Lebenssatt – das Leben satt.

Vom guten Abschiednehmen im hohen Alter

1. Ich habe genug

Der bekannte Theater- und Opernregisseur Hans Neuenfels glaubt an die Zukunft der Oper als Kunstform. „Ich glaube, die Oper wird noch sehr lange leben. Vielleicht nicht gerade in der musiktheatermäßigen, kritischen Auseinandersetzung, wie es viele meiner Generation versucht haben, aber schon als genussvolles Unterhaltungsformat“, sagt der 77-jährige in einem Interview. Das Gespräch fand war kurz vor einer Premiere in der Staatsoper Unter den Linden statt. Was seine eigene Zukunft angeht, denkt er aber durchaus übers Aufhören nach.„Ich inszeniere im Sommer bei den Salzburger Festspielen „Pique Dame“ von Tschaikowsky und dann höre ich wahrscheinlich auf. Ich habe genug.“ „Ich habe genug“ – wer denkt dabei nicht an die bekannte Bachkantate. Da singt der Bass:

Ich habe genug, Ich habe den Heiland, das Hoffen der Frommen, auf meine begierigen Arme genommen; Ich habe genug.

Ich hab ihn erblickt, Mein Glaube hat Jesum ans Herze gedrückt; Nun wünsch ich noch heute mit Freuden von hinnen zu scheiden. Ich habe genug.

Die Uraufführung der Kantate fand übrigens in der Leipziger Nikolaikirche statt – und zwar am 2. Februar 1727, zu Maria Lichtmess. An Mariä Lichtmess, einem katholischen Fest, wird der Weg Marias in den Tempel gefeiert, der erste Gang nach der Geburt des Sohnes zum Fest der Beschneidung. Das Neue Testament erzählt, wie Maria und Josef ihren erstgeborenen Sohn in den Tempel bringen, um ihn beschneiden zu lassen – zwei Turteltauben erwerben sie als Opfergaben. Aber schon bevor der Priester die drei in Empfang nehmen kann, werden sie am Eingang von zwei alten Menschen empfangen, von Simeon und Hanna. Eine alte Frau, die keine eigenen Kinder hatte, und ein Prophet am Ende seines Lebens. Der nimmt den kleinen Jesus auf den Arm wie ein eigenes, lang erwartetes Kind – das Kind einer anderen Familie wird ihm zum Zeichen der Hoffnung. Ganz offenbar sieht er mit seinen alten Augen weiter in die Zukunft. „Jetzt also kann ich in Frieden gehen“, sagt er, „denn ich habe den Erlöser gesehen – mit meinen eigenen Augen.“ Simeon und Hanna sehen über ihre Zeit hinaus – und sind zugleich getragen von einer Sehnsucht, die lange vor ihrer Gegenwart begann. Diesen Traum sehen sie in einer Zukunft erfüllt, an der Sie nicht mehr teilhaben – und die doch von ihnen gesegnet sein will wie ein hilfebedürftiges Kind.

Es ist dieser Augenblick, den Johann Sebastian Bach in seiner Bass-Arie aufgenommen hat. Wir sehen das Kind in Simeons Armen, seinen segnenden Blick – es ist der Augenblick, in dem die Sehnsucht dem Ersehnten begegnet, der Augenblick der Erfüllung. „Ich hab ihn erblickt, mein Glaube hat Jesum ans Herze gedrückt; Nun wünsch ich noch heute mit Freuden von hinnen zu scheiden. Ich habe genug.“ Was soll auch noch kommen?

Wenn Sie einmal am Ende Ihres Lebens stehen – Was möchten Sie dann erreicht haben? Was steht auf Ihrer „Löffelliste“? „Haben Sie einen Wunsch, den Sie sich noch erfüllen müssen?“, hat auch Iris Radisch den Schriftsteller Andrej Bitow gefragt. „Ich möchte immer nur das nächste tun, das nächste von allem, was ich noch nicht getan habe. Ich möchte, dass es eine Fortsetzung gibt“, antwortet er. „Aber im Grunde denke ich, dem Wesentlichen kann man nichts hinzufügen. Das Wesentliche kann man nicht erreichen. Man kann darum herum schreiben, schöne Verse machen, guten Wein trinken, einen guten Stuhl bauen. Mehr schafft man nicht“, so Bitow. „Wenn Sie einmal am Ende Ihres Lebens stehen – Was möchten Sie dann erreicht haben?“ Was würde Simeon sagen? Vielleicht das: Man kann seiner Sehnsucht nachgehen, sich offen halten für das, was wirklich zählt. Und immer wieder genau hinsehen auf das, was kommt. Und man kann glauben, dass es Gott ist, der uns entgegenkommt.“ Eigentlich ist dann alles erreicht. Mehr brauchen wir nicht als diese Offenheit.

 

2. Die neue Geburt

Zu den beliebtesten Texten der letzten Jahre gehört Hermann Hesses Gedicht „Stufen.“ Wie jede Blüte welkt und jede Jugend dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe, blüht jede Weisheit auch und jede Tugend zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern…“ Der Text ist ein Aufruf, dem Ruf des Lebens zu folgen, Stufe für Stufe – einen Schritt ins offene zu tun, den anderen loszulassen. Das Bild das sich dabei einstellt, ist das einer Treppe, die immer weiter ins Offene, ja eigentlich ins Unendliche führt: „Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde uns neuen Räumen jung entgegensenden; des Lebens Ruf an uns wird niemals enden. Wohlan denn, Herz, nimmt Abschied und gesunde.“ Nicht Sterblichkeit, sondern „Gebürtlichkeit“, wie die Philosophin Hannah Arendt es nennt, ist das vorherrschende Gefühl in diesem Gedicht. Abschied ist immer auch Neubeginn. Und auch der Tod ist für eine neue Geburt, ein letztes Werden zu sich selbst.

Das neue Leben wächst schon in uns heran. Wenn es reif ist für diese Welt, kommt der Geburtsprozess in Gang. Dabei ist wichtig, dass das Kind mitmacht, auch wenn man nicht von einem bewussten Willensakt sprechen kann. Ganz ähnlich kann es am Ende des Lebens sein. Nicht, wenn ein Unglück Menschen mitten aus dem Leben reißt, wohl aber im Sterbeprozess am Ende eines langen Lebens. Wenn der Lebenswille erlischt, kann, nein sollte keiner mehr das Ende aufhalten. Sterben und geboren werden. Beides ist ein Übergang ins Ungewisse. Wie die Geburt kann auch der Durchgang ins neue Leben schmerzhaft sein. Im Unterschied zum Ungeborenen wissen wir das. Und das macht vielen Angst.

