Zwischen Autonomie und Angewiesenheit

Zur Kontroverse um die Orientierungshilfe der EKD

 

1. Was für eine Debatte: heftig, focussiert und nachhaltig

Anders als die misslungene Familienschrift, seien die Thesen zur Bedeutung der Reformation der EKD angemessen: gründlich und bei der eigenen Sache, konnte man dieser Tage in einem Kommentar von Reinhard Bingener in der FAZ lesen. Der Vergleich hat mich nachhaltig irritiert, weil es in meiner Perspektive um einen grundlegend anderen Texttypus ging. Gleichwohl zeigt er die Nachhaltigkeit und Heftigkeit der Debatte um die Orientierungshilfe, bei der die FAZ eine entscheidende Rolle gespielt hat.

„Sind Sie nicht überrascht über die Diskussion?“ wurde ich immer wieder gefragt. Doch, zunächst einmal war ich überrascht. Nicht nur über Ausmaß und Heftigkeit der Debatte, sondern auch und vor allem über ihren Focus. Denn der Rat der EKD hatte im Jahr 2008 eine ad-hoc-Kommission berufen, um kirchliche Handlungsempfehlungen für die aktuellen familienpolitischen Herausforderungen zu formulieren. Die Kommission unter Leitung der ehemaligen Familienministerin Dr. Christine Bergmann sollte sich mit der Spannung zwischen dem offensichtlichen Wunsch nach stabilen Ehen und Familien einerseits und der gesellschaftlichen Wirklichkeit mit einer hohen Scheidungsrate und einer große Zahl Alleinlebender und Alleinerziehender andererseits auseinander zu setzen. Die Zusammensetzung der Kommission – insgesamt 14 Mitglieder: Soziologinnen und Soziologen, Theologinnen und ein Theologe, Juristinnen – Menschen aus Politik und Kirche, Wissenschaft, Diakonie und Verbände- entsprach der anderer sozialpolitischen ad-hoc-Kommissionen und Kammern der EKD. Dass unter den 14 Personen in diesem Fall nur drei Männer waren, gab im Nachhinein Anlass zu Fragen. Tatsächlich spiegelt sich aber in der einzigartigen Dominanz von Frauen die Realität in diesem Arbeitsfeld.

Auf dem Hintergrund ihres Auftrags hat sich die ad-hoc-Kommission mit der soziologischen Wirklichkeit, den familienpolitischen Paradigmen, der Geschichte und Rechtslage beschäftigt, hat Herausforderungen und Brennpunkte der Familienpolitik benannt und schließlich politische wie auch praktisch-theologische Empfehlungen gegeben. Dabei ist die „Orientierungshilfe“ in die Reihe der gesellschaftspolitischen Schriften der EKD einzuordnen- wie „Gerechte Teilhabe“, die „ Unternehmerdenkschrift“, oder die Orientierungshilfen zum demographischen Wandel- oder zur Gesundheitspolitik. Jeder dieser Texte hat auch ein theologisches Kapitel, die eine spezifische, kirchlich-theologische Perspektive in die Fachdebatte einbringt- und jedes hat auch ein Schlusskapitel, das die Empfehlungen auf die konkrete kirchlich-diakonische Arbeit bezieht. Gleichwohl sind die Begrifflichkeiten von den Fachwissenschaften geprägt – in diesem Fall also: Autonomie und Angewiesenheit, nicht Freiheit und Bindung. Es geht nicht um differenzierte innertheologische Auseinandersetzung mit Schrift und Tradition ( auch wenn auf beides Bezug genommen wird ), die Texte sind auch nicht als Grundsatz- oder „Katechismustexte“ oder als Seelsorge für die Gemeinde zu lesen, sie sind das Ergebnis einer interprofessionellen Debatte von Christinnen und Christen mit ganz verschiedenen Funktionen in Kirche und Öffentlichkeit richten sich an die Verantwortlichen in einem bestimmten Arbeitsfeld von der Ebene der Politik bis zu der vor Ort..

Nun ist es nicht das erste Mal, dass die Debatte um eine EKD-Schrift so heftig geführt wird. Auch in der Auseinandersetzung mit der „Unternehmerdenkschrift“ von 2008 gab es ähnlich grundsätzliche Kritik, wenn auch aus einem anderen politischen „Lager“ – die Schrift galt als neoliberal. Auch damals wurde beklagt, dass der theologische Teil zu „dünn“ sei, es gab Unterschriftenaktionen und Erklärungen mit dem Ziel der Rücknahme des Textes, wenige Monate später erschien eine Gegenschrift, bei der dann folgenden EKD-Synode wurde demonstriert. Interessanterweise ist diese Diskussion aber weder in den Medien noch in der Kirchenkonferenz wirklich wahrgenommen worden; und ich habe mich lange gefragt, warum das beim Thema Familie anders ist:

Zwei Antworten darauf habe ich gefunden: zum einen rührt das Thema „Unternehmen und Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft“ anders als das Thema „Familie“ nicht ans Selbstverständnis kirchlichen Handelns. Hier zeigt sich noch immer eine deutliche Spaltung zwischen der Welt von Wirtschaft und Arbeit mit ihrer ökonomisch-politischen Ausrichtung auf der einen Seite und der Welt von Kirche und Familie mit ihrer Orientierung an Nächstenliebe auf der anderen. Geld oder Liebe – Politik oder Religion – Außen und Innen – Männer- und Frauenwelt: Dass diese Dichotomie noch immer nicht überwunden ist, hätte ich mir zu Beginn meiner Berufstätigkeit nicht vorstellen können; und es ist auch deshalb problematisch, weil die so genannten „weichen“, die Fürsorge-Werte in Politik und Management den „harten“ ökonomischen immer noch nachgeordnet werden. Die Konsequenzen für Reproduktion und Wohlfahrt sind gravierend – und sich zunehmend auch ökonomisch aus. Wer in den letzten Wochen Spiegel, Stern oder Brigitte gelesen, wer Talkhows zum Thema „ Rente“ gesehen hat, der hat wahrgenommen, dass viele Frauen zwischen 40 und 50 sich als betrogene Generation verstehen – die Care-Arbeit, die sie wahrgenommen haben, Teilzeitarbeit und mangelnde Aufstiegschancen werden sich in einer geringen Rente spiegeln. Zugleich macht die Debatte um die Reform der Pflegeversicherung wie um die fehlenden Erzieherinnen noch einmal deutlich, wie gering auch die professionelle Care-Arbeit in Deutschland geschätzt wird- dass also weder die unentgeltliche Erziehungs- und Pflegearbeit in der Familie noch die professionelle Infrastruktur so ausgestattet sind, dass sie mit dem Anspruch an die Erwerbsarbeit beider Geschlechter vereinbar wären.

