Der Beitrag der Kirche zu Teilhabe und Gerechtigkeit

Unsere Gesellschaft differenziert sich weiter aus, sie wird bunter, aber sie spaltet sich auch – ökonomisch, sozial und kulturell. Die Bedeutung von Erwerbsarbeit steigt – zugleich aber nehmen die wirtschaftlichen und sozialen Ungleichgewichte zu. Das wird sichtbar bei der Einkommens- und Vermögensentwicklung – Erwerbseinkommen spielen dabei eine immer geringere Rolle – und geht weiter mit der Verteilungsgerechtigkeit: Eltern kleiner Kinder, Frauen und Männer, die Angehörige pflegen, chronisch Kranke oder Menschen mit Behinderung arbeiten oft nur in Teilzeit oder in prekären Beschäftigungsverhältnissen und müssen am Ende von geringen Renten leben.

Dass Teilhabe in unserer Gesellschaft wesentlich an Erwerbsarbeit oder eben zunächst einmal an Schule und Bildung gekoppelt ist, ist nicht unproblematisch. Für Arbeitslose, Rentner, Familienfrauen kann das bedeuten, sozial ins Aus zu geraten – obwohl sich gerade unter den jungen Alten und sozial engagierten Frauen viele finden, die sich für gesellschaftlichen Zusammenhalt engagieren können. Die Bedeutung der aktiven Teilhabe im bürgerschaftlichen Engagement wird in jüngster Zeit politisch hervorgehoben; übersehen wird dabei leicht, dass man sich auch ein Ehrenamt leisten können muss. Sozial Engagierte, das zeigen alle Studien, sind in der Regel gut situiert, gut gebildet und gut vernetzt – während die, die gesellschaftlich benachteiligt sind und keinen Zugang zum Arbeitsmarkt finden, auch keine Möglichkeit sehen, sich ehrenamtlich zu engagieren. Das liegt an ihrer ökonomischen Situation, aber auch daran, dass man Kontakte braucht, um Zugang zum Engagement zu finden – in einem Verein, beim Sport oder auch in einer Kirchengemeinde. Auch hier gilt das „Matthäusprinzip“: Wer hat, dem wird gegeben. Inzwischen entwickelt sich ein neuer Graubereich zwischen Erwerbsarbeit und Ehrenamt – 450-Euro-Jobs, Bundesfreiwilligendienst, Bürgerarbeit, Übungsleiterpauschale – auf den nicht zu Unrecht kritisch gesehen wird. Denn die Gefahr, dass diese kleinen „Jobs“ an die Stelle beruflicher Beschäftigung treten, ist nicht von der Hand zu weisen. Gleichwohl bieten sie Benachteiligten derzeit eine Möglichkeit, über das Engagement in eine Gemeinschaft und damit zur Teilhabe zu finden.

Hartz-IV-Empfängern, Jugendlichen ohne Abschluss, Älteren mit geringen Renten ist eins gemeinsam: sie haben das Gefühl, dass es auf sie nicht ankommt, dass sie „abgehängt“ sind. Ähnlich geht es denen, die sich im eigenen Land nicht mehr zu Hause fühlen, weil sie die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse nicht nachvollziehen können – selbst wenn sie sich ökonomisch nicht unmittelbar sorgen müssen. Und wie sieht es mit denen aus, die aus hoffnungslosen Kriegs- und Armutssituationen im Nahen Osten oder in Nordafrika zu uns geflohen sind? Können sie mittelfristig auf Bildung, Arbeit und Teilhabechancen hoffen? Finden sie offene Türen in der Nachbarschaft, geben Vereine oder Gemeinden ihnen das Gefühl, gebraucht zu werden? Die „Abgehängten“ zur Teilhabe zu ermutigen, ist entscheidend; wenn die gesellschaftliche Entwicklung vor allem den Interessen der Mittelschicht oder gar der privilegierten und informierten Elite folgt, wird sich die Spaltung verfestigen. Dabei haben die Kirchen eine wichtige Mittlerfunktion – schließlich sind sie noch immer in allen Schichten und verschiedenen Milieus verankert, auch wenn sie in den Augen vieler Betroffener zu „denen da oben“ zählen.