Die Theologin und Therapeutin Monika Renz leitet die Psychoonkologie in Sankt Gallen. Sie hat die Zeugnisse von Sterbenden aufgeschrieben, die sie selbst begleitet hat. Nach der Machtlosigkeit von Patienten gefragt, sagt sie: „Die wenigsten Menschen wissen, dass Ohnmacht nur so lange schlimm ist, bis ich loslassen und mich in gute Hände geben kann. Es gibt eine innere Schwelle, danach ist es schön, ein Fließen, ein Friede.“ Die erfahrene Sterbebegleiterin vergleicht Geburt und Todesnähe. Und sie sagt: Irgendwann muss man hindurch. Seelisch und körperlich. Das macht den Menschen in einer Weise glücklich, die ich im Leben nicht kenne“. Spüren, wenn der letzte Schritt ansteht – sich vorbereiten, bereit sein und dann loslassen können. Einfach, weil es genug ist. Und dann darauf hoffen, dass dieser Schritt kein Weg ins Nichts ist, sondern eine neue Geburt. Dass da auf der anderen Seite einer ist, der uns erwartet und in den Arm nimmt.

„Alt und lebenssatt“ – so bezeichnet die Bibel das Ideal vom Ende unseres irdischen Lebens. Im ersten Buch der Bibel – es geht um den Tod Abrahams – heißt es wörtlich: „Das ist die Zahl der Lebensjahre Abrahams: Hundertfünfundsiebzig Jahre wurde er alt, dann verschied er. Er starb in hohem Alter, betagt und lebenssatt, und wurde mit seinen Vorfahren vereint.“ 175 Jahre sind nun wirklich alt, aber interessanter ist doch das Wort lebenssatt. Auch das nimmt den Gedanken auf, dass es irgendwann genug sein kann. Der Alttestamentler Gerhard von Rad spricht von Todesreife. „Es gibt“, so schreibt er, „ein innerliches Damit-zu-Ende-kommen, einen Zustand der Sättigung, einen Punkt, an dem das von Gott Zugemessene ausgeschöpft ist. Dies ist dann der Augenblick der Todesreife.“

 

3. Sterblich sein

Aber das Ideal kann kaum noch gelebt werden. Im Zeitalter der Apparatemedizin ist das Sterben in Pflegeheimen oder im Krankenhaus für viele zum Schreckgespenst geworden – nach einer aktuellen Umfrage wünschen sich weniger als 10 Prozent einen Aufenthalt in einer stationären Einrichtung; dabei sterben 80 Prozent dort. Der hohe Anteil der Bürgerinnen und Bürger, die den assistierten Suizid befürworten, zeigt in aller Schärfe die Herausforderung. Viele von uns haben das Gefühl, dass dem Tod eine lange Phase der Ohnmacht vorausgeht: Die medizinische und technische Entwicklung hat dazu geführt, dass wir den Todeszeitpunkt nach hinten verschieben können. Zugleich ist die gesellschaftliche Toleranz für das liberale Ideal gewachsen: dass nämlich die Einzelnen den Zeitpunkt ihres Todes für sich selbst bestimmen sollen. So diskutieren wir darüber, ob nicht gerade diese Freiheit zu neuer Unfreiheit führen kann – dass nämlich Druck entsteht, aus dem Leben zu scheiden, bevor wir hilfe- und pflegebedürftig werden und damit der Gesellschaft Kosten ersparen. Und die belgische Statistik über die aktive Sterbehilfe zeigt zum einen wachsende Zahlen – so stieg die Zahl zwischen 2013 und 2014 um 27 Prozent-, sondern auch, dass die meisten Betroffenen zwischen 70 und 90 Jahre alt sind. Deswegen können wir über diese Rechtsfragen nicht sprechen ohne zugleich über die Pflegeentwicklung zu sprechen. Und darüber, was es bedeutet, neben den Chancen auch die Grenzen der Medizin zu akzeptieren.

Atul Gawande ist Facharzt für Chirurgie an einer Klinik in Boston. Vor seiner medizinischen Ausbildung an der Harvard Medical School studierte der Sohn zweier Ärzte Philosophie und Ethik. In seinem eindrucksvollen Buch „Sterblich sein“ geht es um die Grenzen der Medizin – und um die Notwendigkeit, Menschen zu begleiten, damit sie dem Unabänderlichen tapfer begegnen können. Ungewöhnlich offen spricht er darüber, was es bedeutet, alt zu werden, wie man mit Krankheiten und Gebrechen umgehen kann und was wir an unseren westlichen Gesundheitssystemen ändern müssen, um unser Leben würdevoll zu Ende zu bringen. Ein mutiges und weises Buch voll eigener Erfahrungen, das uns hilft, die Geschichte unseres Lebens gut zu Ende zu erzählen. Gawande erzählt vom Sterben seines Vaters, der selbst Mediziner war– und natürlich ist es nicht das Wissen, das uns unterscheidet – oder auch von der Klavierlehrerin seiner Tochter, die bis in die letzte Woche hinein unterrichtete und am Ende noch ein wunderbares Abschlusskonzert mit ihren Schülern veranstaltete. Am Beispiel eines seiner ersten Patienten erzählt er, was geschieht, wenn wir falsche Hoffnungen in eine Behandlung oder Operation setzen, weil wir uns wünschen, dass wir wieder so werden können wie früher, so kraftvoll und jung, so beweglich und gesund – und damit oft das Gegenteil erreichen. Wir treiben den Prozess des Sterbens nur schneller voran. Wir treiben uns selbst in Ohnmacht und Abhängigkeit hinein und nehmen uns die Chance, die letzte Lebenszeit zu gestalten.

