solidarisches Miteinander werden. Aus dem Gefühl, das eigene Berufsethos im Alltag zu verraten, ein gemeinsamer Kampf um die Werte. Dabei besteht die zentrale Erwartung von Mitarbeitenden darin, mit den eigenen Kompetenzen gesehen zu werden und Veränderungsprozesse aktiv mitzugestalten. Das niederländische Pflegemodell der buurtzorg fasziniert auch deswegen so viele, weil es den Mitarbeitenden zutraut, über die individuellen Zeittakte und den notwendigen Sorgeaufwand bei ihren Patientinnen und Patienten zu entscheiden. Angehörige und Zugehörige müssen als wesentlicher Teil des Versorgungssettings anerkannt und berücksichtigt werden. Sie können entlasten, aber auch die Selbstsorge von Kranken stärken.
Der Weg von der „Sorglosigkeit des Kapitalismus“ zu einer „sorgsamen Gesellschaft“ ist noch weit. Bis dahin gilt es, in den Sorgekämpfen, die in Unternehmen und Gesellschaft stattfinden, gemeinsam für die eigenen Werte einzutreten.