Familien und Angehörige im Hospizgeschehen

Theologisch-ethische Reflexionen

 

1. Wunderbare Wandlung – Eine Mutter-Tochter-Geschichte

Die Fotoreporterin Maggie Steber hat ihre Mutter in den letzten Lebensjahren mit der Kamera begleitet.[1] In einer Altenwohnung in Miami dokumentierte sie deren langsamen Abschied vom eigenen Ich. Madje, die Mutter, war an Demenz erkrankt. Maggie hatte immer ein distanziertes Verhältnis zu ihr gehabt. Das änderte sich nun. Während sie fotografierte, wuchs ein neues Verstehen. Trotz der emotionalen Belastung entstand eine neue Bindung. Schmerzhafte Erinnerungen fielen weg; Sorgen über die Zukunft spielten plötzlich keine Rolle mehr. Gemeinsam erlebten sie das Jetzt, und es wuchs eine Nähe, mit der die Fotografin nie gerechnet hätte. Am Ende starb Madje in den Armen ihrer Tochter. Diese Reportage sei ihre wichtigste Arbeit gewesen, sagt Maggie heute – und man glaubt es ihr, wenn man ihre Fotos sieht. Wie entspannt und glücklich sie einmal neben der Mutter auf dem Sofa liegt. Wie königlich die Mutter, in eine blaue Decke gehüllt, auf der Matratze sitzt – zwischen ihren Katzen.

Es ist wunderbar, auf diese Weise Abschied nehmen zu dürfen. Wenn die Beziehung zueinander noch einmal vertieft wird, bevor sie endet. Wenn Versöhnung möglich wird, wo vorher Distanz und Unverständnis waren. Wunderbar, den eigenen Eltern noch einmal neu als erwachsene Menschen begegnen zu können, auch in Verletzungen, Hilflosigkeit und Angewiesenheit – und damit selbst endgültig erwachsen zu werden. So ging es mir auch und ich möchte die Tage und Wochen am Sterbebett meiner eigenen Mutter nicht missen. Sie starb in ihrem kleinen Appartement in einem der niedersächsischen Frauenklöster. Es war eine Zeit des Wandels und der Konzentration: Noch einmal leuchtete das Vergangene auf, noch einmal kamen Freunde und Verwandte – und ich selbst hatte die Möglichkeit, in den letzten zwei Wochen dort zu übernachten. Selten habe ich den Augenblick so intensiv erlebt, die Vögel am Morgen selten so zwitschern gehört wie in dieser Zeit. Liebe und Leben werden noch einmal ganz dicht, wenn es heißt Abschied zu nehmen. Was da geschieht, betrifft nicht nur den, der geht, sondern auch die, die bleiben. Der Sterbeprozess verändert auch das Leben der Angehörigen und Freunde. Es geht um eine große Verwandlung.

Wir wachsen und wandeln uns mit den Menschen, die uns am nächsten sind. Wenn ein geliebter Mensch stirbt, wenn ein anderer geboren wird oder ein Mensch in unser Leben tritt, den wir lieben lernen. Mit und durch die anderen werden wir selbst ein anderer: bei einem Tod zur Waise, bei einer Geburt zu Mutter oder Vater, so werden wir Bräutigam oder Witwe, aber auch Freund oder Nachbarin – was an anderen geschieht, verwandelt auch uns. Denn wir werden am Du zum Ich, wir sind auf ein Gegenüber hin geschaffen, wie Emanuel Levinas und Martin Buber deutlich gemacht haben. Wenn unsere Beziehungen sich verändern, bleiben auch wir nicht, die wir waren. Wo diese Veränderungen in Liebe geschehen, versöhnt uns das mit den Wandlungsprozessen des Lebens. Der Segen, den wir einander im Abschied schenken, lässt uns zu unserer Mitte kommen, neue Kraft tanken und neue Bilder vom Leben gewinnen, so wie sie die Fotografin Maggie Steber festgehalten hat. Von ihrer Mutter und von sich selbst.

Nicht immer allerdings sind Abschieds- und Sterbeprozesse so versöhnlich. Wie einverständig sie verlaufen können, wie gut es gelingt, dass die Sterbenden ruhig gehen und die Angehörigen sie in Frieden gehen lassen, und ob es möglich wird, durch den Schmerz zu einem neuen Leben zu finden, das hängt von vielen Faktoren ab. Wie alle Beteiligten die letzte Lebensphase eines Menschen erleben, das hat mit den individuellen Beziehungen zu tun, aber auch mit den Strukturen der Institutionen. Mit dem Gesundheitszustand der Sterbenden genauso wie mit dem der Angehörigen. Mit deren zeitlichen Ressourcen und ihren Verpflichtungen für die eigene Familie oder im beruflichen Bereich. Und nicht zuletzt auch mit finanziellen und rechtlichen Fragen.

 

2. Institutionelle Entfremdung – Über Organisationen, Recht und Finanzen

Selten sind die Rahmenbedingungen so, dass Angehörige in einer Einrichtung übernachten können. Kosten, Heimordnungen, Besuchszeiten stehen im Weg. Rechtliche Rahmenbedingungen für Ärzte wie für Krankenhäuser und Altenhilfeeinrichtungen regeln auch, wer das Recht hat, Auskunft über den Gesundheitszustand eines Menschen zu bekommen, ihn auf der Intensivstation zu besuchen oder im Blick auf letzte Entscheidungen Gehör zu finden. In der Regel sind das „nächste Angehörige“, also Eltern oder Kinder, Geschwister oder Ehegatten. Oft sind es im Alltag aber gar nicht diese Menschen oder nicht sie allein, sondern ganz andere, die einander Nächste geworden sind: Nachbarinnen und Freunde, Cousins oder Mitbewohnerinnen in einer Wohngemeinschaft. Besonders eklatant war über lange Zeit das Auseinanderklaffen zwischen den rechtlichen Vorschriften und den tatsächlichen Lebensverhältnissen bei homosexuellen Paaren, die nur privatrechtliche Möglichkeit hatten, ihrer Beziehung einen rechtlichen Status zu geben; noch immer gilt dies für jedwedes unverheiratetes Paar. Die Möglichkeiten einer Vorsorgevollmacht haben hier tatsächlich neue Räume eröffnet – weil sie, wie die Patientenverfügung, in den Rahmenbedingungen und Kompetenzen von Professionen und Institutionen vor allem nach dem Willen und der Lebenswirklichkeit der Betroffenen fragen.