In seinem Buch „Leben dürfen- leben müssen“ mit Argumenten gegen die Sterbehilfe erinnert Heinrich Bedford Strohm an die biblische Urgeschichte. Als Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, folgt die Vertreibung aus dem Paradies. Gott sagt: „Nun aber, dass der Mensch nur nicht ausstrecke seine Hand und breche auch vom Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich.“ „Die Weisheit, die in diesen Sätzen liegt, ist verblüffend“, schreibt der Bischof. „Wo der Mensch krampfhaft versucht, seine Endlichkeit zu überwinden, und dabei jedes Mittel anwendet, da verfehlt er das gelingende Leben, das Gott ihm zugedacht hat… Dass ewiges Leben eine Kategorie ist, die die Grenzen unseres Zeitverständnisses sprengt, hat seinen guten Sinn. Wer um dieses ewige Leben weiß, gewinnt die Basis dafür, die Endlichkeit unserer irdischen Existenz anzunehmen.“ Soweit Bedford-Strohm.

In den Begriffen „alt und lebenssatt“ schwingt beides mit: die Freude am Leben und an der Welt und die Akzeptanz für die Endlichkeit. Dankbarkeit und Loslassen können. Wenn Menschen in Patientenverfügungen festlegen, dass sie die moderne Medizin nur bis zu einer bestimmten Grenze in Anspruch nehmen wollen, dann bringen sie damit auch zum Ausdruck, dass sie die Endlichkeit des Lebens akzeptieren, das Sterben annehmen wollen. Ein kleines Beispiel dafür ist der Verzicht auf eine Magensonde. Dass Sterbende am Ende von sich aus aufs Essen und später auch aufs Trinken verzichten, das haben wir wahrscheinlich alle schon erlebt. Es ist gut, wenn Angehörige und Profis bereit sind, zu akzeptieren, dass sterbender ein Mensch wirklich lebenssatt ist und dass er Abschied nehmen will. Aber natürlich kann auch das Sterbefasten eine Suizidmethode sein: der Film „Sterbefasten, die Freiheit zum Tod“ über eine 57-jährige zeigt diesen Prozess in aller Klarheit. Hier geht es um eine Verweigerung, die Sehnsucht nach dem Tod, weil das Leben gerade nicht satt gemacht hat.

 

4. Vom Segen der Gemeinschaft

Wenn meine Eltern abends unterwegs waren, passte meine Urgroßtante auf mich auf. Sie saß dann mit ihren steifen Beinen – sie hatte Arthritis – auf einem kleinen Bänkchen und oder sang mir vor. Eines Abends Abend rutschte sie von diesem Bänkchen herunter und konnte sich nicht mehr allein aufrichten – und auch ich war zu klein und zu schwach, ihr zu helfen. So saß sie den gesamten Abend und sang das Choralbuch von vorn bis hinten durch – und ich genoss es. Zur ihren Lieblingsliedern gehörten „Ich bin durch die Welt gegangen“ und „Stern, auf den ich schaue“, beides sehr emotionale Glaubenslieder. In der letzten Strophe von „Stern, auf den ich schaue“ heißt es: „Drum, so will ich wallen, meinen Weg dahin, bis die Glocken schallen und daheim ich bin. Dann mit neuem Klingen rum ich froh Dir zu: nichts hab ich zu bringen – alles, Herr bist Du.“ Dieses Gottvertrauen, diese Gelassenheit haben mich lange über ihren Tod hinausgetragen und tragen noch.

Aber „die Hochbetagten, Dementen und Pflegebedürftigen sind von zunehmender Exklusion betroffen und brauchen Unterstützung, um auch weiterhin Teil der Gemeinschaft zu bleiben“, sagt Prof. Eckart Hammer aus dem Beirat des Projekts „Alter neu gestalten“: Und das stimmt. Dabei sollten wir uns allerdings für einen Augenblick klarmachen, dass von den 75-79-jährigen nur 7 Prozent von Demenz betroffen sind, von den 80-84-jährigen nur 15 Prozent und bei den 85-89jährigen 26 Prozent. Und auch Pflegebedürftigkeit gehört nicht notwendig zum Alter dazu.. Zwar steigt die Pflegebedürftigkeit mit dem Alter, aber die Mehrheit ist nicht davon betroffen. Bei den 70–75-jährigen sind es etwa 5 Prozent, bei den 75–80-jährigen 10 Prozent, bei den 80 bis 86-jährigen 20 Prozent und erst über 85 steigt der Prozentsatz auf 40 Prozent. Trotzdem haben die meisten älteren Menschen Angst, dass nicht gut für sie gesorgt sein wird, wenn sie allein nicht mehr zurechtkommen.

Tatsächlich leben mehr als 40 Prozent der 70- bis 85-jährigen allein – und nicht alle können auf tragfähige Freundschaften und Nachbarschaftsnetze zurückgreifen. Dahinter steht der gesellschaftliche Wandel, der mit dem demographischen einhergeht: Die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen, die wachsende berufliche Mobilität und geringere Kinderzahlen haben die familiären Netze fragiler gemacht. Die Wohnentfernung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern hat in den letzten Jahren ständig zugenommen. Nur noch ein Viertel der Befragten geben an, dass ihre erwachsenen Kinder noch am selben Ort wohnen und bei einem weiteren Viertel sind die Wohnungen mehr als zwei Stunden voneinander entfernt. Zwar haben die allermeisten Familien wöchentlich Kontakt zueinander – aber im Vergleich der letzten Jahre erhalten die über 70-jährigen immer seltener praktische Hilfe. Und die wachsende Zahl von Single– und kinderlosen Paarhaushalten lässt erwarten, dass der Bedarf an haushaltsnahen Dienstleistungen weiter steigt.

Wie können wir verhindern, dass Menschen nur deswegen in stationäre Einrichtungen ziehen, weil die Wohnung nicht barrierefrei ist oder die Versorgung zu Hause nicht gewährleistet. „Ein Zuhause ist der einzige Ort, wo die eigenen Prioritäten unbeschränkte Geltung haben“, schreibt Atul Gawande. „Zu Hause entscheidet man selbst, wie man seine Zeit verbringen will, wie man den zur Verfügung stehenden Platz aufteilt und wie man den eigenen Besitz verwaltet.“ Wenn wir wollen, dass wir im Alter möglichst lange in unserem Umfeld bleiben können, dann brauchen wir neben barrierearmen Wohnungen auch Pools von Haushaltshilfen und anderen Dienstleistern vom Einkauf bis zur Gartenarbeit. An dieser Stelle sind inzwischen mit dem Pflegestärkungsgesetz erste Schritte getan. Präventive Hausbesuche und eine gute Pflegeberatung gehören ebenfalls dazu.