Zugleich allerdings, und das ist meine zweite Antwort, erfährt „ Familie“ als Lebensgemeinschaft im Wertesystem der Bürgerinnen und Bürger gerade eine enorme Aufwertung. Gerade weil die Erwerbswelt inzwischen für Frauen wie Männer zentral ist und gerade weil sie in einem starken Wandel begriffen ist und enorme Herausforderungen birgt, wird Familie zu einer Art Gegenwelt, auf die sehr viele Menschen große Erwartungen richten. Und dabei erhofft man sich die Unterstützung auch der Kirchen. Ganz im Gegensatz zu der Sehnsucht nach Familie und Gemeinschaft gehört aber die „Versingelung“ der westlichen Gesellschaften zu den Megatrends, die laut Time-Magazin unser Leben verändern. 28% aller US-Haushalte sind heute Single-Haushalte, verglichen mit 9% in den 50er Jahren ein enormer Anstieg. In Schweden sind es übrigens 47 Prozent, in Großbritannien 34, in Japan 31 Prozent – aber in Kenia nach wie vor nur 15, in Indien sogar nur 3 Prozent. Der Soziologieprofessor Eric Klinenberg kommt zu dem Ergebnis, dass Alleinleben der beste Weg ist, die modernen Werte einer individualistischen Gesellschaft zu leben: Freiheit, Selbstverwirklichung und Selbstkontrolle- eben Autonomie. Auch viele Paare kennen im übrigen Lebensphasen, in denen sie aus beruflichen Gründen über lange Zeit getrennt leben und die eigenen Spielräume neu ausloten. Immerhin jedes dritte Paar in den ersten Berufsjahren ist betroffen- und für viele ist das der selbstverständliche Preis für berufliche Mobilität und Karriere. Die jungen Frauen, die in Deutschland oder Polen von Ost mit der Arbeit von Ost nach West gezogen sind, die Familienväter, die montags bis freitags unterwegs sind, sie gehen den Märkten nach. Zurück bleiben die Alten und oft genug die Kinder.

Genau wie Unternehmen in schwankenden Märkten, müssen Menschen ihre Finanz- und Lebensplanung anpassen, wenn sie nicht mehr mit einer festen Arbeitsstelle oder einem festen Einkommen rechnen können – so beschreibt Markus Väth[1] die Zukunft von Arbeit und Gesellschaft. Auf den Prüfstand kommt dann alles, was Menschen bindet – und das geht über das Finanzielle hinaus. Ob es um Familienplanung, Haus, Karriere oder Wohnort geht: In Zukunft werden wir sehr bewusst über die Bestandteile unseres Lebens entscheiden müssen. Die Frage ist, so Väth, wo wir als Gesellschaft die Grenze zwischen Flexibilität und Selbstaufgabe ziehen. Wofür nimmt der einzelne die Verantwortung, wofür der Staat und was ist die Herausforderung für die Wirtschaft? Im Hamsterrad des Wettbewerbs, in dem viele sich verschleißen und ausbrennen, zerfällt der Lebenslauf in Projekte, angesichts der Mobilität schwindet die Möglichkeit, an einem Ort wirklich Wurzeln zu schlagen, Erfahrung wird durch Innovation entwertet und die schiere Zahl der Lebens- und Arbeitsbeziehungen bedroht die Dauer der Bindungen. Der Philosoph Hartmut Rosa beschreibt diese Prozesse als strukturelle Entfremdung und zeigt zugleich, wie sehr wir eben auf Erfahrungen und Beziehungen, auf Verortung angewiesen sind, um Resonanz zu erfahren.[2]. Das kann aber nur gelingen, wenn Politik und Wirtschaft Rahmenbedingungen schaffen, die diese Lebensform unterstützen. Insofern ist die Frage nach der Lebensform auch in einem freiheitlichen Staat eben nicht nur eine private Frage. Und die Frage, was wir meinen, wenn wir von Familie sprechen, ist eben gesellschaftspolitisch hoch relevant. Die mediale Debatte zwischen FAZ , Welt und anderen auf der einen und TAZ , Süddeutscher und vielen regionalen Blättern auf der anderen hat gezeigt, dass es dabei eben auch um ökonomische Fragen ging.

 

2. Zwischen Empirie, Entwicklungspfaden und Leitbildern- zur Arbeit der Kommission

Vielleicht gehört es zu den im Nachhinein nicht unproblematischen Rahmenbedingungen, dass diese politische wie die historische Rahmung familiärer Lebensformen für die Kommission ganz selbstverständlich war. In den ersten Sitzungen, in denen es darum ging, sich über den eigenen Auftrag zu verständigen, bestand schon bald Übereinstimmung, dass wir zunächst eine empirische Bestandsaufnahme brauchten, dass sodann klar werden und auch beschrieben werden sollte, welche Entwicklungspfade die Familienpolitik in Deutschland genommen hatte, welche Trends erkennbar sind und wo auf diesem Hintergrund heute die Brennpunkte liegen. Dabei wurde deutlich: Die Veränderungsprozesse und Herausforderungen, die Familien heute kennzeichnen, haben allesamt mit Modernisierungsprozessen zu tun- mit der überragenden Bedeutung von Bildung und Erwerbsarbeit in der Arbeitsgesellschaft, mit der Entwicklung von Autonomie, Individualität und Vielfalt und schließlich mit der wachsenden Ungleichheit und der Unterschätzung von Sorgearbeit. Vier will ich kurz heraus greifen:

Erstens: Die Zeit für Familiengründung ist knapp geworden: Lange Ausbildungszeiten und schwierige Berufseinstiege haben zur Folge, dass die Geburt von Kindern im Lebenslauf immer weiter hinausgeschoben wird: Das Durchschnittsalter der Erstgebärenden liegt gegenwärtig bei 29 Jahren (Ostdeutschland: 27 Jahre), 60% der Kinder werden von Müttern zwischen 26-35 geboren (Statistisches Bundesamt 2012: 9f.). Und – auch daran sei hier erinnert- ein nicht kleiner Teil der betroffenen Frauen leiden darunter, dass ihr Kinderwunsch sich nicht, wie geplant erfüllt, weil die Zeit knapp geworden ist, weil sie den richtigen Partner nicht gefunden haben. Reproduktionsmedizin spielt bei der Familienplanung eine immer größere Rolle. 100.000 Samenspenderkinder leben inzwischen in Deutschland.