Doch damit tun sich auch neue Fragen auf … Um zunächst einmal die Logiken zu verstehen, nach denen Institutionen Angehörige ein- oder ausschließen, nach denen innerhalb der Organisationen auch neue „Angehörigkeiten“ oder besser „Zugehörigkeiten“ entstanden sind, möchte ich ganz kurz an die Entwicklung erinnern, die zu der heutigen Situation geführt hat, in der das Sterben weitgehend aus dem gesellschaftlichen Alltag verdrängt worden ist. Mit etwas Abstand auf diese Entwicklung zu schauen, lässt uns vielleicht deutlich werden, in welche Richtung es weitergehen kann, welche Lernprozesse auf verschiedenen Seiten notwendig sind, aber auch – es gibt keine Geschichte, die nur aus Verlusten besteht –, welche Potenziale in dieser Entwicklung gewachsen sind.

Noch immer gilt das Paradox, dass die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger zu Hause sterben will – während die meisten tatsächlich in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen oder in Hospizen sterben. Wir wünschen uns Familienverhältnisse wie zuletzt in den 50er Jahren, als es selbstverständlich schien, dass Pflegebedürftige zu Hause von ihren Angehörigen – nein: von ihren Töchtern oder Schwiegertöchtern – versorgt wurden. Ich erinnere mich an die alt gewordene Nachbarin, deren Sterben ich in meinem Elternhaus miterlebte. Meine Mutter versorgte sie zusammen mit der Gemeindeschwester. Ich sehe die Girlande aus Gänseblumen vor mir, die wir knüpften um ihren Sarg legten – sie hatte mir so oft Blumenkränze für die Haare geflochten. Und ich denke an die Sammeltasse, die sie noch im Herbst als Weihnachtsgeschenk für mich kaufen ließ – eine bleibende Erinnerung, als sie schon gegangen war. Kleine Rituale, wechselseitiges Geben zwischen den Generationen. In den 80er Jahren dann, als ich Gemeindepfarrerin war, fand ich solche Traditionen des Abschiednehmens nur noch in wenigen Häusern – oft auf den alten Höfen. Mehrgenerationenhöfe, würde man heute sagen.

Dass das Sterben professionalisiert, institutionalisiert und medikalisiert wurde, hat viele Gründe. Nicht zu unterschätzen ist dabei die Tatsache, dass das sogenannte goldene Zeitalter der Familie der 50er Jahren lange hinter uns liegt. Die Veränderung der Geschlechterrollen, die selbstverständliche Teilnahme von Frauen an der Erwerbsgesellschaft, die zunehmende Mobilität wie auch der demographische Wandel haben die Situation grundlegend verändert: Das sogenannte Töchter- und Schwiegertöchter Pflegepotenzial schrumpft, Familien werden vielfältiger, gerade bei den Älteren entstehen immer mehr Single-Haushalte und diejenigen, die Kinder erziehen, für Pflegebedürftige und Sterbende da sein können, sind finanziell benachteiligt und zeitlich in Zerreißproben. Ehe wir allerdings die goldenen 50er verklären, sollten wir uns daran erinnern, dass dieser Prozess bereits im 19. Jahrhundert begann, als die frühe Industrialisierung wie auch die wachsende Mobilität viele Familien überforderte und die weibliche Diakonie mit Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern entstand.

Entsprechend tief sind die Mentalitätsveränderungen, entsprechend stark auch die Eigengesetzlichkeiten, die sich in den Institutionen entwickelt haben. Hierzu gehört, dass auch in den Krankenhäusern, ja selbst in den Altenhilfeeinrichtungen der Tod möglichst unsichtbar gemacht wurde, um die übrigen Patienten oder ihre Angehörigen davor zu „schützen“ – Begriffe wie Gesundheitszentrum oder Seniorenresidenz sprechen eine deutliche Sprache. Erst mit den Hospizen wurden ja Einrichtungen geschaffen, in denen Sterbeprozesse zum Thema werden dürfen. Hierzu gehört auch, dass Krankenhäuser und Altenhilfeeinrichtungen mit ihrem Hausrecht die Regeln vorgeben – selbst dann, wenn heute selbstverständlich von Bewohnerinnen und Bewohnern, von Miet- und Hotelkosten gesprochen wird. Gleichwohl werden die Prozesse von den Profis gesteuert – und da stören die Angehörigen die Routinen, die in den chronisch unterfinanzierten Organisationen möglichst reibungslos ablaufen sollen. Und tatsächlich kommt es ja vor, dass die Familienmitglieder vor allem einen kritischen Blick auf die Versorgung werfen, nicht selten, weil sie zuvor selbst bis zur Erschöpfung gepflegt haben und sich nun Vorwürfe machen, nicht länger intensiv für ihre Angehörigen da sein zu können – aber auch, weil sie gerade in der Altenhilfe häufig an der Finanzierung beteiligt sind oder ihr Erbe dahinschmelzen sehen. Ich habe mich manchmal gefragt, ob Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in der Pflege sich nicht manchmal ähnlich fühlen wie die Angehörigen zuvor: überfordert, allein gelassen und immer unter Anklage. Fest steht, dass viele von ihnen gerade in Sterbeprozessen ihr Äußerstes an Zeit und Energie geben, bis zu dem Punkt, an dem es schwer fällt, loszulassen. „Mutter, wann stirbst Du endlich?“, das Buch von Martina Rosenberg, ein Tabubruch, zeigt die Ambivalenzen von Fürsorgen und Loslassen.

 

3. Familienbande – oder wer gehört dazu?

Beim Palliative-Care- und Ethikprojekt, das wir vor einigen Jahren in der Kaiserswerther Diakonie mit Andreas Heller und seinem Team durchgeführt haben, waren es die Mitarbeitenden in der Altenhilfe, die sich besonders schwer taten, formale Ethikkonsile einzuführen. Das hing damit zusammen, dass – anders als im Krankenhaus – in der stationären Altenhilfe keine kontinuierliche Beratung mit den (Haus-) Ärzten stattfindet und dass auch die Angehörigen in längeren Sterbeprozessen eben nicht so regelmäßig anwesend sind. So sind Pflegeteams häufiger auf sich selbst gestellt und sehr viel mehr auf die eigene Beobachtung angewiesen. „Wir stehen ja auch den Angehörigen gegenüber, die ebenfalls mit der Situation überfordert sind und sich von uns eine Lösung wünschen“, sagt einer der Mitarbeitenden im Interview. „Da können wir uns eigentlich nur gegenseitig beraten.“[2] Seine vorsichtigen Formulierungen lassen ahnen, wie unklar und schwierig die Situation mit den Angehörigen häufig ist. Im Folgenden spricht er darüber, die eigenen Wünsche und Selbstvorwürfe, auch eine falsche Fürsorge zurückzunehmen und vor allem den Willen der Sterbenden zu respektieren. Gerade hier aber wird eine große Kompetenz und Lebenssicherheit spürbar: „Wir sollten lernen, keine Angst aufkommen zu lassen, sondern danach zu handeln, was Recht ist. Und das nicht im Alleingang, sondern immer im Team“, sagt der Pflegende. Und schließt: „Ein Bewohner hat das Recht, dass man für ihn kämpft, wenn er das nicht mehr selbst kann.“

