Ein pfingstlicher Aufbruch im Kontext gesellschaftlicher Veränderungsprozesse
Tag der diakonischen Gemeinschaft in Speyer
1. Leben ist Aufbruch
„Leben ist loslassen“, schrieb mir eine Freundin, als ich aus der EKD in die Selbständigkeit wechselte. Einen Ort, einen Arbeitsplatz, eine gewohnte Rolle auch. Und ich erinnerte mich an eine Fährfahrt vor einem früheren Wechsel. Damals machte ich eine Woche Inselurlaub, um Abschied und Neuanfang bewusst wahrzunehmen. Die Fahrt war kurz, aber sie wurde für mich zum Symbol der Passage. Ich konnte beobachten, wie das alte Ufer hinter mir zurückblieb, während auf der anderen Seite das neue ganz allmählich Gestalt annahm. Um uns vom Gewohnten zu lösen, brauchen wir Mut und Neugier. Es hängt wohl viel davon ab, wie viele Träume wir noch haben, wie viel ungelebtes Leben auf Gestaltung wartet. In dem Augenblick, in dem wir uns auf das Abenteuer einlassen und ins Ungewisse aufbrechen, beginnt die wahre Glaubensreise, schreibt Richard Rohr. Wir müssen genau hinsehen und hinhören, um in und hinter den Stimmen unserer Umgebung die Stimme Gottes wahrzunehmen. Dabei geht es darum, das Geheimnis des Lebens zu lernen. Das bedeutet immer auch, seine andere Seite anzunehmen: das Geheimnis des Todes und des Zweifels. [1] Angst und Zweifel, aber auch Verlusterfahrungen gehören zur Passage wie zu jedem Reform- und Veränderungsprozess. „Leben ist loslassen“, schrieb meine Freundin. „To de-identify ist to survive“: – dazu gehört also auch, alte Identifikationen zurück zu nehmen.
Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist“, heißt es im Epheserbrief (4, 24). Wer in den frühen Gemeinden mit der Taufe in die Gemeinschaft der Christen aufgenommen wurde, legte vor dem Wasserbad die alten Kleider ab, um danach ein neues, helles Kleid anzuziehen. Dieses Ausziehen und Anziehen, das Umkleiden ist ein Zeichen für eine neue Haltung, einen neuen Lebensentwurf und neue Lebensbezüge. Wir kennen das auch aus anderen Lebenszusammenhängen. Ich denke an den Konfirmationsanzug. Und auch an den Aufwand, den junge Mädchen heute betreiben – vom Friseur bis zur Kosmetikerin-, um am Konfirmationstag zum ersten Mal als perfekt gestylte junge Frau zu erscheinen. So wie wenig später zum Abiball. Ich denke auch an das Brautkleid, das den neuen Lebensabschnitt symbolisiert. In früheren Zeiten gab es unterschiedliche Trachten, Farben und Kopfbedeckungen im Leben einer Frau – für die Mädchen, die Jungfrauen, die Bräute und die verheirateten Frauen und schließlich für die Witwen. Schon äußerlich konnte man sofort erkennen, in welchem Status eine Frau war – was man von ihr erwarten konnte und was nicht. Und die Namensänderung tat dann ein übrigens dazu.
Aus dieser Zeit stammt die Diakonissenhaube – das Zeichen der verheirateten Frau, mit der Theodor und Friederike Fliedner ihren Mitarbeiterinnen gesellschaftliches Ansehen gaben. Eine symbolische Aufwertung der Care-Arbeit außerhalb von Ehe und Familie. Sie, liebe Schwester Isabelle haben sich in den letzten Monaten entschlossen, ihre Haube abzulegen. Nein – nicht die Rüschenhaube der ersten Schwestern, sondern längst schon eine spätere Form. Denn Erneuerung hat es ja immer wieder gegeben auf dem Weg. Aber klar ist: auch das Ablegen ist ein Symbol. Es signalisiert: ich bin ans Ende eines Weges gekommen, ich stehe an der Schwelle zu etwas Neuem, wohin meine Sehnsucht mich führt. So sind Sie, liebe Schwester Isabelle, zugleich Teil der Tradition und Gründerin – nun wieder mit einer Schwester an der Seite.