Vor 25 Jahren hat Klaus Dörner mit seinem Wusch „Ich will leben und sterben, wo ich dazu gehöre“ viel angestoßen: Seitdem haben sich die Einrichtungen der Altenhilfe differenziert; mit betreutem Wohnen und Kurzzeitpflege, ambulanter Pflege und hauswirtschaftlichen Hilfen, aber auch mit Cafés und vielfältigen Kooperationen im Quartier. Das Café im Altenzentrum, der Treff im Dorfladen kann ein wichtiger Bezugspunkt für Alleinlebende sein. Wichtig ist: der Treffpunkt muss fußläufig sein. Bei den über 70-jährigen ist der Anteil der Frauen, die den Führerschein besitzen, noch immer nicht so hoch wie in jüngeren Altersgruppen. 3,1 Mio. Männer, 2,3 Mio. Frauen zwischen 70 und 79 haben eine Fahrerlaubnis. Sie sind schnell in ihrem Bewegungsradius eingeschränkt, wenn der Auto fahrende Partner pflegebedürftig wird oder stirbt. So gewinnt der Nahbereich zunehmende Bedeutung. Stadtplanung, Architekturbüros und Wohnungsbaugesellschaften machen deshalb immer öfter ernst damit, dass gemischte Wohnquartiere entstehen, in denen Rollatoren wie Kinderwagen über die Schwelle kommen. Und auch ganz neue Wohnmodelle werden erprobt, Seniorenwohngemeinschaften, die vielleicht an studentische Erfahrungen erinnern, aber auch Mehrgenerationenhäuser.

Die Idee dahinter: starke Nachbarschaften, in denen man einander unterhalb der Schwelle professioneller und bezahlter Dienstleistungen wechselseitig hilft. In diesen Nachbarschafts- und Quartiersprojekten, bei den Mittagstischen und in den Dorfläden ist die Idee der Sorgenden Gemeinschaften populär geworden. In unserer Gesellschaft, die stark geprägt ist vom Wunsch nach Selbstbestimmung und Selbstoptierung, geht es um ein Gegengewicht: um wechselseitige Unterstützung und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen – für sich selbst, für andere und auch für die gesellschaftliche Entwicklung. Im letzten Freiwilligensurvey wurde zum ersten Mal die informelle, außerfamiliale Unterstützung in Freundschaft und Nachbarschaft abgefragt. Es ging dabei nicht um gering bezahlte „Jobs“ in der Pflege. Dabei zeigte sich: immerhin 25 Prozent helfen Nachbarn bei Einkäufen, Handwerksdiensten bis Kinderbetreuung – und es sind, bis auf die Unterstützung Pflegebedürftiger, mehr Männer als Frauen und eher Jüngere als Ältere. Dabei zeigt sich: Die wechselseitigen Unterstützungsleistungen verbessern das Miteinander in der Nachbarschaft und damit die Lebensqualität aller Beteiligten.

Ich erinnere mich an die Feierabendhäuser der Diakonissen in Kaiserswerth. Das Konzept glich einer offenen Wohngemeinschaft mit der Möglichkeit, sich selbst zu versorgen und ambulante Pflege zu bekommen. Es war schön zu sehen, wie viele Jüngere aus der Gemeinschaft sich dort Rat und Unterstützung holten. „Wenn ich selbst nicht zum Einkaufen komme“, sagte letztes Jahr eine jüngere, berufstätige Schwester „dann kaufen meine Feierabendschwestern für mich ein.“ Am Leben der Jüngeren Anteil zu nehmen, ist für die allermeisten alten und auch sehr alten Menschen ein zentraler Lebensinhalt. Die Hochaltrigenstudie der Universität Heidelberg von 2013 zeigt: 76 Prozent der befragten 80- bis 99-jährigen empfinden Freude und Erfüllung in emotional tieferen Begegnungen mit anderen Menschen, 61 Prozent im Engagement für andere Menschen und 60 Prozent haben das Bedürfnis, – vor allem von den jüngeren Generationen – auch weiterhin gebraucht und geachtet zu werden. In ihrem Buch Vita Aktiva betont Hannah Arendt, wie wichtig es für jeden Menschen ist, sich mit anderen auszutauschen und am Leben teilzuhaben. Das gilt natürlich auch für hochaltrige, pflegebedürftige und demenzkranke Menschen.

Besonders auffällig ist folgendes: Bei mehr als Dreivierteln der Heidelberger Befragten zwischen 80 und 99 steht die Todesnähe nicht im Vordergrund. Es ist auch nicht unbedingt die Pflegesituation – es ist das Gefühl, isoliert zu sein vom Leben, abhängig und dabei allein, das vielen Menschen so große Angst macht. 85 Prozent der Befragten beschäftigen sich intensiv mit den Lebenswegen der nachfolgenden Generation – der Enkel und Urenkel. Der ehemalige Chefredakteur von Psychologie heute, Heiko Ernst, spricht in diesem Zusammenhang von Generativität. Dabei geht es nicht nur um die eigenen Kinder – es geht wie bei Simeon und Hannah um die Zukunft der nächsten Generationen, die Zukunft unserer Städte und Dörfer, das Leben der Natur. „Generativität“, sagt Heiko Ernst, „ist unser Zukunftssinn. Wir richten das Denken über die eigene Existenz hinaus. Generativität ist die Fähigkeit, von sich selbst abzusehen, für andere da zu sein, sein Wissen und seine Erfahrungen weiter zu geben.“

Die Bibel spricht in diesem Zusammenhang vom Segen. Abraham, von dem es heißt, er sei alt und lebenssatt gestorben, hat sein Leben als gesegnet erlebt. „Du sollst ein Segen sein“ – das war die Zusage, die ihn noch im Alter zum Aufbruch ins gelobte Land ermutigt hatte. Zahlreich wie die Sterne am Himmel würden seine Nachkommen sein, versprach Gott dem kinderlosen Abraham. Er ermutigt ihn, von einer Zukunft zu träumen, die noch gar nicht sichtbar ist. Dass Abram und Sara diesem Ruf des Lebens folgen, das macht sie zum inspirierenden Vorbild der Glaubenden, zu den Stammeltern von Juden, Christen und Muslimen. Und immer da, wo Väter und Mütter, wo die Alten den Jungen etwas von diesem Segen weitergeben, da öffnen sie ihnen Zukunft – so wie meine Tante Hulda mir. Es gibt so viele Möglichkeiten das zu tun: mit der eigenen Lebensgeschichte, mit einem Erbstück, mit einem Brief, den die Enkel oder Urenkel vielleicht erst in Zukunft lesen, aber auch mit einer Geste, einem Blick. Genauso wichtig ist aber, dass da Menschen sind, die den Segen annehmen und nach dem Fragen, was die Alten zu geben haben: Eine Gemeinschaft, ein Netzwerk, das bis hinein in die Pflegeeinrichtungen trägt.