Tatsächlich finden am Sterbebett oft genug Kämpfe statt. Denn es ist keineswegs immer klar, „was Recht ist“. Vorab klären lässt sich die Frage, ob Magensonde ja oder nein, schwieriger wird es bei der Entscheidung, ob ein erneuter Krankenhausaufenthalt nötig ist oder beim Umgang mit der Flüssigkeitszufuhr – bei solchen Entscheidungen müssen Risiken abgewogen, Prioritäten geklärt werden. Gerade bei älteren, multimorbiden Menschen geht es im Sterbeprozess um eine Kette von Entscheidungen und keinesfalls um das schnelle Ende, das von manchen so sehr gewünscht wird. Gleichwohl scheint es schwierig, alle Beteiligten zusammenzurufen und einen hilfreichen Dialog zu führen, auch eine Basis zwischen Pflegeteam und Angehörigen herzustellen.

Das liegt nicht nur daran, dass die Einrichtungen mit der Sterbegleitung überfordert sind. Es hat auch damit zu tun, dass die Angehörigen selbst auf diese Situation wenig vorbereitet sind. Da sind die pflegenden Kinder, die selbst Familie haben und zudem beruflich eingespannt sind, die Rentnerinnen, die ihre hochaltrigen Mütter bis zur eigenen Erschöpfung gepflegt haben, die Ehepartner, die ebenfalls schon alt sind und durch die Begleitung körperlich und emotional an die Grenze geraten. Da sind die jüngeren Mitglieder der multilokalen Mehrgenerationenfamilie, die weite Wege einplanen müssen, ihre sterbenden Familienmitglieder zu besuchen. Wenn nach langer Pflege die Belastung im Sterbeprozess noch einmal zunimmt, können auch in den Familien selbst die Spannungen wachsen. Wer hat jetzt die Zeit am Sterbebett zu sitzen? Wer muss sie sich nehmen? Überkommene Geschlechterrollen werden wieder lebendig, alte Rechnungen noch einmal aufgemacht, Geben und Nehmen in Beziehung gesetzt. Manchmal – keineswegs immer – werden solche Situationen besonders schwierig in Scheidungs- oder Patchworkfamilien. Alte und neue Bindungen, alte und neue Rechte stehen nebeneinander und manchmal eben auch in Konflikt miteinander. Die Anspannung, die mit all dem verbunden ist, äußert sich in verschärften Konflikten, wenn hierfür keine Regelungen getroffen wurden.

Kein Wunder, dass inzwischen viele Einrichtungen Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht gleich mit der Anmeldung verlangen und bereits in der ersten Zeit die Wünsche und Vorstellungen abfragen. Damit sind im Blick auf die Selbstbestimmung hilfreiche Instrumente geschaffen. Zugleich aber bleibt ein gerütteltes Maß an Skepsis, was die Lebensnähe solcher Entscheidungen angeht: Lassen sich die Dinge tatsächlich im Vorhinein klären, wenn doch unsere Gefühle immer nur durch das bisherige Leben und Erleben geprägt sind? Und wenn wir mit dem Sterben keinerlei Erfahrung mehr haben? Droht nicht die Gefahr, damit selbst zu einer Verregelung und Versachlichung des Sterbens beizutragen, obwohl wir es am Ende doch immer mit widerstreitenden Perspektiven zu tun haben – bei den Sterbenden wie auch bei ihren Angehörigen? Ein gutes Miteinander in der Entscheidungssituation ist genauso wesentlich wie eine rechtliche Festlegung – auch wenn nicht bestritten werden soll, auch wenn sie tatsächlich allen Beteiligten eine zentrale Orientierung in schwierigen Situationen geben kann.

Wie wichtig es ist, die Gemeinschaft, aus der ein Mensch kommt, im organisationellen Handeln nicht einfach vor der Tür zu lassen, sondern sie einzubeziehen, das hat die soziale Arbeit in vielen Feldern durchdekliniert: in der Adoptions- und Pflegekinderarbeit, in der ambulanten Suchtkrankenhilfe und in allem Bemühen um ein gutes Versorgungsnetz im Stadtteil. Das gilt im Sterben und Abschiednehmen noch einmal auf ganz besondere Weise.

Die Zielsetzung der Ethikkonsile im Krankenhaus, dass alle Beteiligten – Angehörige wie Profis, Pflegende wie Hausärzte und gegebenenfalls die Fachkollegen vom Krankenhaus miteinander beraten – schien in der Altenhilfe nur schwer umsetzbar. Wer soll beteiligt werden? Wer gehört dazu? Wer kann wann eine Beratung einberufen? Die Zeit der Sterbebegleitung, des Abschiednehmens und Neuordnens verlangt in unserer zunehmend fragmentierten Gesellschaft ein hohes Maß an Kommunikation und Absprachen. Und eben ein Überschreiten der Grenzen zwischen den Institutionen und ihrem Außerhalb, zwischen Pflegenden, der Kernfamilie und den anderen Zugehörigen, aber auch – das kann hier immer nur am Rand erwähnt werden – zwischen verschieden Trägern, Kranken-und Pflegeversicherung, Organisationen und den Engagierten in der Zivilgesellschaft.