Ich erinnere mich an einen Einführungstag für neue Mitarbeitende in der Kaiserswerther Diakonie. An diesen Tagen nahm immer auch eine der älteren Diakonissen teil und erzählte aus der Geschichte der Gemeinschaft. Schwestern mit oder ohne Haube. Und so oder so löste das Thema Tracht ein Gespräch aus. Damals also erklärte eine der Schwestern, warum sie keine Haube trug: sie habe nicht länger etwas Besonderes sein wollen. Nicht länger diejenige, die im Zweifel noch blieb, wenn alle anderen nach Hause mussten. Die den ehrenamtlichen Teil der Aufgaben erledigte. Die für Glaubensfragen zuständig war und auf alles eine Antwort hatte. Mehr und mehr hätte sie nämlich den Eindruck gehabt, dass sie damit aus dem Team herausfiel – und dass sie letztlich die anderen nicht nur entlastete, sondern es ihnen auch schwer machte. Weil sie eben keine Diakonissen mehr waren. Und automatisch dachte ich an den Fototermin mit den jungen Mitgliedern der Schwesternschaft – immer wurde nach den Hauben gefragt, als sei man nur so eine „richtige Diakonisse“. Ach, aus dem schlichten Zeichen der verheirateten Frau war DAS Symbol für den diakonischen Dienst geworden. Ob Theodor Fliedner das so gewollt hätte? Seiner Frau Friederike jedenfalls ging es um mehr – oder sollte man sagen, um weniger? Es ging ihr um gute Pflege. Um Care-Arbeit und Mütterlichkeit – schließlich war sie selbst nicht nur verheiratet, sondern auch Mutter. Das mit der Zeit aus der Diakonissentracht so etwas wie ein Nonnenhabit wurde, hatte wohl eher mit Theodors Begeisterung für die Barmherzigen Schwestern zu tun. So standen dann auch Pünktchenkleid und Diakonissenhaube für Glaubens-, Lebens- und Dienstgemeinschaft mit Armut, Verzicht und Gehorsam. In den letzten Jahrzehnten sind allerdings viele katholische Orden den gleichen Weg gegangen wie unsere Schwestern in Kaiserswerth: Sie legten den Habit ab, weil sie das Schicksal ihrer Berufskolleginnen und -kollegen teilen wollten. „Nichts als der Glaube soll uns von der Welt trennen“, hat die französische Mystikerin Madeleine Debrel gesagt.
Der Neubeginn, den wir heute feiern, ist ein Schritt hinaus – Sie legen ab auf ein neues Ufer zu – ganz so, wie ich es oben mit der Schiffspassage beschrieben habe. Lassen Sie uns heute noch einmal schauen, was wir zurück gelassen haben, was sich an Neuem zeigt – und wohin uns die Sehnsucht treibt.
2. Unter der Asche ein heimliches Feuer
Dis-embedding ist eine Schlüsselkategorie der Moderne. Der klar und verlässlich gezeichnete Rahmen, in dem Menschen über Jahrhunderte gelebt haben, hat sich aufgelöst – das gilt für Geschlechterrollen wie für Familienbilder, für Biographien wie für Berufswege. Und es gilt auch für die Beschreibung gesellschaftlicher Funktionen. Die Glaubens- Lebens- und Dienstgemeinschaft ist so selten geworden wie die Lebens- und Arbeitsgemeinschaft in einem Handwerkerhaus oder auf einem Bauernhof. Die allermeisten Menschen wohnen nicht an dem Platz, an dem sie arbeiten, ja – sie wechseln Wohnort und Arbeitsplatz und auch Familienkonstellation und Lebensform oft mehrfach im Leben. Wir wechseln die Berufstätigkeit, erleben, wie Ehen und Partnerschaften zerbrechen, wie Menschen neu zusammen finden, und wie auch der Glaube sich verflüchtigt in unserer säkularen, vielfältigen Welt.