 

5. Winterarbeit: Vergeben und Versöhnen

„Haben Sie schon einmal geträumt, sie müssten sterben, und was ist Ihnen dabei eingefallen“, heißt es in Max Frischs berühmten Fragebogen. „Was Sie hinterlassen? Die Weltlage? Eine Landschaft? Dass alles eitel war? Was ohne Sie nie zustande gekommen wäre? Die Unordnung in den Schubladen?“

Vielleicht kennen Sie diesen Fragebogen aus Frischs Tagebüchern – zu Freundschaft und Liebe, zum Geld und zum Tod. Wer ihn schon öfter gelesen hat, hat vielleicht entdeckt, wie sich die eigenen Antworten im Laufe des Lebens verändern. So wie sich die eigene „Löffelliste“ verändert- die Liste auf der Menschen notieren, was sie vor dem Tod noch sehen, erleben oder erreichen wollen, die „ Bucket-List“ der beiden alten Männer aus dem Film „ Das Beste kommt noch“: Klavierspielen lernen, nach Indien reisen, Versöhnung suchen: Manches stellt sich als unwichtig heraus – anderes wird immer drängender. Mit den Jahren verschieben sich auch die Prioritäten – es trennt sich die Spreu vom Weizen.

„Im Alter erzählt man sich sein Leben neu“, sagt die Autorin Ruth Klüger – „ich beurteile die Menschen anders, als ich sie vorher beurteilt habe. Das Alter gibt die Chance, auf das Ganze zu sehen, offener zu werden und großzügiger. Ich muss keine Angst um mein Ego mehr haben – ich kann einen Schritt zurücktreten und mich freuen, an dem was wird und geworden ist. Durch mich und auch durch andere“. Es geht um Integrität – für E. Erikson die entscheidende Herausforderung des Alterns. Um „die Bereitschaft, seinen einen und einmaligen Lebenszyklus zu akzeptieren und ebenso die Menschen, die für ihn bedeutsam geworden sind.“

„Winterarbeit“ nannte Kurt Rose, ein inzwischen verstorbener Freund, sein letztes Buch. Der Dichter vieler Kirchentagslieder, dessen Texte sogar im evangelischen Gesangbuch abgedruckt wurden, erinnerte sich in den letzten Jahren seines Lebens an die Auszeit, die er nach dem Krieg genommen hatte. Auf der Suche nach Orientierung lebte er damals mit seiner jungen Frau ein ganzes Jahr an einem finnischen See. In einer Holzhütte ohne Strom und Licht aber mit einem Kamin. In Einfachheit und Einsamkeit wollten die beiden sich klarmachen, was ihnen wirklich wichtig war – so wie jetzt noch einmal, bei der „Winterarbeit. Wenn die Blätter fallen und die Äste kahl in den Himmel ragen, werden auch die Konturen deutlicher; wir sehen klarer. Was zeitbedingt war, tritt zurück, Strukturen werden erkennbar – und die wesentlichen Fragen werden noch einmal zeitlos und präzise gestellt. Wozu sind wir hier? Was ist das Leben wert? Worauf dürfen wir hoffen? Ein neuer, offener Raum entsteht, auch der innere Raum weitet sich – wir gewinnen „Durchblick“. Was war wichtig, worauf ist man stolz? Was ist einem nicht gelungen? Was soll in Erinnerung bleiben? Was sollen die, die man zurücklässt, vom Leben verstehen?

Jetzt geht es darum, wahrzunehmen und zugleich hinter uns zu lassen, was uns an Vergangenheit oder Gegenwart „kleben“ lässt, und so zu innerer Ruhe und Freiheit zu finden. Es geht darum, dass wir von Barrieregefühlen frei werden, schreibt die Theologin Sabine Bobert – von Gefühlen wie Hass, Angst, Wut, Neid, Lähmung und Zweifel. Solche Gefühle entfremden uns voneinander und von uns selbst; sie schneiden uns von unserer Wesensmitte ab – und auch von der Gotteserfahrung. Im Alltagsstress unterdrücken wir sie oft – aber bei einer Krankheit oder im Urlaub, wenn plötzlich Zeit und Raum dafür ist, werden sie dann wach. Und im Alter können die alten Gespenster noch einmal richtig munter werden. Dann kann es helfen, noch einmal den Weg nach innen zu gehen und sich in Erinnerung zu rufen, woher die versteckte Wut und die Bitterkeit rühren, die uns noch immer blockieren. Die alten Gefühle „wollen uns keine Angst einjagen; vielmehr wollen sie endlich in Rente gehen“, schreibt Brigitte Hieronimus in ihrem Buch „Mut zum Lebenswandel“. Situationen und Menschen, die uns schwierige Erfahrungen in Erinnerung rufen, nennt sie „Entwicklungshelfer“, weil sie dazu beitragen, das Blockierte in uns wieder wahrzunehmen und uns auszusöhnen mit den Ecken und Kanten des eigenen Lebens.

Tatsächlich können wir uns bis ans Ende des Lebens entwickeln. Ja, die Zeit des Sterbens kann noch einmal ein ganz besonderer Entwicklungsschub auf das Neue hin sein – auf Liebe und Versöhnung. Dazu gehört aber auch, dass wir Versäumtes verabschieden und Verlorenes betrauern – Kinderlosigkeit oder der Verlust eines Lebenstraums sind eben nicht einfach „reparierbar“. Es hat bis in die 60er und 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts gedauert, bis klar war: Seelsorge und Psychotherapie haben auch im hohen Alter Sinn. Anfang der 80er Jahre hat James Fowler beschrieben, dass Menschen auch im Glauben Entwicklungsschritte durchlaufen – vom intuitiven und mythischen „Kinderglauben“ über die reflektierte Auseinandersetzung mit Religion bis hin zu einer universellen Perspektive, in der wir die bloße Identifikation mit den eigenen Traditionen überwinden und zu einer umfassenden Liebe, einem „grenzenlosen Vertrauen in den Sinn des Seins“ finden können.