Das Netzwerk, das uns trägt und unterstützen kann, will gepflegt sein. Und das bedeutet: Angehörige müssen so früh wie möglich einbezogen werden. Das gilt für die Gespräche, die jeder und jede von uns wir führen sollte, bevor wir eine Patientenverfügung oder Vorsorgevollmacht aufsetzen, das gilt aber auch für die Organisationen, die am Ende oft übernehmen. Es ist kein Zufall, dass Teams in der Altenpflege sich gelegentlich zum eigentlichen Fürsprecher des Sterbenden machen – die monatelange Pflege und Fürsorge hat eine Zugehörigkeit geschaffen. Auch wenn es inzwischen verschiedene Modelle der Angehörigenpflege gibt – die nächsten Familienmitglieder bleiben in der Regel Besucher und werden gleichwohl, wenn es eng wird, für den einen oder anderen Hilfsdienst gebraucht. Eine unklare Rolle, in der sich die Angehörigen nachvollziehbarerweise unwohl fühlen; wo sie sich dann zurückziehen, ist dies der Abschied vor dem Abschied. Zurück bleiben Einsamkeit, Hilflosigkeit und Gefühle des Ausgeliefertseins – auf allen Seiten. Die nicht mehr so neuen Formen selbstbestimmter Wohngemeinschaften sind auch ein Weg, den Zugehörigen ihren Platz zu lassen, ihnen Raum zur Beteiligung zu geben.

 

5. Das biographische Netz – Von der Notwendigkeit, einen Resonanzrahmen zu haben

Im Sterben wird das Geflecht, das soziale und biographische Netzwerk erkennbar, in dem wir unser Leben gestaltet haben – mit seinen sichtbaren wie mit den unsichtbaren Knoten. Mit den Menschen, die leben und um uns sind, aber auch mit denen, die uns in unserer Lebensgeschichte geprägt haben, inzwischen aber verstorben oder nicht mehr erreichbar sind. Schmerzliche Lücken, unversöhnte Beziehungen, Abbrüche und glückliche Neuanfänge. Menschen, die uns stark gemacht und solche, die uns gekränkt und geschwächt haben. Eltern und Lehrerinnen werden erinnert und in Gesprächen plötzlich wieder präsent, Namen fallen, die keiner mehr kennt – von Vorgesetzten, Freundinnen, Kollegen und auch von Zufallsbegegnungen, die den Verlauf einer Biographie gleichwohl entscheidend verändert haben. In Einrichtungen für Demenzkranke ist es üblich geworden, Fotos aufzuhängen, die den Bewohner in jüngeren Jahren zeigen, sein oder ihr Lebens- und Berufsumfeld in Erinnerung rufen. Bilder vielleicht auch von Eltern, Ehepartnern und Kindern – wer aber erinnert sich an die Namen der Freunde? Wie alte Fotos, die niemand beschriftet hat, tauchen jetzt Bruchstücke von Geschichten auf. Und niemand, außer den Angehörigen und engen Freunden, ist in der Lage, zu dechiffrieren, was sie bedeuten. Was mit einem Namen, einem Duft oder einem Bild verbunden ist, woran ein Musikstück erinnert, das lässt sich nicht auf Fragebögen ankreuzen. Das wissen oft nur die Menschen, die uns vertraut sind. Auch darum ist es so wichtig, dass sie bei uns sind.

Vielleicht erlauben es die letzten Wochen, noch einmal bewusst zu erzählen. Sich auszutauschen über das, was berührt hat, was wichtig war oder was schmerzte. Unser Gesundheitswesen, schreibt Andreas Heller in dem Buch „In Ruhe sterben“; das er gemeinsam mit Reimer Gronemeyer[3] verfasst hat, rechnet und plant in DRGs und Modulen – es zählt nur, was gezählt werden kann. Demgegenüber käme es auf das an, was erzählt werde kann: individuelle Biographien, Lebensbrüche und Umbrüche, das Unverwechselbare. Dabei kommt es allerdings darauf an, dass diese Geschichten in ihrer Bedeutung verstanden und dechiffriert werden können; dazu braucht es einen gemeinsamen Deutungshorizont zwischen dem Erzählenden und seinen Zuhörern.

Die Philosophin Hannah Arendt hat am Ende ihres Lebens von dem Gefühl der „Entlaubung“ gesprochen, dem Gefühl, auf der Welt ohne die gewohnten und geliebten Gesichter, die sie einst umgaben, nicht mehr zu Hause zu sein. Arendt schrieb im Dezember 1973 an ihre enge Freunde Mary McCarthy, dass sie nicht dagegen habe, sich auf das eigene Sterben als einen Prozess der Transformation einzulassen, aber das, was ihr wirklich etwas ausmache, sei die „stufenweise“ Transformation einer Welt mit vertrauten Gesichtern (egal ob Freund oder Feind) in eine Art Wüste die von fremden Gesichtern bevölkert sei. Dieser Prozess der Transformation, dieses „aus der Welt gehen“ oder besser: dieser Weltverlust, entzieht sich den Augen derer, die noch mitten in der Welt sind. „Es scheint, als habe der Tod für meine Schwester bereits eine Schrecken verloren, weil sie mit ihm kommuniziert, mehr als mit uns“, beschreibt Charlotte Link in ihrem Buch „Sechs Jahre“ über das Sterben ihrer Schwester diese Erfahrung.

Viele Sterbende sind zudem gar nicht oder nur wenig in der Lage, zu erzählen, etwa weil sie nach einem Unfall im Koma liegen, weil sie an Demenz erkrankt sind oder weil sie wegen einer schweren Krankheit Schmerzmittel erhalten. Auch das gehört zu den Schwierigkeiten der Angehörigkeiten in diesem Geschehen: Die scheinbare geistige Abwesenheit der Sterbenden kann für die Begleitenden irritierend sein. Viele fühlen sich hilf- und nutzlos am Bett einer Person, die nur noch so wenig von dem zu sein scheint, was sie einmal war. Da gilt es wieder zu entdecken, dass Sprechen nicht der einzige und keineswegs immer der beste Weg ist, einander nahe zu sein und einander zu verstehen. Jetzt spielt wie in der Kindheit oder auch in einer Liebesbeziehung der körperliche Kontakt eine wichtige Rolle. Und auch Musik kann eine Möglichkeit sein, sich in eine gemeinsame, andere Welt zu begeben. Vielleicht hilft auch die Vorstellung, dass es für manche Sterbende auch darum geht, ihr Leben schlafend und träumend zu Ende zu bringen – allerdings eine Herausforderung in einer Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft, in der Schlafmangel und Schlafstörungen zunehmen und Eltern in Kursen lernen, wie ein Kind schlafen lernen kann. Den Schlaf anderer zu bewachen, Sterbende in den Tod wie in einen Schlaf zu begleiten, durch die eigene Anwesenheit, ein Handhalten oder Streicheln, ein Gebet, müssen wir sicher alle neu lernen. Es ist eine Übung an der Grenze – zwischen Wachsein und Traum, Schlaf und Tod, Sichtbarem und Unsichtbarem –, während die Überwachungstechnik die Fiktion aufrechterhält, dass die entscheidenden Prozesse sichtbar zu machen seien.