Das zeigt sich auch in unseren Unternehmen und Einrichtungen. Diakonie als Freie Wohlfahrtspflege wird zwar staatskirchenrechtlich als Kirche verstanden, gesellschaftlich aber in der Sozial- und Gesundheitsbranche verortet. Und in den Zeitungen findet man sie meist auf den Wirtschaftsseiten – Diakonie ist Sozialwirtschaft. Und je nach Bundesland und Landeskirche gehört nur noch eine Minderheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zur Kirche. Säkularisierung, Individualisierung, Ökonomisierung – an unseren Einrichtungen sind sie nicht vorbei gegangen. Für die allermeisten Mitarbeitenden der Kaiserswerther Diakonie, der ich seit Ende der neunziger Jahre vorstand, war Religion endgültig zur Privatsache geworden – und ihre Lebensform ohnehin. Und auch das Unternehmen war ja längst unterwegs – vom Diakoniewerk mit Selbstkostendeckung zum Wettbewerber auf dem Markt. Die Schwesternschaft, die einst das Werk geprägt hatte, war zwar noch fester Bestandteil der Broschüren und Leitbilder – aber die Lebensrhythmen der Gemeinschaft und der Mitarbeiterschaft – das Beten und das Arbeiten – hatten sich längst auseinander entwickelt. Wenn um 8, um 12, um 6 Uhr abends die Glocken läuteten, konnte keiner aus den Pflegeteams mehr dabei sein. Irgendwann in den 50er oder 60er Jahren war der Faden zum Alltag gerissen. Was geblieben ist, ist die Bewunderung für die große Geschichte, eine fast schon sentimentale Erinnerung an die geprägte Form auf – und auf der anderen – gerade bei Jüngeren – eine unbestimmte Sehnsucht nach Spiritualität. Unter den wirtschaftlichen Zwängen, die den eigentlichen Kern der Arbeit, die Zuwendung zu den Kranken und Hilfsbedürftigen, immer schwieriger, aber auch kostbarer machen – oft habe ich die Faszination in den Gesichtern der Jungen, wenn noch einmal eine alte Schwester mit Haube erzählte. Von einer Zeit, in der die Tischgemeinschaft genauso selbstverständlich zum Dienst gehörte wie die Nachtwache an einem Sterbebett.
„Unter der Asche ein heimliches Feuer“ heißt ein Buch der amerikanischen Benediktinerin Joan Chittister, das vor mehr als 15 Jahren erschien. Die heute 80-jährige Joan Chittister ist Mitglieds eines Benediktinerinnen – Konvents in Pennsylvania, in den sie als ganz junges Mädchen eintrat. Zwölf Jahre war sie dessen Priorin, eine starke, inspirierende und mutige Frau. 2001 erhielt sie den Thomas Merton Award für Frieden und soziale Gerechtigkeit, 2007 den Hans-Küng-Preis, 2008 trat sie in Seattle mit dem Dalai Lama auf. Es war aber Chittisters Forderung nach Frauenordination in der römisch-katholischen Kirche, die ihrer Bekanntheit noch einmal einen Schub gegeben hat – sie geriet darüber in Konflikt mit dem Vatikan, wie übrigens größere Teile des Reformflügels der amerikanischen Katholiken. Joan Chittister kann begeistern – und sie steht zu ihren Einsichten. So ist das nun mal, wenn man für eine Sache brennt. Ihr Buchtitel – „Unter der Asche ein heimliches Feuer“ – hat mich vor vielen Jahren angeregt, über die Energie nachzudenken, die Menschen dazu bringt, sich für andere einzusetzen. In der Kaiserswerther Diakonie, am Ursprungsort der neuzeitlichen Pflegegeschichte, waren damals die Keller voller Akten aus vielen Jahrzehnten Pflegearbeit – während die Diakonissengeschichte in der alten Form unweigerlich zu Ende ging. Das ließ mich fragen, was es für eine Energie ist, die Menschen miteinander verbindet.