Zweitens: Die Vielfalt des Familienlebens nimmt zu. Ein Drittel aller Kinder werden nichtehelich geboren. Das sind doppelt so viele, wie noch vor zwanzig Jahren .Hier besteht allerdings ein markanter deutsch-deutscher Unterschied: Im Westen sind es nämlich nur 27% der Kinder, im Osten 61%. Hochzeiten werden groß gefeiert. Aber die Ehe ist nicht mehr Voraussetzung, sondern Folge gemeinsamer Kinder. Dabei ist der Anteil alleinerziehender Familien (19 Prozent) deutlich angestiegen- auch hier zeigt sich allerdings ein großer Unterschied zwischen Ost und West. In Ostdeutschland machen verheiratete Familien nur noch knapp die Hälfte aus, während jede vierte Familie eine Ein-Eltern-Familie ist. Zwar sind noch 72 Prozent der Familien Ehepaare mit Kindern (BMFSFJ 2012: 22), aber Familien auf Ehebasis sind zunehmend Patchwork-Konstellationen. Das alles bedeutet: Familie ist nicht mehr die vielbeschworene „ Gemeinschaft des Blutes“, sie ist nicht einfach Schicksalsgemeinschaft, sondern mehr und mehr auf Entscheidungen füreinander gegründet. Die Soziologie spricht von Familie als „Herstellungsgemeinschaft“. Das bedeutet: Familie zu leben, braucht bewusste Arbeit an einer gemeinsamen Identität und Kultur und Zeit für vielfältige Kontakte – und eine gute finanzielle Basis. Auch in Brüchen Zusammenhalt zu leben ist eben leichter, wenn man das Ganze finanziell abfedern kann.

Der dritte Trend zeigt aber: die wächst gesellschaftliche und ökonomische Spreizung wächst- nicht nur deshalb, weil sich die sozialen Milieus in Deutschland in hohem Maße auseinander entwickeln. Auffällig ist die Polarisierung sozialer Lebenslagen zwischen Ein- und Zwei-Verdiener Haushalten, vor allem aber zwischen denen, die für Kinder sorgen und denen, die keine Kinder zu versorgen haben. Familienarbeit wird finanziell nur honoriert, wenn sie Ehe- oder Lebenspartnerschaft basiert ist. Auch deshalb sind Alleinerziehende, die kaum in Vollzeit arbeiten könne, überdurchschnittlich häufig von Einkommensarmut betroffen. :Mit einem Kind sind sie zu 46%, mit zwei und mehr Kindern sogar zu 62% armutsgefährdet. In Paarhaushalten liegt die Armutsrisikoquote dagegen je nach Kinderzahl zwischen 7 und 22 Prozent.

Und schließlich viertens: Die Zuordnung von Familienerziehung und öffentlicher Erziehung hat sich in Gesamtdeutschland verändert

Der Streit um Betreuungsgeld und Krippenplätze dreht sich nicht zuletzt um die Frage, was nötig ist, um die Chancen dieser Kinder zu verbessern. Aus der Geschichte der DDR bringt Deutschland nicht nur die selbstverständliche Erfahrung von Krippenerziehung und Ganztagsschulen mit, dazu gehört auch ein anderes Miteinander von Schule und Elternhaus und natürlich die Sorge vor staatlichen Eingriffen und Ideologisierung im Dienst von Staat und Wirtschaft. Tatsächlich steckt diese Erfahrung all den Ländern in Europa – von Spanien bis nach Rumänien- in den Knochen, die totalitäre Systeme erfahren haben. Doch findet sich auch in den USA eine andere Selbstverständlichkeit im Miteinander von Schule und Elternhaus.

 

3. Zur Rolle der Kirche im politischen Wertesystem

Die wechselseitige Einflussnahme von Politik, gesellschaftlichen Entwicklungen und Kirche als Institution ist gerade auf dem Feld von Ehe und Familie in Deutschland besonders groß ist. Mit ihren biblisch begründeten Leitbildern haben die Kirchen immer Einfluss genommen auf die Entwicklung von Eherecht und Familienleben. „Kinder, Küche, Kirche“ waren nie unpolitisch – im Gegenteil: in diesem Feld hat sich die Kirche deutlich positioniert – ob es um Elternrechte und Kindererziehung ging, oder auch um die Verhinderung der Erwerbstätigkeit von Frauen. Das familienpolitische Modell in Deutschland ist im Miteinander der beiden großen Kirchen ganz wesentlich von der christlichen Soziallehre geprägt. Und dieses Leitbild wirkt bis heute nach – von den Sozialsystemen bis zur Halbtagsschule. Die Mitglieder der Kommission waren sich schnell darüber einig, dass die Kirche, die bis heute für die Entwicklung und Gestaltung von Erziehung und Pflege in Deutschland wesentlich Verantwortung trägt, nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht hat , sich auch politisch über die Zukunft von Familien zu äußern. Dabei ist es unverzichtbar, den Blick über Deutschland hinaus auf Europa hin zu weiten. Denn es ist letztlich die europäische Rechtssitzung, die das Verhältnis von individueller Gleichstellung – zum Beispiel ehelicher und nichtehelicher Kinder oder homo- und heterosexueller Menschen – und dem Schutz der familiären Gemeinschaft auch in Deutschland verändert hat. Die jüngsten Auslegungen von Artikel 6 GG durch das Bundesverfassungsgericht, die- wie sich nun an den bei uns eingegangenen Briefen zeigt, manchen in den Gemeinden ein Dorn im Augen sind, geschahen im Spannungsfeld eines neuen Verständnisses von Artikel 1 und 3 auf dem Hintergrund der europäischen Anti-Diskriminierungsgesetzgebung.