Was geschieht, wenn wir an einem Sterbebett sitzen, stellt unser Denken über Leistung, Produktivität und Lebenssinn sehr grundsätzlich in Frage. Denn das Bild vom immer wachen, gesunden und leistungsstarken Menschen, der nicht auf andere angewiesen ist – dieses Bild von Freiheit und Autonomie hält im Sterbeprozess nicht stand. „Der Mensch, der es ablehnt, dem sinkenden Leben gut zu sein, versäumt eine wichtige Chance, zu verstehen, was Leben überhaupt ist, wie unerbittlich seine Tragik, wie tief seine Einsamkeit, und wie sehr wir Menschen miteinander solidarisch sein können“, sagt Romano Guardini. „Die Sorge für die Schwachen schützt die Starken selbst.“

Und Andreas Kruse und Thomas Klie schreiben: „Die mit einer Gesellschaft des langen Lebens verbundenen Herausforderungen verlangen nach einer Auseinandersetzung mit Fragen des Menschseins, mit dem Verständnis von Würde und mit den Vorstellungen eines guten und sinnerfüllten Lebens unter Bedingungen der Vulnerabilität. Vorstellungen von Leben und Autonomie, die den Beziehungscharakter menschlichen Lebens und dessen Angewiesenheit auf andere nicht einbezieht, sind unvollständig. Ein Bild von Würde, das mit persönlicher Leistungsfähigkeit verbunden wird, gefährdet den Respekt vor jenen Menschen, die in erhöhtem Maße vulnerabel sind“ – so ihr öffentlicher Zwischenruf zur Debatte um den Assistierten Suizid, die ja nur die Zuspitzung dieser Fragen darstellt. Dabei darf nicht ausgeblendet werden, dass es bei dem Wunsch nach einer vorzeitigen Beendigung des Lebens häufig auch darum geht, den Angehörigen nicht zur Last fallen zu wollen. Ein Wunsch, den das gesellschaftliche Klima durchaus nahelegen kann. Dazu passt der Wunsch nach einem aufrechten, würdevollen Abschied – Menschen möchten einander ein quälendes Aus-der Welt-gehen nicht zumuten. Die Frage, wie die Liebe mit Endlichkeit, Gebrechlichkeit und Verletzlichkeit umgeht, spielt inzwischen in vielen Büchern und Filmen eine Rolle. Aber auch der assistierte Suizid, der geplante Abschied, der aus Liebe geschieht oder zugelassen wird, ist ein quälender Schmerz. Darum finde ich es richtig, die enge und manchmal auch quälend-beängstigende Nähe, die liebende Angehörige haben und in der sie ihre Verzweiflung mit dem Sterbenden teilen, zu einem dritten Ankerpunkt hin zu öffnen. Deshalb spielen Ärzte und Institutionen mit ihrer Ethik eine entscheidende Rolle. Rechtlich zuzulassen, dass sie die Rolle von Freunden einnehmen und damit selbst zu Zugehörigen werden, halte ich für ein Problem. Darum ist es so wichtig, dass wir gesellschaftlich und sozialpolitisch alles tun, damit Menschen auch in ihrer Pflegebedürftigkeit würdevoll sterben.

 

6. Auf dass wir klug werden – Abhängigkeit akzeptieren

Unsere Vorstellungen von Würde werden aber nicht erst am Sterbebett auf die Probe gestellt – das beginnt schon bei der Frage, ob Menschen, die alt und pflegebedürftig sind oder eine Behinderung haben, ein Leben in Würde führen können. In einer Ausstellung über die sozialen Sicherungssysteme, die ich kürzlich gesehen habe, fand ich folgende Sätze: „Solange wir gesund und fit sind, können wir im Alter noch viel Positives erleben und auch noch viel tun; für unsere Familie, für unser Umfeld, die Gemeinschaft. Irgendwann werden wir von Gebenden zu Nehmenden. Das ist für viele nicht leicht. In einer solidarischen Gesellschaft können wir uns darauf verlassen, dass für uns gesorgt ist.“[4] So sehr ich für eine solidarische Altersversorgung einstehe, so sehr irritiert mich dieser Satz: „Irgendwann werden wir von Gebenden zu Nehmenden.“ Er zeichnet das Bild einer Erwerbsgesellschaft, die das Geben den Starken und Fitten vorbehält – und das Nehmen entsprechend den Kindern, Kranken und Alten. Wer sterbend vollkommen auf die Hilfe und Begleitung anderer angewiesen ist – ganz so wie es Säuglinge sind – scheint dann am Ende zum Objekt des Handelns zu werden. Das ist die absolute Kränkung unserer Vorstellung von Autonomie und Eigenverantwortung. Aber stimmt das tatsächlich? Der türkische Arzt einer Freundin sagte zu ihr, während ihr Sohn und die Schwiegertochter an ihrem Bett saßen, sie würde mit ihrem Sterben den Nachkommen auch zeigen, wie man sterben kann.

In der FAZ erschien vor kurzem ein Interview mit dem Musiker Mikis Theodorakis unter der Überschrift: „Wo sollen wir Hoffnung hernehmen?“[5]. Ja, es ging um die griechische Politik, aber darüber hinaus um die Frage, wie wir mit Chaos in der Welt umgehen und zur Harmonie finden können. Darin erzählt er, dass er oft mitten in der Krise eine Melodie gehört hat, die ihm Mut und Hoffnung gab. „Wir dürfen dem Chaos einfach nicht erlauben, sich bei uns einzunisten“, sagt er dem Journalisten, der nach einer Zukunftshoffnung fragt. Und er endet mit folgenden Sätzen: „Ich selbst aber will so schnell wie möglich sterben; meine Eltern und mein Bruder sind schon gegangen. Sie warten.“ Dass wir von Alten oder Sterbenden lernen können, ist in unserer älter werdenden Leistungsgesellschaft weitgehend aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden. Verschwunden ist auch das Wissen um die, die uns voran gegangen sind. Vielleicht ist es ja kein Zufall, dass ich eine griechische Stimme zitiert habe – aus einer Kultur, in der die Ikonostase der Heiligen ganz selbstverständlich zur Gemeinschaft der Lebenden hinzu gehört. Auch in unserer Trauer müssten wir lernen, unsere Liebenden zu gerahmten Bildern werden zu lassen, schreibt Joan Didion in ihrem Roman „Das Jahr des magischen Denkens“.