Während meiner Arbeit in der EKD ist mir klar geworden, dass nicht nur Glauben, Leben und Arbeit auseinander gefallen sind, sondern dass auch jeder dieser Bereich – Beruf, Familie und Religion-, sich selbst rasant verändert. Unser Land ist bunt, voller Spannungen und Brüche. Auch deswegen, weil längst ganz unterschiedliche Menschen verschiedener Herkunft und Religion dazu gehören. Aber war es nicht genauso beim ersten Pfingstfest in Jerusalem? Und das Feuer, das damals aufflammte, ergriff sie alle – jeden und jede in der eigenen Sprache. Es breitete sich aus auf den Plätzen und Straßen der Stadt – unter Menschen verschiedener Sprachen und Kulturen. So wie die Jüngerinnen und Jünger herausgingen aus dem geschlossenen Raum der Angst und der Tradition.
3. Vom Job zurück zur Dienstgemeinschaft?
Vor kurzem erzählten mir Pflegedienstleitungen vom Trend zu selbständigen Pflegefachkräften. Auf dem leer gefegten Markt bestimmen sie die Rahmenbedingungen ihres Einsatzes weit gehen selbst: sie kommen, wenn Personalmangel auf Station ist, aber sie machen keinen Nachtdienst, oder arbeiten nicht am Wochenende oder nur, wenn die Kinder in der Schule sind. Der Rest muss von den fest Angestellten aufgefangen werden. Und wieder einmal wird mir klar, wie wenig selbstverständlich es ist, wenn der Dienst in einer Klinik oder einer Pflegeeinrichtung funktioniert – wenn Menschen bereit sind, sich für andere einzusetzen, sich mit anderen abzustimmen, Beruf und Familie irgendwie unter einen Hut zu kriegen. Nichts davon ist selbstverständlich; alles hängt davon ab, dass Energie fließt, auch wenn wir sie nicht sehen.
Selbständige Pflegekräfte sind für mich der konsequente Endpunkt der Entwicklung von der Institution zur Individualisierung, von der Gemeinschaftsdiakonie zum Gesundheitsmarkt. Sie vermarkten sich selbst andere Anbieter auch. Standardisierung und Modularisierung der Arbeit kommen ihnen dabei entgegen. Weil sie im Vergleich zu Ärzten oder IT-Kräften wenig verdienen, sorgen sie vernünftiger weise für ein gutes Zeitmanagement und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Wer wollte das übel nehmen? Allerdings lässt sich ein Krankenhaus so nicht managen – hier greift eins ins andere und alles hängt an einer guten Abstimmung zwischen den verschiedenen Diensten und Berufsgruppen. Die Organisationen leben von der Bereitschaft, sich einzufügen – gerade das war in den Schwesternschaften über viele Jahrzehnte Voraussetzung. Industrie und IT-Unternehmen setzen heute in weit höherem Maße auf Eigenständigkeit und Selbststeuerung – vielleicht müssen wir also auch in den alten Anstalten, in Schulen und Krankenhäusern umdenken? Aber Patienten „durchzuschleusen“ oder Pflegebedürftige in Modulen zu versorgen wie man Autos am Fließband fertigt, ist kein Weg – das ahnen wir längst.
Wir haben neue Freiheiten gewonnen und neue Unsicherheiten eingetauscht. Wir haben Autonomie errungen, aber vergessen manchmal, wie sehr wir auf andere angewiesen sind. Aus der Diakonie ist eine Dienstleistung geworden. Wo Krankenhäuser fusionieren und Kliniken schließen, wo Betriebsteile ausgegründet und die internen Abläufe komplett umstrukturiert werden, da wandelt sich auch der Charakter der Arbeitsplätze und mit ihnen die Anforderungen an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Waren beispielsweise noch vor wenigen Jahrzehnten Erfahrung und Unternehmenszugehörigkeit ein Qualitätsmerkmal, wird heute nach messbaren Kompetenzen gefragt. An die Stelle der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft sind nüchterne Dienstverträge getreten, die – auch von Mitarbeitenden, die keiner christlichen Kirche angehören – die Loyalität zu den Unternehmenszielen einfordern. Auch die Grundsätze des kirchlichen Arbeitsrechts verändern sich. Autonomie und Freiheit in der Lebensgestaltung sind selbstverständlich geworden. Die Ineinssetzung von Leben und Beruf dagegen erscheint vielen nicht mehr attraktiv. Zugleich aber wächst das Bewusstsein für Teamgeist und Loyalität und oft genug entstehen Freundschaften am Arbeitsplatz. Manche sprechen in diesem Zusammenhang schon von Frollegen – von Kollegen, die Freunde sind oder werden.