In der Arbeit der Kommission ist mir bewusst geworden: Das westdeutsche Modell der Familienpolitik, das vielen nach wie vor selbstverständlich erscheint, setzt auf Subsidiarität: es geht in seinen Grundzügen noch immer von der traditionellen Familie als Erwerbs- und Fürsorgegemeinschaft aus – mit vollerwerbstätigem Familienvorstand und einer Hausfrau und Mutter, die für Erziehung und Pflege sorgt. Diese Gemeinschaft wird vom Staat gefördert und finanziell gestützt – durch Ehegattensplitting und Mitversicherung von Frauen und Kindern über die an der Erwerbstätigkeit angekoppelten sozialen Sicherungssysteme. Zugleich baute das Bildungssystem von Kindergärten bis Halbtagsschulen darauf, dass einer der Ehepartner, in der Regel die Frauen, allenfalls halbtags arbeitete. Dieses Modell steht in Europa familienpolitisch in der Mitte – zwischen hoher Frauenerwerbstätigkeit, Individualbesteuerung, staatlicher Fürsorge und Ganztagsschulen im staatlich-lutherischen Skandinavien oder im laizistisch-zentralistischen Frankreich einerseits und einer noch stärkeren Privatisierung von Familien und Fürsorgeleistungen im katholischen Italien oder Spanien auf der anderen Seite. Dabei zeigt sich: es gibt keinen Zusammenhang zwischen hoher Geburtenrate und geringer Frauenerwerbstätigkeit – im Gegenteil. Wo die Infrastrukturleistungen Erwerbstätigkeit ermöglichen, wie in Frankreich oder Skandinavien, ist die Geburtenrate hoch, wo sie fehlen, besonders niedrig.

Gleichwohl war unser westdeutscher Blick lange Zeit bestimmt von der Abgrenzung gegenüber der DDR. Die Gleichberechtigung in der Erwerbsarbeit, die sich die Frauenbewegung im Westen seit Ende der 60er Jahre auf die Fahnen geschrieben hatte, galt allerdings als eine der großen Errungenschaften der DDR. Sie wollte Frauen für den Arbeitsmarkt rekrutieren und zugleich den ‚Wille zum Kind’ stärken. Und tatsächlich lag die Frauenerwerbsbeteiligung im Osten 1989 bei fast 90% im Gegensatz zu 55% in Westdeutschland. Inzwischen liegt sie bei 70% in Gesamtdeutschland – gleichwohl ist die Erwerbsstundenzahl nicht gewachsen – der Normalfall ist die Teilzeit für Frauen. Kein Wunder, dass die Leitbilder der Familienpolitik im wieder vereinigten Deutschland von Anfang an strittig waren- und dass nun auch keinesfalls gewürdigt wird, wenn dieses EKD-Text zum ersten Mal eine sozialpolitische Entwicklung in beiden deutschen Staaten aufzeigt.

Dabei unterscheiden sich die politische und wirtschaftliche Zielsetzung in der heutigen Bundesrepublik kaum noch von der oben beschriebenen: angesichts der Reproduktionskrise und des demografischen Wandels geht es jetzt in ganz Deutschland um eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen und zugleich um die Steigerung der Geburtenrate. Und selbst die Bertelsmann-Stiftung lobt inzwischen ostdeutsche Ganztagsschulen und Lehrerausbildung. In der Debatte um unseren Text spüre ich eine große Skepsis gegenüber familienpolitischen Leitbildern, die ganz sicher damit zusammenhängt, dass wir in Deutschland schlechte Erfahrungen mit den Eingriffen totalitärer Systeme ins Private gemacht haben. Und die Vielfalt heutigen Familienlebens ist ja auch ein starkes Argument für die ganz persönliche Gestaltungsfreiheit dieses Lebensraums. Aber auch Wahlfreiheit braucht eine politische Rahmensetzung und Infrastruktur, die sie ermöglicht.

„Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“ – der Titel der EKD-Schrift ist also Programm. Es geht darum, Rahmenbedingungen zu schaffen, die Menschen ermöglichen, die Gemeinschaft zu leben, die sie leben wollen. Eine Studie des Instituts für Bevölkerungsforschung, die vor einem halben Jahr erschien, zeigt: 82% wünschen sich Kinder; und auch die Untersuchung des Wissenschaftszentrums Berlin, von Jutta Almendinger für die „Brigitte“ zeigt: sie wünschen sich nicht nur ein, sondern zwei Kinder. Der „Wille zum Kind“ ist also da – was aber den Mut sinken lässt, sind stärkende Strukturen und unterstützende Hilfen. Übrigens verstehen 88% der Befragten zwischen 20 und 39 Jahren auch schwule oder lesbische Lebensgemeinschaften mit Kindern als eine Form der Familie. Und fast genau so hoch, jeweils über 80%, ist die Zustimmung im Blick auf Patchwork-Familien und alleinerziehenden Müttern.

Wenn , wie es inzwischen für Hartz-IV-Empfänger gesetzlich geregelt ist, alle erwachsenen Erwerbstätigen – Frauen wie Männer, unabhängig von ihren familialen Verpflichtungen – dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen sollen, wenn auch das Unterhaltsrecht davon ausgeht, dass zwar die Kinder aus einer geschiedenen Ehe Unterhalt erhalten, deren Mütter oder Väter sich aber schnellstmöglich wieder selbst versorgen, wenn auch die jüngste „Brigitte-Studie“ von Jutta Allmendinger vom Wissenschaftszentrum zeigt, dass junge Frauen wie Männer es heute für selbstverständlich halten, ökonomisch unabhängig zu sein und Familie zu leben– dann haben wir es längst mit neuen Leitbildern bei alten familienpolitischen Realitäten zu tun. Dann brauchen Familien aber auch endlich Unterstützung bei Erziehung und Bildung, bei der Pflege und in Krisensituationen. Das bedeutet auch: die professionelle Sorgearbeit muss so finanziert werden, dass diese Berufe für Männer und Frauen attraktiv bleiben oder wieder werden. Die Funktionsfähigkeit unseres Sozialstaats beruht eben nicht nur auf den Leistungen der Sozialversicherung, die aus Erwerbsarbeit finanziert werden, sondern weit mehr auf der alltäglichen Haus- und Erziehungsarbeit, die in der Regel unsichtbar bleibt.