Ein Lernprozess steht an, der uns helfen kann, Gottes verborgene Gegenwart wieder zu spüren. Sich aussöhnen, vergeben lernen, die Dinge nun noch einmal aus der Sicht unserer Widersacher zu sehen. „Es geht darum, zu reifen und zu vergeben“, sagt der Jesuit Piet von Bremen: „Vom Zustand des passiven Opfers ohne Kontrolle über die Gefühle hin zur Einsicht, dass wir selbst die Quelle unserer Gefühle sind. Vergebung ist die langsam wachsende Einsicht, dass wir den anderen Menschen nicht unter Kontrolle haben können.“ Ändern können wir nur uns selbst. Der Jesuit und Seelsorger weiß wohl, was für eine Herausforderung in dieser erneuten Konfrontation steckt – und ermutigt zugleich, über den eigenen Schatten zu springen, damit wir uns nicht endlos im Kreis drehen und die erlittene Kränkung beklagen. Dabei geht es vor allem um einen inneren Prozess – er hängt nicht davon ab, ob die Menschen, die uns verletzt haben, für uns erreichbar sind oder überhaupt noch leben. Und trotzdem wird es nicht gelingen, alles auszuräumen, was uns oder andere belastet – mancher Schmerz, mancher Ärger begleitet uns lebenslang wie ein alter Bruch, eine tiefe Narbe. Es genügt, zu akzeptieren, dass auch das zu uns gehört. Und damit Frieden zu machen.

In Seelsorge, Besuchsdienst und Hospizarbeit dürfen wir Menschen in diesem Prozess begleiten – hin zu der „Altersweisheit“, die die westlichen Gesellschaften lange aus dem Blick verloren hatten. In Personen wie Jörg Zink oder Marianne Mitscherlich begegnen wir ihr wieder. Stephane Hessel, der mit seinem Buch „Engagiert Euch“ einen Blick in die Zukunft eröffnete, konnte damit auch und gerade Jüngere inspirieren. Denn die unterschiedlichen Lebensalter haben Aufträge aneinander. Für Ältere geht es darum, das Generationenerbe weiter zu geben und die Zukunft offen zu halten – nicht nur individuell, sondern generativ. Jüngere können dafür sorgen, dass diese Erfahrungen gehört werden und Raum bekommen. Und dazu sind auch ganz praktische Schritte und Angebotsstrukturen nötig: Erzählcafés zum Beispiel, biographisches Schreiben oder Feste, bei denen das Leben der Älteren im Mittelpunkt steht. Es geht um mehr als um Besuchsdienste in Einrichtungen der Altenhilfe – es geht um Räume, in denen die Älteren zum Subjekt werden und geben können. Das kann ein Samstagnachmittag sein, an dem Konfirmanden und ihre Großeltern über ihre Konfirmationssprüche ins Gespräch kommen. Oder eine Erzählwerkstatt über Fluchterfahrungen oder auch über die Nachkriegsgeschichte des Ortes. Wer keinen Platz im Leben der anderen mehr hat, wer nicht mehr geben kann, der muss sich überflüssig fühlen – des Lebens überdrüssig. Kirchengemeinden und Diakonie haben viele Möglichkeiten, Strukturen zu schaffen, in denen Menschen sich austauschen – auf Augenhöhe im Geben und Nehmen. Im Mehrgenerationenhaus, in der Nachbarschaft, im Gemeindehaus oder Quartierskaffee oder auch im Appartement des Pflegeheims.

Jeder, der das letzte Kapitel des eigenen Lebens bewusst gestalten will, sollte die notwendige Unterstützung bekommen, um Beziehungen abzuschließen, das eigene Erbe zu regeln, mit Gottvertrauen ins Offene zu gehen und denen, die bleiben, Segen zu hinterlassen. Dabei können Angehörige, aber auch Freunde und Freiwillige eine wichtige Rolle spielen. So wie Sie – die Mitarbeitenden in ambulanten Hospizdiensten, in Besuchsdiensten oder bei den „Grünen Damen und Herren“. Aber auch Musikerinnen und Musiker, die Konzerte in Altenheimen anbieten, oder Autorinnen, die Biographien gestalten. Der Liedermacher Martin Buchholz hat die Besucher seiner Konzerte gebeten, Augenblicke des Glücks auf einer Postkarte aufzuschreiben und ihm zu schicken. Tausende haben das getan. In dem Buch „Tage mit Goldrand“ findet sich eine inspirierende Auswahl daraus. Neben den Karten stehen Interviews, darunter ein Gespräch mit Kathrin Fester, die als Malerin die blinde 106-jährige Frieda Mayer–Melikowa in einem Seniorenheim gezeichnet hat. „Ich empfinde meine Bilder als meine persönliche Würdigung des Lebens von Frau Mayer-Melikowa“, sagt Kathrin Feser, „eine Würdigung, die ihr in den langen Jahren ihres Lebens nicht zugekommen ist. (…) Vielleicht wird ja eines Tages eine ganz besondere Zeichnung entstehen und man wird sagen: Das war Frau Mayer-Melikowa. Sie ist sehr alt geworden und sie hat sehr viel in ihrem Leben durchgemacht. Aber sie hat an ihrem Glauben festgehalten. Und sie war ein liebenswerter Mensch.“

 

6. Dankbar loslassen

Im Aufbruch zum dritten Lebensabschnitt habe ich von einem älteren Paar geträumt, das gemeinsam eine große Grünlilie umpflanzte – in viele kleine Blumentöpfchen. Mein Mann und ich besuchten die beiden im Traum – wir waren noch jung und sahen uns selbst in ihnen. Die Frau wollte die Pflänzchen zu ihrem 80. Geburtstag verschenken – etwas aus ihrem Haus für alle, die ihr lieb sind. Lebendiges Erbe – Grünlilien schlagen Luftwurzeln und lassen sich ganz leicht in neue Erde verpflanzen. Das ist es, dachte ich, was jetzt dran ist: loslassen und weitergeben, damit aus dem Alten Neues wächst auf der neuen Erde. Damit weiter Blüten und Früchte wachsen. So wie in der Ballade vom alten Ribbeck auf Ribbeck im Havelland, in dessen Garten ein Birnbaum stand. Wie der Alte sich listig eine Birne mit ins Grab geben ließ, weil er dem eigenen Sohn nicht traute, aber sicherstellen wollte, dass auch die nächste Generation der Nachbarskinder Birnen ernten konnte, das hat mich schon als Schülerin beeindruckt. Und ich kenne eine Gruppe älterer Diakonissen, die an dieser Ballade durchgespielt hat, was weitergehen soll von dem, was sie bewegt hat, wenn die eigene Tradition zu Ende geht. Und wie sie selbst mit Klugheit dafür sorgen können.