Der Philosoph und Politikwissenschaftler Matthew Crawford, der mit den widersprüchlichen Anforderungen in dem Thinktank, in dem er arbeitete, nicht mehr zurecht kam, kündigte und eröffnete stattdessen eine Motorradwerkstatt. Ein Teil der Befriedigung liegt für ihn darin, dass er den Sinn seines Tuns in seinem Handeln findet. Aus seiner Sicht ist es entscheidend, dass Arbeit uns in einer Wertegemeinschaft verankert. Was ich tue, sagt er, ist Teil eines umfassenderen Bedeutungskreises – es dient einer Aktivität, die wir als Teil des guten Lebens betrachten. Dieses Bewusstsein, das gar nicht ausgesprochen werden muss, konstituiert die Gemeinschaft, in der wir arbeiten. Wir stehen in einer Art „tätigem Gespräch“ miteinander – und durch dieses Gespräch kann die Arbeit unser Leben zu einem in sich schlüssigen Ganzen machen.
Gerade Menschen in sozialen, pflegerischen, medizinischen Berufen, die von ihrer inneren Motivation getragen sind, fragen nach tragfähigen Beziehungen und ethischer Orientierung. Wie in der gesamten Gesellschaft, so wird auch in der säkularisierten Unternehmensdiakonie Religion erneut zum Thema – die Suche nach tragfähigen Ritualen ist nur ein Beispiel dafür. Nicht zuletzt angesichts der immer komplexer werdenden ethischen Fragen, die sich mit den wachsenden medizinischen Möglichkeiten etwa in der Biogenetik oder der pränatalen Diagnostik stellen, oder in der Debatte um die Sterbehilfe spielt die religiöse Ausrichtung wieder eine wichtige Rolle. In einer multireligiösen Gesellschaft sind Patienten, Mitarbeitende und Träger mit ihren jeweils nicht nur kulturellen, sondern eben auch religiösen Prägungen zu Dialog und Diskurs herausgefordert. Ethikberatung heute muss christliche wie atheistische und auch muslimische Hintergründe zu Wort kommen lassen. Darin liegt eine neue und besondere Herausforderung für die Kirchen als Träger diakonischer Einrichtungen- aber auch im Blick auf religiöse Bildungsangebote und die seelsorgliche Begleitung der Menschen, die anderswo in sozialen Diensten arbeiten.
Taugt die Tradition der Gemeinschaftsdiakonie für neue Visionen? Machen wir uns nichts vor – manche würden entschieden den Kopf schütteln. Denn zur Tradition der Schwesternschaften gehörten eben auch der Anpassungsdruck, von dem ich eben gesprochen habe, die Gehorsamstradition und das Zurückdrängen von Individualität. Zudem waren die Gründer wie Fliedner oder Zimmer davon überzeugt, dass gerade Frauen nicht allein ihren Mann stehen könnten – sie wären schon von ihrer Konstitution her auf Familie und Gemeinschaft angewiesen. Als ich vorhin gesagt habe, die selbständigen Pflegekräfte seien der Endpunkt einer Entwicklung, habe ich daran gedacht, wie lange die Kirche gegen die Unabhängigkeit und Selbständigkeit des Pflegeberufs gekämpft hat und wie mühsam die Fortschritte errungen wurden – von Theodor Fliedners Mutterhausdiakonie über Friedrich Zimmer, der den Schwestern nicht mehr nur Taschengeld, sondern durchaus ein Entgelt zahlte, bis zu den privaten Pflegediensten. Zugleich aber ist mir bewusst, wie wenig damit erreicht ist: Der Soziologe Heinz Bude spricht in seinem Buch „Gesellschaft der Angst“ sogar vom neuen Dienstleistungsproletariat – Hauswirtschafts- und Reinigungskräfte und auch Pflegende zählen für ihn dazu. Die Sorgeberufe leiden unter mangelnder Wertschätzung. Unsere Welt ist durch Erwerbsarbeit geprägt – da zeigt sich Wertschätzung nicht zuletzt auf dem Konto. Paradoxerweise ist in dem Emanzipations- und Professionalisierungsprozess, der hinter uns liegt, nun auch die Wertschätzung für die unentgeltliche Liebestätigkeit verloren gegangen. Mit der Haube wollte Fliedner damals der Care-Arbeit außerhalb der Familie Wertschätzung geben; heute steht die Wertschätzung der Care-Arbeit insgesamt in Frage. Was muss geschehen, um die Kunst der Pflege neu schätzen zu lernen? Und wie können wir dafür zur Lobby werden?