 

4. Zur Bedeutung von Angewiesenheit und Sorgearbeit- die übersehene Botschaft der Orientierungshilfe

Sorgearbeit ist Arbeit, die schon immer im Schatten stand, und zunehmend abgewertet wurde. Zunächst auf dem Hintergrund einer traditionellen Familienverfassung mit geschlechtshierarchischer Arbeitsteilung, dann durch die Dynamik einer berufsorientierten Emanzipationsbewegung, die die traditionelle Geschlechterhierarchie thematisierte und auflöste. Am Ende dieser Entwicklung steht eine ökonomisierte Erwerbs- und Konsumgesellschaft, in der nichts gilt, was nichts kostet. Haus- und Familienarbeit, Erziehung und Pflege brauchen deshalb eine neue gesellschaftliche Wertschätzung – und zwar jenseits der geschlechterspezifischen Arbeits- und Rollenteilung. Die Zeit, die Väter und Mütter, Töchter, Söhne und Partner mit Erziehungs- und Pflegeaufgaben verbringen muss mit beruflichem Einsatz vereinbar sein und sich auch in Steuer und Sozialversicherungsrecht niederschlagen – und das bedeutet: das traditionelle Modell des Ehegattensplittings und der Mitversicherungsleistungen muss so weiter entwickelt werden, dass es auch anderen Familienformen dient.

Die Orientierungshilfe „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit deutet die Situation von Familien auf dem Hintergrund moderner Vorstellungen von Autonomie, Gleichheit und Gerechtigkeit. Individualität und Vielfalt moderner Gesellschaften werden deshalb akzeptiert und nicht verworfen. Das ist aber nur die eine Seite des Spannungsfeldes, sozusagen der erste Teil, der für die Mitglieder der Kommission selbstverständlich war- in der Tat, vielleicht auch deshalb, weil die Frauen in der Mehrheit waren. Kritiker sagen, hier folge man nicht eigentlich theologischen Überzeugungen, sondern Traditionen der Aufklärung oder eben Gendertheorien, die alles für gestaltbar hielten und das Schicksal gegenüber dem Machsal abwerteten.

Dabei wird übersehen, dass die Orientierungshilfe sich in ihrem zweiten Teil durchaus kritisch zu den Schattenseiten der Moderne positioniert; sie macht nämlich zugleich deutlich, dass die wechselseitige Angewiesenheit aller in den Modernisierungsprozessen unterschätzt wurde – mit dem Ergebnis, dass die Ressourcen für Care-Arbeit schwinden. Und hier kamen nicht nur moderne Theorien der Care-Arbeit ins Spiel, sondern durchaus auch biblische Überlegungen: Dass Angewiesenheit für unser Menschsein konstitutiv ist, versucht das theologische Kapitel am Beispiel der Schöpfungserzählung wie des Segenshandeln Gottes in den Mittelpunkt zu rücken.

Leitlinie einer evangelisch ausgerichteten Förderung von Familien, Ehen und Lebenspartnerschaften muss die konsequente Stärkung aller fürsorglichen Beziehungen sein, heißt es am Ende konsequent im Text.. Wo Menschen auf Dauer und im Zusammenhang der Generationen Verantwortung füreinander übernehmen, sollten sie Unterstützung in Kirchengemeinden und diakonischen Einrichtungen finden – mit praktischen Hilfen, mit gottesdienstlichen, pädagogischen und diakonischen Angeboten. Die Form, in der Familie und Partnerschaft gelebt werden, darf dabei nicht entscheidend sein. Die Mitglieder der Kommission waren und sind überzeugt, dass beides zusammengehört: der Respekt vor der Freiheit wie die Stärkung fürsorglicher und gerechter Beziehungen. Dass beides in unserer Geschichte unvereinbar erschien, gehört zu den Dilemmata, aus denen wir Auswege suchen: Autonomie musste von Frauen erkämpft werden- viele der Rechte, die damit verbunden waren, blieben bis in die 70er Jahre Männersache. Für Angewiesenheit aber waren die Frauen zuständig, sie waren zur Liebe geboren. Die Verweigerung dieser Zuschreibungen – übrigens durch beide Geschlechter- kann ein produktiver Prozess sein.

Der Rat der EKD hat die Gedanken zu Fürsorge und Angewiesenheit, die der Text sehr stark macht, immer begrüßt und hervorgehoben. Genauso unstrittig war, dass die Kriterien, die eine gelungene Ehe ausmachen, auch auf andere Lebensformen Anwendung finden sollten. Strittig scheint mir bis heute, wie wichtig dabei die Vorstellung eines Leitbildes der Ehe als des traditionellen Modells für uns als Kirche ist. Die Präsentationen meiner Vorredner haben schon gezeigt, dass dabei die unterschiedlichen Perspektiven und Verortungen auch zu unterschiedlichen Auslegungen des Auftrags wie des Textes geführt haben. Für die Ad-hoc-Kommission war dabei die Akzeptanz unterschiedlicher Formen bei gleichen Kriterien und die Freiheit des Menschen, die Gestaltung seines Lebens zu wählen, unverzichtbarer Bestandteil der Arbeit. Sie hat deshalb im Sommer 2011 dem Rat vorgeschlagen, dem Text die Überschrift „ Ehe, Familien und Lebenspartnerschaften stärken“ zu geben. An dieser Stelle ist der Rat nicht mitgegangen und hat sich auf dem Hintergrund des familienpolitischen Auftrags entschieden, nur den Begriff Familie zu nutzen.