Der alte Diakonissenspruch fällt mir ein, den ich vor einiger Zeit in Gallneukirchen im Fenster der früheren Mutterhauskapelle wiederentdeckte. „Mein Lohn ist, dass ich darf“, heißt es da. „Ich diene weder um Lohn noch um Dank, sondern aus Dankbarkeit und Liebe… Und wenn ich dabei alt werde? So wird mein Herz grünen wie ein Palmbaum und der Herr wird mich sättigen mit Gnade und Erbarmen. Ich gehe mit Frieden und sorge nichts.“ Der Spruch stand in Neuendettelsau, in Kaiserswerth und in vielen anderen Mutterhäusern auf den Nachttischen der Probeschwestern genauso wie in den Schul- und Liederbüchern. „Mein Lohn ist, dass ich darf.“ Im Rückblick hat sich mancher der Verantwortlichen dafür geschämt. Denn bis heute erhalten Erzieherinnen und Pflegende zu wenig Lohn für ihre Arbeit. Trotzdem liegt eine tiefe Wahrheit in dem alten Spruch: Wer Gutes erfahren hat, wer begriffen hat, was im Leben wirklich trägt, möchte das anderen weitergeben

„Und wenn ich dabei alt werde, so wird mein Herz grünen wie ein Palmbaum…“ Der Diakonissenspruch enthält ein großes Glücksversprechen. Dass wir lebendig bleiben, wenn wir unsere Erfahrungen reflektieren und das Gute weitergeben. Dass wir so Frieden machen mit dem Leben und schließlich gut abschließen können. „Abdanken“ nennt man in der Schweiz nicht nur den Rücktritt, sondern auch die Beerdigung – oft die letzte Gelegenheit, an das Gute zu erinnern, dass unser Leben getragen hat. Immer mehr Menschen denken inzwischen nicht nur über ihr Sterben, sondern auch über ihre Beerdigung nach, gestalten die Todesanzeige und das Fest im Voraus. „Wenn ich die Chance dazu bekomme, möchte ich gern auf meiner eigenen Trauerfeier etwas sagen- per Video, wie das ja längst möglich ist“, schreibt die Journalistin Christine Westermann, die dieses Jahr 70 wird. „Chance heißt, wenn ich bewusst sterben kann. Wenn abzusehen ist, dass mein Leben zu Ende geht. Ich möchte etwas dazu sagen, wie es war, mein Leben zu leben.“ Meine Pläne für mein Begräbnis sind weit gediehen. Die Musik ist noch ein unsicherer Faktor, sie wechselt von der Fledermausouvertüre über das Trinklied aus La Traviata bis hin zu Eric Claptons „Autumn leaves“ – ein Lied, das mich zu Lebzeiten zu Tränen rührt. Und wenn alle Tränen geweint sind, soll es fröhlich und ausgelassen zu gehen bei meinem Leichenschmaus.“

Ich finde es gut, schon vor der Beerdigung zu danken. Mit einem Brief, einem Blumenstrauß oder auch mit einem Fest. Die Menschen, mit denen ich verbunden bin, an den gedeckten Tisch einzuladen, sich gemeinsam zu erinnern, Musik zu hören und zu tanzen und schließlich das Glas zu erheben auf das, was war und was kommt. „Der Überschwang eines dankbaren Herzens ehrt Gott, selbst wenn es sich nicht in Worten an ihn wendet. Der Ungläubige, den Dankbarkeit für sein Dasein erfüllt, ist kein Ungläubiger mehr“, hat der Theologe Paul Tillich geschrieben. Dankbar sein zu können, bedeutet eben immer schon, sich mit dem eigenen Leben auf andere, ja, auf ein Ganzes zu beziehen.

„Nicht alles steht uns vor Augen, aber manche Früchte dürfen wir noch erkennen“, heißt es in einer Gottesdienstordnung zum Abschied von kirchlichen Mitarbeitern. Dabei stelle ich mir das Vierfache Ackerfeld aus dem Gleichnis Jesu vor Augen: Welche Saat aufgeht, welche eingeht, das wissen wir nicht vorher und es liegt nicht nur an uns.“ Aber im Rückblick kann Dankbarkeit wachsen. Wir erkennen einen Strom des Gedeihens, der durch uns hindurch zu anderen führt – und von weither zu uns kommt. Diese Art von Dankbarkeit überflutet mich, wenn ich erlebe, dass meine Initiativen „weiter leben“, dass und wie frühere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sich entwickeln, wie Konfirmandinnen und Konfirmanden sich nach vielen Jahren wieder melden.

„Dankbarkeit verhindert, dass ich alles Gute, das mir widerfährt, als Selbstverständlichkeit annehme; etwas, auf das ich schließlich auch Anspruch habe“, schreibt Sabine Asgodom – sie sieht in der Dankbarkeit einen der zwölf Schlüssel zur Gelassenheit. Das Symbol dafür ist eine Schale, in der wir das Gute einsammeln, das wir unverdient empfangen haben – gute und schwierige Erfahrungen, Lehrer und gute Begleiter auch in Krisensituationen, Menschen an unserer Seite und vielleicht auch die Sonne auf unserer Haut und das Glas Wasser, das unsere Lebensgeister weckt. Wer auch die kleinen Glücksmomente bewusst einsammelt wie die Glasmurmeln, die manche von der linken in die rechte Hosentasche wandern lassen, der wird am Ende des Tages dankbar entdecken, dass seine Schale gefüllt ist. Bis an den Rand.

 

7. Abschied nehmen

Letzte Woche war ich auf einer Coaching-Fortbildung, bei der es immer wieder auch darum ging, das eigene Leben zu reflektieren. Die eigenen Erfahrungen – die eigenen Erwartungen. Wir waren zu zehnt – fünf Männer, fünf Frauen. Am letzten Tag bekam jeder Mann in der Runde einen Zollstock, den er unterhalb der 90 cm durchbrechen und dann mit einer Frau teilen sollte. Das Stück, das ich dann in der Hand hielt, war etwa 85 cm lang. Da beginnt nach unserer offiziellen Rechnung die Hochaltrigkeit.