4. Von der Singlegesellschaft zum gemeinsamen Leben
Ein glückliches Familienleben gehört zu den sehnlichsten Wünschen der allermeisten Menschen. Doch eine verlässliche Partnerschaft zu leben, wird uns nicht einfach gemacht: nicht von den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen und nicht von unseren eigenen Ansprüchen an das Leben. Angesichts der Beschleunigung und der Zerreißproben, die wir heute erfahren, scheint es schwer geworden zu sein, Familie aufzubauen und zu erhalten. Wir leben in einer Singlegesellschaft. Der Anteil Singles in westlichen Gesellschaft zeigt: Autonomie und Selbstbestimmung höchste Werte. Heute sind 28% aller US-Haushalte Single-Haushalte, verglichen mit 9% in den 50er Jahren. In Schweden sind es 47 Prozent, in Großbritannien 34, in Japan 31 Prozent – aber in Kenia nach wie vor nur 15, in Indien sogar nur 3 Prozent.
Wir leben in einer Optionsgesellschaft, immer auf der Suche nach besseren Möglichkeiten. Angesichts der Mobilität schwindet die Möglichkeit, an einem Ort wirklich Wurzeln zu schlagen, und auch die schiere Zahl der Lebens- und Arbeitsbeziehungen bedroht die Dauer der Bindungen. Hartmut Rosa, der sich seit langem mit den strukturellen Entfremdungsprozessen in der Beschleunigungsgesellschaft beschäftigt, zeigt dagegen, wie sehr wir auf Beziehungen, auf Verortung angewiesen sind, um Resonanz zu erfahren und überhaupt ein stabiles Selbst zu entwickeln. Er schreibt: „Wenn unsere Identität geformt wird über das, woran uns etwas liegt oder worum wir uns sorgen, dann wird die Unsicherheit über das, was uns wichtig ist, und der Verlust von (sozialer Stabilität) notwendig zu einer Störung unseres Selbstverhältnisses führen.“ Dass wir uns also verorten können in den großen und manchmal verstörenden Transformationsprozessen, dass wir uns zu Hause fühlen können in einer Gemeinschaft, darauf richtet sich unsere Sehnsucht.
Neunundzwanzig Jahre alt sind Frauen heute im Durchschnitt, wenn sie ihr erstes Kind zur Welt bringen. Und sechzig Prozent der Kinder werden von Müttern zwischen sechsundzwanzig und fünfunddreißig Jahren geboren. Lange Ausbildungszeiten und schwierige Berufseinstiege haben zur Folge, dass die Geburt von Kindern immer weiter hinausgeschoben wird – nicht selten so weit, dass es schwierig wird, überhaupt noch ein Kind zu bekommen. Noch immer ringt die Familienpolitik um eine bessere Infrastruktur mit Tageseinrichtungen und Ganztagsschulen, um bessere Steuermodelle oder um attraktive Angebote der Familienzeit für Väter. Ganz ähnlich – und vielleicht noch weniger planbar – ist die Situation, wenn jemand in der Familie pflegebedürftig wird. Noch immer werden achtzig Prozent der Älteren zu Hause gepflegt und die durchschnittliche Pflegezeit liegt bei acht Jahren. Und zu siebzig Prozent sind es auch Frauen, die die private Pflege übernehmen. Wie sehr sich Pflegende allein gelassen fühlen, zeigt sich an einem Buchtitel wie „Mutter, wann stirbst du endlich?“ Das Buch hat – wie die Streitschriften des Pflegekritikers Claus Fussek – mediale Debatten angestoßen und ein drängendes Problem aus der Privatsphäre herausgeholt. Gott sei Dank gibt es inzwischen eine Reihe von Unternehmen, die Elder Care anbieten, wo die mittlere Generation mit der Vereinbarkeit von Beruf und Pflege überfordert ist.