Von den Sterbenden können wir lernen, abschiedlich zu leben. Das ist eine der Grunderfahrungen der Hospizbewegung, die sich gesellschaftlich aber noch immer nicht durchgesetzt hat. Unsere älter werdende Gesellschaft hat eine andere Blickrichtung: Wir schauen auf die Jungen. Allenfalls von Kindern wollen wir lernen – ihre Entdeckerfreude und Phantasie jenseits der gebahnten Wege beeindrucken uns so, dass ein Schlager vorschlug, ihnen das Kommando zu geben. Das ist durchaus jesuanisch, denn auch Jesus stellt im Gegenzug zur Verehrung seiner Zeit für die Alten ein Kind in die Mitte, damit andere von ihm Vertrauen lernen. Das Evangelium erinnert daran, wie zerbrechlich und wie angewiesen wir letztlich alle sind. Wie die Blumen auf dem Feld, wie die Vögel unter dem Himmel: schön und bunt, aber auch verletzlich und endlich. Unsere planende Vorsorge, unser Wunsch nach Eigenverantwortung sind wichtig – aber sie können das Vertrauen nicht ersetzen – das Gottvertrauen nicht und nicht das Vertrauen in andere Menschen. Wir müssen – und wir dürfen – damit leben, dass Leben mehr ist, als wir planen und uns vorstellen können und als wir vor Augen sehen.

Und das lässt sich eben vor allem von denen lernen, die nicht einmal ihr eigenes Leben steuern können: von Kindern, von Sterbenden, aber auch von Menschen mit Behinderungen: In einer Erklärung des Zentralausschusses des Ökumenischen Rates der Kirchen von 2003 heißt es: „Ohne die Erkenntnisse (von Menschen mit Behinderung) werden die tiefsten, ureigensten Elemente der christlichen Theologie verfälscht oder verloren gehen.“[6] Der Text wurde von einer Gruppe geschrieben, in der behinderte Menschen, ihre Betreuer, Angehörige und Freunde zusammen nachgedacht haben. Sie schreiben: Wir „wissen, was es bedeutet, dass sich das Leben unerwartet von Grund auf verändern kann. Wir waren in jenem Grenzbereich zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten, in dem wir nur zuhören und abwarten konnten. Wir hatten Angst und den Tod vor Augen und kennen nun unsere eigene Verwundbarkeit. Wir sind Gott in jener leeren Dunkelheit begegnet, in der uns bewusst wurde, dass wir ‚die Kontrolle‘ über uns verloren haben, und wir haben gelernt, auf Gottes Gegenwart und Fürsorge zu vertrauen. Wir haben gelernt, bereitwillig anzunehmen, mit Freude zu geben, und dankbar für den Augenblick zu sein. Wir haben gelernt, Neuland zu gewinnen und einen neuen Weg für unser Leben zu finden, der uns noch nicht vertraut ist. Wir wissen, was es bedeutet, inmitten von Paradoxen zu leben, und wir wissen, dass einfache Antworten und Sicherheiten uns nicht tragen.“

Eingespannt zwischen Autonomie und Angewiesenheit, zwischen Eigenverantwortung und Vertrauen, lernen wir von denen, die Krisen durchgestanden haben und die ihre Endlichkeit vor Augen haben. Wir lernen in der Nähe des Todes, wenn Freund Hein mit uns am Sterbebett sitzt: Dass jeder von uns Zugehörigkeit braucht, dass jede zu geben hat – vielleicht gerade am Ende. Dass unser Körper keine Statue ist, die wir modellieren, skulpturieren, optimieren, sondern vergänglich wie alles Leben. Ariadne von Schirach, die mit ihrem Buch „Du sollst nicht funktionieren“ zu einer neuen Lebenskunst ermutigen will, schreibt: „Unsere Gesellschaft toleriert keine Schwäche mehr. Wenn der Wert der Natur ihr Ertrag ist und der Wert des Tieres seine Tauglichkeit als Futter, Lastenträger oder Attraktion, dann ist der Wert des Menschen seine Arbeitskraft und seine Fähigkeit, ein gutes Bild abzugeben. Doch die Würde des Menschen liegt jenseits solcher Zwecke. Eine Zeit, die den Wert eines Menschen mit seiner Leistungskraft gleichsetzt, ist eine würdelose Zeit. Sie diskriminiert diejenigen, die zur Verwertung entweder noch nicht oder nicht mehr tauglich sind – und damit irgendwann uns alle. Das Beharren auf die kategoriale Nutzlosigkeit des Menschen, verbunden mit dem Gebot, genau diese zu lieben und zu beschützen, ist die Grundlage für alle Beziehungen, die das Reich des Widerwärtigen zu verlassen vermögen.“[7] Sie ist die Grundlage der Solidarität.

Tatsächlich stehen wir heute an einem Punkt, an dem für das Ende des Lebens ähnliche Überlegungen der Planbarkeit und Machbarkeit greifen wie seit fünfzig Jahren für den Anfang – zunächst mit der Pille und dann mit Pränataldiagnostik und Fruchtbarkeitsbehandlungen. Dabei geht es um mehr als um den Umgang mit Medikamenten und technischen Geräten oder Sterbeverfügungen. In einem Gesundheitssystem, das inzwischen durch Wettbewerb am Markt, durch Kennzahlen und DRGs gesteuert wird, gerät mit wachsenden medizinischen Möglichkeiten auch das Sterben in den Sog standardisierter Versicherungsleistungen – bis hin zur vorgesehenen durchschnittlichen Sterbezeit. Die Sorge, dass der Umgang mit dem Sterben unter einen ähnlichen Druck gerät wie der mit Schwangerschaften bei immer differenzierter Diagnostik, ist deshalb nicht von der Hand zu weisen.