Aber gerade darum können Kirchen auch dazu beitragen, die notwendigen Prozesse der gesellschaftlichen Integration, besser noch der Inklusion mit zu gestalten: Wir müssen lernen, Vielfalt zu akzeptieren, nicht nur zu tolerieren. Gleich ob es um die soziale, ethnische oder nationale Herkunft geht, um verschiedene Bildungskarrieren oder Lebenslagen – wir müssen Schwellenängste abbauen und Gleichgültigkeit überwinden, respektvoll miteinander umgehen. Es geht darum, miteinander zu wohnen, zu arbeiten, Sport zu treiben – und auch Gottesdienst zu feiern, statt Parallelstrukturen zu entwickeln. Denn nicht nur die Integration in die Erwerbsarbeit ist ja eine entscheidende Frage, auch die Segregation der Wohnquartiere erschwert das Zusammenleben. Und selbstverständlich sind auch Kirchengemeinden von der zunehmenden Spaltung betroffen: Kulturkirchen mit zahlreichen interessanten Events stehen Gemeinden gegenüber, die kaum noch Mittel für hauptberufliche Arbeit haben, zugleich aber in Wohnquartieren leben, in denen besonders viele Menschen auf Hilfe angewiesen sind. Dass es hier einen Ausgleich braucht, eine bessere Zusammenarbeit auch von Kirche, Diakonie und Caritas mit anderen Trägern und Initiativen, scheint selbstverständlich. Das ökumenische Projekt „Kirche findet Stadt“, das genau solche Modelle fördert, zeigt allerdings, wie mühsam dieser Weg ist.

Dabei gehören die Bilder und Geschichten vom Miteinander der Verschiedenen, von grenzüberschreitender Barmherzigkeit, wechselseitiger Sorge und geschwisterlicher Teilhabe zu den grundlegenden und modellhaften Erzählungen des Neuen Testaments. Die erste Gemeinde in Jerusalem teilt ihre Güter und hält täglich Tischgemeinschaft – mit Männern und Frauen, Juden und Griechen, Einheimischen und Zugereisten. Denn „sie sind alle eins in Christus“. Trotzdem ist es bei uns keinesfalls selbstverständlich, dass einheimische und Migrantengemeinden zusammen Gottesdienst feiern oder dass Menschen mit Behinderung in einem Kirchenvorstand sitzen – und auch wer zurückschaut, wird sich eingestehen müssen, dass zur Kirchengeschichte immer neue Exklusions- und Abgrenzungsmechanismen gehören. Und dass das schon in der „Urgemeinde“ anfängt – mit den griechischen Witwen, die am gemeinsamen Tisch in Jerusalem zu kurz kommen und zunächst keine Lobby haben. Auch die große und ermutigende Geschichte von Diakonie und Caritas im 19. Jahrhundert ist janusköpfig: einerseits innovativ, was die Wertschätzung von Menschen mit Behinderung, Pflegebedürftigen oder überforderten Familien angeht, andererseits aber exkludierend – mit Anstaltsgründungen, in denen sich „Sonderwelten“ entwickelten – Parallelgesellschaften, um den heutigen Sprachgebrauch aufzugreifen.

Heute geht es darum, die Bewegung umzukehren und die sozialen Dienstleistungen zurück zu bringen in die Nachbarschaften und Quartiere, in die Regelschulen und Firmen, Begegnungsplattformen zur Verfügung zu stellen – ohne allerdings das Fachwissen zu verlieren und die Qualität der professionellen Arbeit zu senken. Diese Prozesse sind ohne zivilgesellschaftliche Initiativen und gut genknüpfte Netzwerke zwischen den unterschiedlichen Organisationen kaum möglich – zugleich aber sind die „Sorgenden Gemeinschaften“ der Bürgerinnen und Bürger auf professionelle Koordination und auf öffentliche Räume der Begegnung angewiesen. In der Flüchtlingsarbeit wird das zurzeit besonders deutlich. Hier können die Kirchen mit ihren Gemeindezentren, ihren beruflich Mitarbeitenden und der Vernetzung im Quartier einen wesentlichen Beitrag leisten, um die meist nur kurzfristig finanzierten Projekte zu stabilisieren.