Die Kommission für den Siebten Familienbericht der Bundesregierung hat, gestützt auf eine breite Expertise, darauf aufmerksam gemacht, dass ein Caredefizit droht, wenn es uns nicht gelingt, den absoluten Vorrang ökonomischen Denkens in Frage zu stellen. Nicht nur die demografischen Folgen – Geburtenrückgang und die sogenannte Überalterung sind bedrohlich, sondern auch das Schwinden der privaten und informellen Wohlfahrtsökonomie in Familie, Nachbarschaft und Gemeinden, die nach wie vor die Grundlage des professionellen Hilfesystems ist. Beides – die „Unterjüngung“ wie die fehlende Zeit für Familie und Engagement können am Ende das wirtschaftliche Wachstum, die ökonomische Stabilität gefährden, um derentwillen so viele Einbußen hingenommen werden. Offensichtlich ist an dieser Bruchlinie etwas aus der Balance geraten.
Kein Wunder, dass Sorgende Gemeinschaften wieder zum Top-Thema der Sozialpolitik geworden sind. Integrative Stadtteilarbeit und Wohnprojekte gewinnen an Bedeutung. Und auch Freundschaften stehen hoch im Kurs: Wo Partnerschaften sich ändern und Familien verstreut leben, werden Freunde zu Wahlverwandten. Das alles wird getragen von einer breiten und zunehmend aktiven Freiwilligenbewegung: in der Hospizarbeit und in Wohngemeinschaften, in Familien- und Inklusionsnetzwerken. Darin gleicht unsere Situation der im 19. Jahrhundert. Die sorgenden Gemeinschaften von heute waren bei Wichern die „Netzwerke der brüderlichen Liebe“.
Gründerpersönlichkeiten wie Wichern oder die Fliedners waren innovative Geister. Mit ihrem Engagement antworteten sie auf die sozialen Missstände, die mit der Industrialisierung einhergingen. So gaben die Bruderhäuser jungen Männern aus schwierigem Umfeld Ausbildung und Beruf, damit sie anderen eine Zukunft ermöglichen konnten. Und die Diakonissenmutterhäuser boten Pflege für die Kranken, zugleich aber berufliche Perspektiven und familiäre Netzwerke für unverheiratete Frauen. Sie boten sinnvolle Arbeit, tragfähige Gemeinschaften und innere Verwurzelung.
Eine Zeit, die ihre soziale Energie nur aufs Geschäft und auf die Frage der Nützlichkeit reduziert, ist (…) widerwärtig“ und „sie beraubt die ihr unbedacht Folgenden aller Erfahrungen von Fürsorge, Loyalität und Großzügigkeit“, schreibt heute Ariadne von Schirach in ihrem Buch „Du sollst nicht funktionieren“. Aus dieser Erfahrung heraus engagieren sich Bürgerinnen und Bürger für das Ganze. An ihrer Seite müssen die diakonischen Gemeinschaften ihren Platz finden.
Je mehr die Gesellschaft sich spaltet, die Exklusion wächst, der öffentliche Raum schwindet und Familien die Kraft zur Integration verlieren, desto wichtiger wird es, dass gerade in der Diakonie Gemeinschaft erfahrbar wird – das diakonische Träger nicht nur auf Einzelne schauen, sondern Familien unterstützen, Engagement fördern und junge Leute ermutigen, für andere da zu sein. Das ist nicht selbstverständlich in einem Sozialunternehmen, dass sich als effektiver Dienstleister versteht. Darum ist es so wichtig, dass Unternehmen wieder stärker mit Kirchengemeinden zusammenarbeiten. Denn Gemeinden haben Kontakte und Netzwerke in der Nachbarschaft, sind mit Vereinen verbunden, haben Beziehungen zu Angehörigen.