 

5. Und die Theologie?

Was ist Familie? Über Jahrhunderte zuerst eine Hausgemeinschaft, nicht einmal der Begriff „Familie“ hat eine Rolle gespielt. Und was ist Ehe? Über lange Zeit eine Rechtsbeziehung, zu der auch mehr als eine Frau gehören konnte. Die Zeit, in der Familien Eigentumsverhältnisse waren, ist noch nicht lange vorbei – und auch die Zeit der Geschlechterhierarchie nicht. Bis zu Beginn der 70er Jahre entschieden Männer als Haushaltsvorstand über die Erwerbstätigkeit ihrer Frauen. Erst in dieser Zeit gewannen Pastorinnen in der ev. Kirche die gleichen Rechte wie ihre Kollegen. Auch ich bin deshalb überzeugt, dass die unterschiedlichen Familienformen von heute – die so genannte klassische Familie, Patchworkfamilien, Alleinerziehende, Regenbogenfamilien – weit mehr gemeinsam haben als die traditionelle Familie mit den unterschiedlichen Formen in biblischen Zeiten, ja noch der Reformations- und Neuzeit. Was wir unter Familie verstehen, ist in einem dauernden Wandel begriffen – und der Kommission lag viel daran, deutlich zu machen, dass es viel zu kurz gegriffen wäre, diesen Wandel als Verfallsgeschichte zu verstehen.

Angesichts der Vielfalt biblischer Bilder und der historischen Bedingtheit des familiären Zusammenlebens entsprächen ein normatives Verständnis der Ehe als „Göttliche Stiftung“ und eine Herleitung der traditionellen Geschlechterrollen aus einer vermeintlichen „Schöpfungsordnung“ weder der Breite des biblischen Zeugnisses noch unserer Theologie, hat der Ratsvorsitzende deshalb bei der Pressekonferenz zur Orientierungshilfe. Die Schrift setze vielmehr das geschichtliche Gewordensein und den Wandel familiärer Leitbilder voraus. Dabei könne sie sich auch auf Martin Luther beziehen, der bei aller Hochschätzung als „göttlich Werk und Gebot“ die Ehe zum „weltlich Ding“ erklärt, das von den Partnern gestaltbar ist und gestaltet werden müsse – als generationenübergreifender Lebensraum mit Verlässlichkeit in Vielfalt, Verbindlichkeit in Verantwortung, Vertrauen und Vergebungsbereitschaft, Fürsorge und Beziehungsgerechtigkeit. Aus einem evangelischen Eheverständnis kann also deshalb eine neue Freiheit auch im Umgang mit gesellschaftlichen Veränderungen erwachsen – gleichwohl empfiehlt der Text einen verbindlichen institutionellen Rechtsrahmen, an dem zum Beispiel auch finanzielle Entlastungen andocken können, und nimmt dabei ausdrücklich auf die Ehe Bezug.

Dennoch blieben die theologischen Überlegungen des Ratsvorsitzenden von Anfang an nicht ohne Widerspruch:„Schöpfungsordnung“, „Scheidungsverbot“ und Ablehnung von „Homosexualität“ in der Bibel, bilden die „Ecksteine“ für die biblisch-theologische Kritik. In all diesen Fällen enthält die Orientierungshilfe implizit oder explizit eine andere „Einordnung“. Polarität wird eben nicht nur als Geschlechterpolarität verstanden, das Scheidungsverbot wird vor allem als Schutz der Schwächeren interpretiert, die biblische Ablehnung der Homosexualität wird darin begründet, dass ein, unserem heutigen vergleichbaren Konzept homosexueller Liebe auf Augenhöhe nicht existierte. Gleichwohl wird nicht erst heute das eigene, zeitbedingte Selbstverständnis in diese Texte „hineingelesen“, während irritierende Wahrnehmungen in biblischen Texten (gesegnete Vielehen, Rechtlosigkeit von Frauen und Kindern etc.) ausgeblendet werden. Der Versuch, die biblischen Texte einer solchen Überformung oder zeitlosen Ab-straktion zu entkleiden, um ihre befreiende Kraft wahrzunehmen, wird offenbar von vielen als „desorientierend“ erlebt.

Wer aber die Kirche vor allem als Normen- und Werteagentur versteht, nimmt die Breite gemeindlichen und diakonischen Handelns sowie die vielfältige Praxis in sozialen Projekten und Einrichtungen nicht wirklich zur Kenntnis. Gleichwohl wird die Zuständigkeit für lebensweltliche Themen seit langem an Verbände, insbesondere an die Diakonie „ausgelagert“ – oft gelingt es so, Konflikte zwischen Norm und Lebenswelt zu vermeiden. In der Konsequenz wurde das kirchlich so zentrale Handlungsfeld „Familie“ in den letzten Jahren nicht systematisch weiterentwickelt und unterliegt in Landeskirchen und Diakonischen Werken ganz unterschiedlichen Zuständigkeiten; eine produktive Zusammenarbeit zwischen Gemeinden und funktionalen Diensten fehlt. Dabei ist gerade in diesem Arbeitsfeld erkennbar, wie wichtig es wäre, dass Kirche und Diakonie, Orientierung und ein realistischer Blick auf die Wirklichkeit endlich zusammen kommen – und dass auch Gemeinden und Fachdienste auf Kirchenkreisebene mehr miteinander verknüpft werden.

Kirche lebt vom Miteinander in den Familien- gerade die jüngste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung hat gezeigt, wie wichtig Familie als religiöse Sozialisationsagentur, als Keimzelle gesellschaftlichen und nachbarschaftlichen Zusammenhalts, als Ort ethischen Lernens ist. Oft genug bilden Familien die Mitte und das Rückgrat der Gemeinden. Aber mehr als die Kirche Familien braucht, brauchen Familien die Kirche. Acht Aspekte will ich benennen; Familien brauchen