Neugeborene Mädchen haben zurzeit eine Lebenserwartung von 83 Jahren, Jungen von 78 Jahren. 60 ist die neue 50. Drei Viertel der Befragten ab 60 Jahren fühlen sich jedenfalls jünger, als sie es vom kalendarischen Alter her sind, und zwar im Durchschnitt 5,5 Jahre. Und immerhin die Hälfte der 70- bis 85-jährigen fühlen sich trotz der einen oder anderen Krankheit funktional gesund. Noch nie in der Geschichte sind Menschen so gesund alt geworden, noch nie war die Breite der Bevölkerung so gut ausgebildet, so kompetent und selbständig wie heute, noch nie gab es auch so viele Möglichkeiten, sich zu vernetzen und gut zu organisieren. Und wie schon an anderer Stelle gesagt: die Wahrscheinlichkeit, dass wir dement oder pflegebedürftig werden, ist längst nicht so hoch, wie viele befürchten.

Und trotzdem gilt es, sich damit auseinanderzusetzen, dass die Kräfte nachlassen, auch wenn wir das lange hinauszögern können. Für gute Rahmenbedingungen zu sorgen, damit wir nicht nur deswegen in eine stationäre Einrichtung gehen müssen, weil wir uns nicht mehr selbst versorgen können. Und Stück für Stück Abschied zu nehmen, wenn der Abschied dran ist. Von einer Rolle, die nicht mehr passt. In der Familie oder im Beruf. Von dem Haus, das wir nicht mehr wirklich bewohnen und brauchen. Von Dingen, die uns längst über den Kopf wachsen. Von einem Lebenstraum, der nicht realistisch war.

Atul Gawande erzählt von seinem Großvater, einem alten Inder, der es gewohnt war, jeden Morgen um die Felder zu reiten, die zu seinem Gut gehörten – um sich zu versichern, dass alles seinen Gang ging. Als er dabei vom Pferd gefallen war und sich verletzt hatte, empfahl ihm niemand aus der Verwandtschaft, diese Gewohnheit zu ändern, die doch so sehr zu seinem Selbstsein gehörte. Sie kauften ihm stattdessen ein Pony. Gelingendes Altern, so die Psychologen Baltes und Baltes, lässt sich nach dem Modell SOK beschreiben: Selektion, Optimierung, Kompensation: Wir machen uns unsere wichtigsten Ziele klar, wir passen mit dem Älterwerden unsere Strategien an und suchen nach Kompensation, wenn es auf dem alten Weg nicht mehr geht. Also: Pony statt Pferd. Wohnung mit Aufzug statt Haus. Bahnhofsnähe statt eigenes Auto.

„Manchmal ist es federleicht“, heißt das Buch von Christine Westermann. Es geht darin um freiwillige und unvermeidliche Abschiede. Um den Abschied von ihrer Sendung „Zimmer frei“, den Abschied von Kollegen und Freundinnen. Christine Westermann erzählt, wie befreiend es sein kann, einen Wohnort oder eine Aufgabe hinter sich zu lassen, wie schmerzhaft, Freunde zu verlieren. Schließlich geht es um den eigenen Abschied. Was wäre, wenn sie um ihren Sterbetag, ihr Sterbejahr wüsste? Loslassen also – wir üben ja schon. „Das, was unter das Stichwort Erbe fällt, würde ich zu Lebzeiten unter die Leute bringen. Und wenn noch was übrigbleibt, ein Haus mit Blick aufs Meer mieten. Ach, mutiger würde ich sein, mir selbst vertrauen. Während ich das formuliere, frage ich mich, worauf warte ich noch? Ich habe doch nur noch ein paar tausend Tage. Erreiche ich das rein statistische Durchschnittsalter für Frauen, sind es von jetzt an gerechnet noch 13 Jahre – 4745 Tage.“

Loslassen und beschenkt werden – das gilt es zu üben, wenn wir alt und lebenssatt sterben wollen. Und manchmal kann das sehr weh tun. Erinnern Sie sich an die Geschichte von Hiob, der sein ganzes Gut und auch seine Söhne verlor und schließlich unter einer schweren und entwürdigenden Krankheit litt. Der dann sogar seine Freunde verlor, weil er den falschen Trost nicht mehr hören konnte? Trotzdem heißt es am Ende der Geschichte: „Hiob lebte 140 Jahre. Und er sah seine Kinder und seine Kindeskinder, vier Generationen. Und er starb, alt und der Tage satt.“

Wie kann das sein? Ist das ein Traum – ein Traum vom Alter oder einer von einer neuen Welt? Die Bibel erzählt, wie Hiobs Geschick sich wendet. Er wird gesund und die Geschwister und Freund kehren zurück – sie besuchen ihn, bekunden ihm ihre Anteilnahme und trösten ihn – und sie schenken ihm jeder einen goldenen Ring. So lebt er wieder in der Gemeinschaft. „Und er bekam vierzehntausend Schafe und sechstausend Kamele und tausend Gespanne Rinder und tausend Eselinnen. Und es wurden ihm sieben Söhne und drei Töchter geboren. Und er gab der ersten den Namen Jemima und der zweiten den Namen Kezia und der dritten den Namen Keren-Happuch. Und so schöne Frauen wie die Töchter Hiobs fand man im ganzen Land nicht. Und ihr Vater gab ihnen ein Erbteil mitten unter ihren Brüdern. Und Hiob sah seine Kinder und seine Kindeskinder, vier Generationen. Und Hiob starb, alt und der Tage satt.“

Am Ende also heilen die Wunden – darauf dürfen wir uns freuen. Am Ende steht die Erfahrung, beschenkt zu werden. Und Lebensfreude pur. Es lohnt sich darüber nachzudenken, was wir für uns und für andere tun können, um das zu erfahren. Für die einen ist es ein Fest, für die anderen eine Reise zum Haus am Meer – vielleicht schauen Sie selbst noch mal auf ihre Löffelliste. Und fragen die Menschen, die Ihnen anvertraut sind, danach.

 

Cornelia Coenen-Marx, Bad Rappenau, 19.3.18