Ich möchte deshalb gern noch einmal zu denen zurückkommen, die die die Sterbeprozesse professionell begleiten, zu den Ärzten und Ärztinnen und den Pflegenden. In einer Zeit, in der Einrichtungen wie Personal zunehmend unter Effektivitätskriterien gesteuert werden, fehlt es oft an Zeit, den Weg eines Menschen wirklich mitzugehen und ihn bis zum Ende zu begleiten. Ärzte und besonders Pflegende leiden darunter, weil es genau das wäre, worin sie den Sinn in ihrer Arbeit erfahren. Wo keine wirkliche Begleitung mehr möglich ist, fehlt die Resonanz, die Menschen in sozialen Berufen spüren lässt, dass sie gebraucht werden. Kein Wunder, dass manche ihre Berufung in der Hospizarbeit wiederfinden. Nicht zufällig ist der Bestseller „Fünf Dinge, die Sterbende am meisten bedauern“ das Buch einer Krankenschwester.[8] Gut, dass auf Palliativstationen und in Hospizen mehr Zeit ist, Beziehungen aufzubauen und Resonanz zu erfahren; umso schmerzlicher, dass diese Zeit in einer Lungenklinik oder einer Altenhilfeeinrichtung noch immer fehlt.

 

8. Alte und neue Familien – vom Gemeinde, Nachbarschaft und Quartier

In ihrem Buch „Jeder Tag ist kostbar“ beschreibt auch Daniela Tausch-Flammer, wie die Begegnung mit dem Sterben ihrer Mutter sie verändert hat. „Ich war vorher jemand, der mit viel Angst im Leben stand. Angst vor der Dunkelheit. Angst, keinen Beruf zu bekommen. Angst keinen Ort zum Leben zu finden. Angst vor Begegnung. … Durch die Lupe des Todes weitete sich der Angstring, … hielt mich nicht länger gefangen. Durch das Bewusstwerden der Endlichkeit öffnete sich eine Tür zur Spiritualität. In mir wuchs das Vertrauen: Das, was dir passiert, wird stimmen. Ich begann zu vertrauen, dass ich in meinem Leben geführt werde, von Gott begleitet bin. … Dass angesichts des Todes vor allem die Momente zählen, in denen ich gewagt habe, mich offen zu zeigen.“

Diese Erfahrung motivierte Daniela Tausch-Flammer zur Hospizarbeit. Sie fand ihre Lebensaufgabe. Bei aller Trauer gilt eben auch: Der Umgang mit dem Sterben vitalisiert, die ehrliche Auseinandersetzung, die Erfahrung der Versöhnung und die Überwindung von Angst setzen neue Kräfte frei. Es waren und sind ja oft die Angehörigen, die zivilgesellschaftliche Bewegungen in Gang bringen und damit letztlich für einen Mentalitätswandel sorgen. Das gilt für die Hospizbewegung genauso wie für die Inklusionsbewegung und vorher schon für den Kampf der Mütter, auf der Kinderstation übernachten und ihre Kinder unterstützen zu können. Was da in den 1970er Jahren mit dem Care-Thema und der „neuen Mütterlichkeit“ begann, findet heute im Mehrgenerationenwohnen eine Fortsetzung – aber noch immer gilt es dafür zu kämpfen, dass Angehörige eben auch in Einrichtungen ihren Platz finden.

 

Um einen solchen Mentalitätswandel geht es auch bei der Neuentdeckung der Quartiere. „Ich will alt werden und sterben, wo ich gelebt habe“ – der eingängige Satz des Sozialpsychiaters Klaus Dörner steht paradigmatisch für diese Bewegung. Es geht darum, das eigene Leben zu gestalten. Und damit auch zu wählen, wie und wo wir sterben – so wie wir das im Blick auf Wohnen und Arbeiten, Beziehungen und Lebensstil seit langem tun. Zugleich aber geht es um das Gefühl, in möglichst normale Zusammenhänge eingebettet zu sein – so wie in den 50ern in meinem Elternhaus oder bis in die 70er Jahre auf den Mehrgenerationenhöfen. Ältere, die auf Alltagshilfen angewiesen sind, oder Menschen mit Behinderung sollen nicht länger in besonderen Einrichtungen, sondern möglichst in der Nachbarschaft leben, Wohnquartiere sollen so gebaut werden, dass Rollatoren wie Kinderwagen über die Schwelle kommen. Häuser so barrierefrei sein, dass auch ein Rollstuhl oder ein Krankenbett Platz finden. Und natürlich sollen auch die notwendigen Dienstleistungen zu den Menschen kommen – und nicht länger umgekehrt. Die Quartiersbewegung will die Mauern durchlässig machen, die das Leben der Fitten und Leistungsstarken von dem der Hilfebedürftigen trennt. Dabei geht es um keinen geringeren Anspruch als den, die Bewegung der Institutionalisierung der Hilfe umzukehren – oder sollte ich sagen: sie weiter zu entwickeln in Richtung auf eine inklusive Gesellschaft, in der das Angewiesensein auf Dienste zum Alltag gehört. Mit einem Netzwerk unterschiedlicher Professionen, mit Ehrenamtlichen, Nachbarn und den Betroffenen als Auftraggeber. Dabei spielen die bislang privaten Erziehungs- und Pflegeleistungen, die früher familiären Unterstützungsleistungen bei Haushalt, Wäsche, Einkäufen eine zentrale Rolle – sie erfordern und ermöglichen Austausch und Kommunikation. Auch die ambulante Palliativpflege macht deutlich, worum es geht: Sie kann in gewisser Weise anknüpfen an jene Zeiten, in denen Hausärzte und Gemeindeschwestern die Familien in der Pflege unterstützten – jetzt allerdings in einem integrativen Versorgungssetting mit hochspezialisierten Diensten und Einrichtungen. Diese Bewegung kann sich auf das Evangelium berufen: denn die Heilungsgeschichten, die dort überliefert sind, sind allesamt Inklusionsgeschichten. Einsamkeit und Isolation werden aufgehoben – Menschen kehren in ihre Häuser zurück und feiern wieder gemeinsam mit anderen im Tempel Gottes.