  • Eine Kirche, die offen ist für Rollenveränderungen – zwischen den Geschlechtern wie bei den Altersbildern. Und dabei geht es ans Eingemachte. Ehrenamt, Fürsorge und religiöse Sozialisation- das alles ist tangiert von den neuen Rollenbildern: Frauen- und Männergruppen, Ehrenamt und Altenarbeit in Kirche müssen sich so ändern, dass die Kompetenzen und Lebensschwerpunkte von Menschen, aber auch ihre Sehnsucht nach Gemeinschaft und Zuwendung und ihr Einsatz fürs Gemeinwesen ernst genommen werden.
  • Eine Kirche, die Hochzeiten feiert und Krisen ernst nimmt: Kirche ist nach wie vor der Ort, wo Taufen und Konfirmationen, Weihnachten gefeiert wird, wo Beerdigungen begangen werden. Mit solchen Festzeiten verknüpfen sich heute ganz neue Herausforderungen, Brüche ernst zu nehmen und Zusammenhalt zu gestalten. Kirche als Gemeinde kann diesen Herausforderungen nur gerecht werden, wenn sie mit Kirche als Diakonie zusammenarbeitet, Beratung ernst nimmt und Angebote an den Knoten- und Krisenpunkten des Lebens verknüpft.
  • Gemeinden, die mit der Trägerschaft von Tageseinrichtungen und Familienzentren punkten: Dabei geht es nicht nur um den quantitativen, sondern auch um den qualitativen Ausbau der Tageseinrichtungen für Kinder. Denn angesichts der Schwierigkeiten der in vielen Fällen finanzschwachen Kommunen, allein das quantitative Ausbauziel zu erreichen, droht die Verbesserung der Qualität der angebotenen Bildungs- und Betreuungsplätze zu kurz zu kommen. Gerade hier ist die Kirche gefragt – immerhin war sie die allererste Trägerin von Kindergärten – im 19. Jahrhundert, als Familien in der ersten Industrialisierungswelle überfordert waren. Nicht zuletzt geht es darum, in Familienbildungsstätten und Familienzentren die Elternarbeit zu stärken und auch auf religiöse Bildung und Wertekompetenz zu achten.
  • Eine Kirche, die bewusst Zeitpolitik betreibt: Dabei geht es einerseits um die Trägerschaft von Einrichtungen und deren Vereinbarkeit mit der Erwerbswelt – nicht nur im Blick auf Produktion und Dienstleistung, sondern auch im Blick auf die eigene diakonische Arbeit. Pflegekräfte in Krankenhäusern und Altenheimen z.B. könnten durchaus auf ein Kinderhotel angewiesen sein. Zum anderen geht es um die Zeiten der Angebote für Gottesdienste, Feste, Familienfrühstücke etc. Die Kirche muss hier wie bei der Gestaltung von Festen Akzente setzen, die auf die geringe Zeit von Familien Rücksicht nimmt und sie gestalten.
  • Eine Familiaritas aller Generationen: Wenn es um die Weitergabe von Glauben und Werten, Traditionen und Erfahrungen geht, brauchen Familie und Gesellschaft alle Generationen. Das gilt auch für plötzlichen Kinderbetreuungsengpässe oder finanziellen Notsituationen: ohne die private Solidarität der älteren Generation geriete die jüngere in Schwierigkeiten – und der private „Austausch“ von Leistungen entspricht dem sozialstaatlichen in den Sicherungssystemen durchaus. Die multilokale Mehrgenerationenfamilie funktioniert, aber sie stößt in einer mobilen Welt an Grenzen in Zeit und Raum. Die unmittelbaren, lokalen Netzwerke werden löchriger. Hier ist Kirche gefragt. Und wo die nächsten Verwandten fehlen, brauchen nicht nur junge Familien, sondern auch Familien mit pflegebedürftigen Angehörigen nachbarschaftliche Unterstützung für ihre belastende Situation. Hier kann Gemeinde mit dem Aufbau von Netzwerken viel zur Entlastung beitragen. Sie kann wieder mit Leihomas, Mentorinnen etc. Wahlfamilie werden, so wie sie es neutestamentlich war.
  • Eine gemeinwesenorientierte Kirche: Und nur die Pflege, auch die Hilfe bei familiären Krisen und Problemen wird der Diakonie zugeordnet – das gilt für soziale und ökonomische Notlagen, genauso wie für die Arbeit mit Alleinerziehenden oder Adoptivfamilien. Die damit verbundene Spaltung in die klassische Familie und „Defizitmodelle“ aller Art, verhindert den offenen Blick auf die Wirklichkeit in den Gemeinden, zu denen die Pendler-Paare genauso gehören wie Singles, die Familien mit behinderten Kindern und die Seniorenwohngemeinschaften genauso wie die Pflegefamilien, die Regenbogenfamilien und ambulante Wohngruppen der Einrichtungen für Menschen mit Behinderung. Jede Familie ist anders – und es geht darum, rund um Hochzeiten und Trennungen, Taufen und Konfirmationen, Umzüge, Krankheitserfahrungen oder diakonische Krisenintervention genau und sensibel hinzusehen, und Familien mit den passenden Angeboten anzusprechen. Das kann nur gelingen, wenn Kirchengemeinden und diakonische Einrichtungen sich noch stärker miteinander und mit der Zivilgesellschaft vernetzen.
  • Eine moderne Arbeitgeberin: Auch als Arbeitgeberin ist Kirche gefragt, wenn es darum geht, Familie zu unterstützen: Das betrifft die Tarifgestaltung in den Erziehungs- und Pflegeberufen, genauso wie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, es betrifft aber auch die Erwartung an Pfarrerinnen und Pfarrer. Pfarrhäuser bilden den Wandel ab: die wachsende Vielfalt von Familienformen hat in den letzten Jahrzehnten immer wieder zu Konflikten geführt – von der Berufstätigkeit der Pfarrfrauen bis zum Zusammenleben gleichgeschlechtlicher Partner und der bireligiösen Ehe einer Vikarin. Teilzeitbeschäftigungen und Pendelbeziehungen gibt es inzwischen auch im Pfarrhaus, auch hier wird um eine gute Vereinbarkeit von Beruf und Familie gerungen, genauso wie um einen angemessenen Umgang mit Scheidungen und die Frage, wie Familie als Wahlverwandtschaft gelebt werden kann. Diese Erfahrung kann auch ein Schatz sein, den die Kirche in die Gesellschaft einzubringen hat.
  • Familienkompetente und politisch wache Gemeinden: Aus all dem resultieren neue Anforderungen für alle, die Verantwortung in der Gemeinde übernehmen, die planen und gestalten. Sie sollten die Gegebenheiten und Veränderungen nicht nur sensibel wahrnehmen, sondern sie bei der Entwicklung von Angeboten gezielt berücksichtigen. Sie brauchen ein Bewusstsein für die engen Zeitspielräume von Familien, wenn es um Gottesdienstzeiten oder um Öffnungszeiten von Einrichtungen geht. Sie sollten sich einbringen in kommunale Netzwerke und Prozesse und mit anderen Trägern und Initiativen in der Zivilgesellschaft zusammen arbeiten. Sie sollten sich politisch einmischen, wenn es um Quartiersentwicklung und Verkehrssysteme, um Schwimmbäder und die Qualität von Einrichtungen geht. Kirchen haben die Möglichkeit der Mitarbeit von Jugendhilfeausschuss bis zum Sozialausschuss, von der Stadtplanung bis zu den neuen Netzwerken der Bürgerbeteiligung. Sie müssen sie nutzen.