Mit ihrer Nähe zu den Menschen im Wohnquartier – auch und gerade zu Älteren, Familien, Kranken – lebt Kirche in einem anderen „Zeitregime“ als Unternehmen und Dienstleister – besser gesagt: Kirchengemeinden leben in einem anderen Zeitrhythmus auch als ihre diakonischen oder caritativen Unternehmen, die von der Refinanzierung aus Sozialkassen oder Kommunen abhängen. Klar ist: die Sorge für andere – Care-Arbeit also – braucht einen langen Atem genauso wie gesellschaftliche und politische Teilhabeprozesse. In unserer auf Effektivität und Effizienz ausgerichteten Arbeit wird es zunehmend schwieriger, die dafür notwendige Zeit zur Verfügung zu stellen. Das gilt leider auch für die Kirche selbst. Während die Strategie- und Reformprozesse professioneller werden, die Angebote besser auf den Markt abgestimmt, nehmen oft die Mitbestimmungsmöglichkeiten von Engagierten bei der Entwicklung von Gemeindeprofilen, bei Kirchenumbauten oder bei der Bildung von pastoralen Großräumen ab. Ob es gelingt, die Spannung zwischen Strategie und Teilhabe zu halten, wird eine entscheidende Zukunftsfrage sein.

Christinnen und Christen sind stark darin, immer wieder neue, heterope und unangepasste Modelle des Miteinanders zu entwickeln: in den Arche-Gemeinschaften, in Hospizen, im Sharehouse, in einer Flüchtlingskirche. In allen diesen Projekten geht es um die Überschreitung traditioneller Grenzen und die Teilhabe Exkludierter. Sie machen die Idee der ersten Jerusalemer Gemeinde in aller Frische sichtbar – wie eben aus der Taufe gehoben. Aber auch in der täglichen Arbeit mit Familien, Migranten, Demenzkranken im Quartier kann deutlich werden: dass Menschen sich wieder aufrichten können und ihren Platz finden, hat mit dem Glutkern der Spiritualität zu tun. Und was für das Christentum zentral ist, findet Entsprechungen zum Beispiel auch im Islam. Kirchen sind Träger des religiösen Gedächtnisses wie der interreligiösen Kompetenz und stehen für die Verankerung sozialer Grundwerte im Narrativ unseres Landes – sie sind ein Stabilitätsfaktor mit einer prophetischen Erinnerung, Veränderungskraft und Mittler zugleich. Denn die grundlegenden Vorstellungen von Gerechtigkeit und Teilhabe in unserer Kultur sind auf christlich-jüdischen Hintergrund entstanden.

Diese Rolle der Kirche überlappt sich zum Teil mit der anderer gesellschaftlicher Funktionsbereichen – mit Erziehung, Bildung und Rechtssystem mit Wohlfahrtsorganisationen und politischen Parteien. Es ist gut, dass in allen diesen Systemen bewusste Christinnen und Christen arbeiten. Vielleicht kommt es deshalb auf Dauer nicht darauf an, dass die Kirchen das gesamtgesellschaftliche System mit all ihren Organisationsformen und Vereinen abbilden und zum Teil doppeln – vielleicht muss es also keinen kirchlichen Wohnungsbaufirmen oder Gewerkschaften geben, vielleicht auf Dauer nicht einmal kirchliche Kliniken. Wesentlich ist, dass Christinnen und Christen in diesen Arbeitsfeldern ermutigt werden, an ihrer Motivation festzuhalten und sich zu engagieren. Dass Kirche also die Vielfalt und die Kompetenzen ihrer aktiven Mitglieder anerkennt und würdigt.

Ein wesentlicher Auftrag auch für die Zukunft ist deshalb aus meiner Sicht die Begleitung und Ermutigung zivilgesellschaftlicher Initiativen, die Bereitstellung von Begegnungsorten im öffentlichen Raum, die Vernetzung mit anderen Organisationen und Experten, die Beratung und Begleitung von Einzelnen und Gruppen und die Bereitschaft, Stimme der Exkludierten zu sein. Kirche muss sich als profilierter Teil der Zivilgesellschaft begreifen. Nichts kann uns daran hindern – es sei denn die Wagenburgmentalität und Milieuverengung – wie sie oft mit Umbrüchen einhergehen. Vielleicht ist gut, wenn wir das kennen und reflektieren – denn gerade darum geht es ja: Menschen in Umbrüchen zum Aufbruch zu ermutigen.