Gleichwohl haben wir es eben nicht mehr mit den Golden Fifties zu tun. In vielen Familien fehlen die Rahmenbedingungen, um die notwendige Nähe in der Sterbebegleitung zu ermöglichen. Davon war eben schon die Rede. Was nutzt es, zu Hause zu sterben, wenn dieses zu Hause nichts weiter ist als eine Wohnung ohne Geschichte? Wenn ich die Nachbarn kaum kenne, wenn die Familie an vielen Orten zu Hause ist, die Unterstützung im Alltag fehlt? Ohne andere Rahmenbedingungen wird es sozialpolitisch nicht gelingen, den Traum vom Quartier wirklich zu stärken. Dazu gehört die Weiterentwicklung der Pflegezeit, weitere Verbesserungen für die Vereinbarkeit, steuerliche Vergünstigungen nicht nur über das Ehegattensplitting, wie es die EKD in ihrer Orientierungshilfe zur Familienpolitik dargestellt hat.[9] Letztlich geht es um einen Mentalitätswandel, der Care- und Fürsorgearbeit in gleicher Weise anerkennt wie Erwerbsarbeit. Und die Angewiesenheit genauso als konstitutiven Teil unseres Lebens begreift wie unsere Autonomie. Sterben zu begleiten und Menschen durch den Tod zu verlieren ist kein Randproblem – weder ist es ein Problem, noch findet es am Rande statt. Gleichwohl kann man noch immer diesen Eindruck gewinnen, wenn Beerdigungen möglichst so gelegt werden, dass sie berufliche Verpflichtungen nicht stören oder eine Trauer von mehr als 6 Monaten als Krankheit begriffen wird. Damit sich das ändert, damit wir mit den Sterbenden leben lernen, sind auch Angehörige auf Hilfe und auf Bündnispartner angewiesen. Sie brauchen den Austausch, das Vorbild, die Beratung.

Was können Kirchengemeinden, was kann Seelsorge tun, um nicht nur die Sterbenden, sondern auch die Angehörigen zu begleiten und zu stärken? Da geht es um Entlastung, damit Menschen Zeit mit ihren Angehörigen verbringen können. Es geht um einfühlsame Begleitung, um Versöhnungsprozesse und Wiederbegegnungen zu ermöglichen. Um Beratung in schwierigen Entscheidungssituationen – vorurteilsfrei und nah am Miteinander. Seelsorge, auch die Gemeindeseelsorge muss sich als integrativer Bestandteil hospizlicher Teams verstehen. Sie muss Menschen ermutigen, Entscheidungen in sozialer Verbundenheit zu fällen. Erwachsenenbildungseinrichtungen können Ehrenamtliche und Begleiter ausbilden und coachen. Gemeinden können den Angehörigen Mut machen zum Abschiednehmen, Trauern und Leben. Charlotte Link erzählt in „Sechs Jahre“ vom Besuch bei einem Pfarrer – einem Seelsorgegespräch, das bis zuletzt ein Geheimnis zwischen ihr und ihrer Schwester bleiben wird. Denn kirchlich im konventionellen Sinne ist sie nicht. In diesem Gespräch geht es darum, dass es nicht die Ärzte sind, die über unser Leben entscheiden, sondern dass es – in aller Unbegreiflichkeit – Gott selbst ist. Diese letzte Abhängigkeit gelte es zu akzeptieren. Friedrich Daniel Schleiermacher kam mir in den Sinn, als ich das las: Religion, sagt er, sei das Gefühl der „schlechthinnigen Abhängigkeit“. Für Charlotte Link wird diese Erkenntnis zu befreienden Wende; eine neue Kraft sei damit in ihr Leben getreten, die immer wieder einmal spürbar gewesen sei.

Was für ein Segen, wenn ein Gespräch eine solche Wirkung hat. Mir ist besonders wichtig, dass wir einander segnen, wenn wir loslassen müssen. Ich meine damit nicht nur das Gebet am Krankenbett oder den Segen des Pfarrers für Sterbende und Verstorbene. Ich meine – und möchte dabei bewusst beide Richtungen ansprechen, denn es geht um das ganze, die Generationen übergreifende, das größere Leben – ich meine also auch den Segen der Sterbenden für die, die bleiben. Die Bibel erzählt wie Abraham, Isaak und Jakob im Sterben ihre Kinder segnen – mit dem Segen, der durch die Generationen geht und doch jeden persönlich meint. Sich so gesegnet zu wissen, ist eine große Kraftquelle, wenn es darum geht, die Zukunft zu gestalten. Dabei kommt es nicht auf die alten Worte an, nicht auf feste Formeln. Auch ein Lächeln kann ein Segen sein, eine kleine Blume, ein gutes Wort auf einer Postkarte, ein altes Schmuckstück als Geschenk. Mutters Ring, Vaters Uhr oder auch die Sammeltasse der alten Nachbarin: Was wir an Gutem auf dem Weg bekommen und weitergeben können, ist so vielfältig wie unser Leben. Und was, wenn der Sterbende das nicht mehr tun kann? Dann können die, die sich in den Prozessen zugehörig fühlen, diese Rolle übernehmen: Pflegende, Ehrenamtliche aus den Teams, Nachbarn, vielleicht auch Ärzte. So war es auch in den ersten Gemeinden, als Christinnen und Christen sich mit ihrer Taufe aus den Herkunftsfamilien gelöst hatten und nun in den Gemeinden eine neue Familiaritas fanden – Brüder und Schwestern eben. Schon Jesu Grab wurde von Josef von Arimathia gekauft. Und später begleiteten Diakoninnen und Diakone die Gemeindeglieder im Sterben bis hin zur Bestattung. „Sollte ein Schiff, das durch so viele Stürme gegangen ist, am Ende nicht gut in den Hafen segeln?“, hörte ich eine alte Nonne sagen. Und sollten nicht die, die dann wieder aufbrechen zur nächsten Fahrt, getröstet wissen, dass es diesen Hafen gibt, wenn ihnen die Stunde schlägt? Angehörige sind immer Beteiligte, selbst wenn sie von ferne zu sehen. Um auch selbst zu einem guten Ende zu kommen, sind sie – sind wir alle – auf Segen angewiesen.

 

Cornelia Coenen-Marx, Bad Herrenalb 25.6.2015

[1] Die Reportage findet sich in der Zeitschrift GEO-Wissen, Heft 52, 11/2013.
[2] Hans Bartosch, Cornelia Coenen-Marx u.a.: “Leben ist kostbar” – Über den Palliative Care und Ethik-Prozess in der Kaiserswerther Diakonie, 2004
[3] Andreas Heller, Reimer Gronemeyer, In Ruhe sterben, 2014
[4] Landesausstellung „Hilfe“ 2015 des Landes Oberösterreich in Haus Bethanien in Gallneukirchen.
[5] FAZ, 24.6.2015
[6] „Kirche aller“, Ökumenischer Rat der Kirchen 2003
[7] Ariadne von Schirach, Du sollst nicht funktionieren. Für eine neue Lebenskunst, 2014, S. 75.
[8] Bronnie Ware, Fünf Dinge, die Sterbende am meisten bedauern, 2013.
[9][9] „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ – Familie als verlässliche Gemeinschaft gestalten, Gütersloh 2013