 

6. Es gibt noch viel zu denken und zu tun- zu den Konsequenzen

Befreiung und Verwirrung, Irritation und neue Anfänge gehören zusammen – das gilt nicht nur in unseren persönlichen Erfahrungen, sondern auch in unserem Denken. Ich jedenfalls erlebe, dass in der Debatte Themen aufbrechen, die für die Kommission selbst keine Rolle gespielt haben oder nicht zum Auftrag gehörten: dass viel mehr Seelsorge und Gemeindepädagogik erwartet wird – persönliche Unterstützung für Menschen, die es schwer haben, Bindungen einzugehen und aufrecht zu erhalten, das hatten einige Ratsmitglieder schon auf dem Weg zur Veröffentlichung gespürt und artikuliert. Dass nicht nur die pastoralpsychologische, sondern auch die medizinische Seite im Text unterbelichtet ist- eben die Fragen von Sexualität, Generativität und Reproduktionsmedizin, hängt ebenfalls mit Auftrag und Zusammensetzung zusammen, bleibt aber ein Defizit. Das gilt vor allem, nachdem die Sexualdenkschrift nach der ersten Textfassung aufgeschoben wurde. Dass schließlich die Frage der Institution in einer Zeit zunehmender Individualisierung und Vertraglichkeit theologisch noch einmal reflektiert werden muss- das ist einer der Aufträge, den der Rat an die Kammer für Theologie gegeben hat-, war während der Debatten in der Kommission schon spürbar. Und dass schließlich die hermeneutischen Fragen und die Auseinandersetzungen mit den entscheidenden Texten von der Genesis bis zum Scheidungsverbot noch einmal auf die Tagesordnung kommen müssen, ist gut und richtig. Fragen wie die nach der Verpflichtunung, fruchtbar zu sein und Kinder zu zeugen, wie sie vor allem im evangelikalen Denken thematisiert werden, haben für die Kommission keine Rolle gespielt. Generativität, also die Weitergabe des Erbes und die Fürsorge für die kommende Generation, geht für die Kommission über die biologische Fragestellung hinaus.

Die Debatten, die wir nun führen, haben mich tatsächlich überrascht, aber sie haben mir auch geholfen zu verstehen, dass die Themen, die im Zentrum des Auftrags standen, unterschätzt werden. Das Care-Defizit, auf das wir zugehen, wird offenbar noch immer nicht wirklich wahrgenommen. Die familienpolitischen Herausforderungen vor denen wir stehen, werden noch immer als private und nicht als öffentliche begriffen. Deswegen neigen wir nach wie vor dazu, in diesem Bereich eher moralisch als sozialethisch zu denken. Auch deshalb geht es um Religion, um Normen und Werte – und eben nicht um Gesellschaftspolitik. Und die familienpolitischen oder auch die kirchlich-diakonischen Handlungsfelder im Text werden so gut wie nicht diskutiert.

Ebenso wenig wird gesehen, dass Diakonie und kirchliche Familienverbände das hier beschriebene erweiterte Familienbild seit langem vertreten. Hier wird die bekannte Spaltung zwischen verfasster Kirche und ihren Verbänden sichtbar, deren politische oder familienpolitische Äußerungen als nachgeordnet verstanden werden, obwohl die soziologisch-politische Expertise gerade hier vorhanden ist. Die Zuständigkeit für lebensweltliche Themen ist seit langem an Verbände, insbesondere an die Diakonie „ausgelagert“ – oft gelingt es so, Konflikte zwischen Norm und Lebenswelt zu vermeiden. In der Konsequenz aber wird das kirchlich so zentrale Handlungsfeld „Familie“ in den letzten Jahren nicht systematisch weiterentwickelt und eine produktive Zusammenarbeit zwischen Gemeinden und funktionalen Diensten fehlt.

Deshalb bleibt es so wichtig, darüber nachzudenken, wie Kirche für gelingendes Familienleben eintreten kann- in der Verbindung von Gemeinde und Diakonie, in nachbarschaftlichen Netzwerken, aber auch als Arbeitgeberin: Das betrifft die Tarifgestaltung in den Erziehungs- und Pflegeberufen, genauso wie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, es betrifft aber auch die Erwartung an Pfarrerinnen und Pfarrer. Pfarrhäuser bilden den Wandel ab: die wachsende Vielfalt von Familienformen hat in den letzten Jahrzehnten immer wieder zu Konflikten im Pfarrhaus geführt – und umgekehrt war es nicht zuletzt das Pfarrhaus, in dem die protestantische Vorstellung von Familie geboren wurde. Da trifft es sich gut, dass in diesem Jahr nicht nur eine Pfarrhausausstellung in Berlin zu sehen ist, sondern dass in diesem Jahr unter dem Thema Kirche und Politik auch die offenen Fragen aufgenommen werden können. Wir planen deshalb für den 4. Juli nach dem theologischen nun auch ein familienpolitisches Symposion in Berlin. Sie sind dazu herzlich eingeladen.

 

 

Cornelia Coenen-Marx, Nürnberg, 10.5.14

[1] Markus Väth, Cool down, Offenbach 2013

[2] Hartmut Rosa, Beschleunigung und Entfremdung, Berlin 2013