„Der moderne Individualismus steht nicht nur für einen persönlichen Impuls, sondern auch für einen sozialen Mangel, einen Mangel an Ritualen… Die moderne Gesellschaft hat die durch Rituale hergestellten Bindungen geschwächt“, schreibt Sennet am Schluss seines Buches über Zusammenarbeit. Gemeinschaften können gegensteuern. Mit Bildung, Ethik, Spiritualitätserfahrungen, Musik. Damit sind sie eine subversive Kraft – in Zeiten der Individualisierung können sie an Rituale und Traditionen erinnern, die Zusammenhalt stiften – und sie neu lebendig halten.
5. Veränderung schreibt Diakonie-Geschichte
Gäbe es die diakonischen Gemeinschaften nicht, man müsste sie neu erfinden. Und sie werden ja gerade neu erfunden: in den Sorgenden Gemeinschaften von Ehren- und Hauptamtlichen in den Nachbarschaften. In den „Tischgemeinschaften“ der Älteren im Gemeindehaus. In den internationalen Gärten, in denen Migratinnen und Migranten miteinander kochen. An den Orten der Gastfreundschaft in den Quartiersläden. In Selbsthilfegruppen, Trauergruppen und genossenschaftlich getragenen Dorfläden. In den Wohngemeinschaften von Demenzkranken und ihren Angehörigen. Da ist eine Bewegung im Gang, die die effektiv gesteuerten Sozialunternehmen -aufs Beste ergänzt – mit Empathie und Begeisterung und mit vielen neuen Ritualen.
Manche diakonischen Gemeinschaften sind Teil dieser Bewegung geworden. Manchmal gerade die, die ihre Krankenhäuser abgeben mussten und sich dann neu eingelassen haben auf Wohnprojekte oder Engagementförderung. Andere bieten Orte der Einkehr und Gastfreundschaft. Wieder andere starten Bildungsinitiativen. Und manchen fällt es noch schwer, sich mit Initiativgruppen oder Angehörigengruppen zu vernetzen. Vielleicht hindern alte Traditionen und Denkmuster den Neubeginn. Welche? Das lässt sich am besten entdecken, wenn wir auf die Zeit sehen, als die alten Werke der Mutterhausdiakonie sich in Diakoniewerke wandelten – nicht zuletzt deshalb, weil die Schwesternschaften nur noch wenig Nachwuchs hatten. Auf die 60er/70er Jahre also, als der Faden riß. Es schauen ja gerade viele zurück auf die 68-er; tun wir es also auch:
Damals begann die Entwicklung zum „Wohlfahrtsstaat“. Die Rechtsansprüche des Einzelnen an die Sozialen Sicherungssysteme wurden formuliert – Soziale Rechte also statt Entmündigung. Die lange tabuisierten Verbrechen des Dritten Reiches auch in unseren Einrichtungen wurden aufgearbeitet: die T-4-Aktionen in den Einrichtungen für Behinderte, die Zwangssterilisierungen, die Deportationen auch jüdischer Mitschwestern. Fürsorge wurde jetzt skeptisch gesehen – und mit ihr das so genannte Helfersyndrom. Soziale Einrichtungen erhielten eine auskömmliche Deckung der Selbstkosten. Und die soziale Arbeit wurde professionalisiert. So entstanden nicht nur in der Altenpflege und im Gesundheitssystem neue Berufe. Am Dienst der Gemeindeschwester lässt sich diese Differenzierung besonders gut ablesen: Was heute Quartiersmanager, Sozialarbeiterin, Pflege- und Hauswirtschaftskräfte nur noch im Team leisten können – und es ist gut, dass das Pflegestärkungsgesetz das endlich fördert – das wurde bis in die 80er Jahre von den Generalistinnen in der Schwesternstation gemanaget – mit Seelsorge, Beratung und Begleitung der Familie auch in der Hauswirtschaft. Ohne Einstufung, Abrechnung und Qualitätskontrollen – aber auch ohne Wochenende und Vertretungsmöglichkeiten.
Vor 50 Jahren also veränderten die Sozialen Bewegungen Organisationen, Berufs- und Geschlechterrollen. Die so genannten Frauenberufe wurden professionalisiert, die Berufstätigkeit von Frauen wurde selbstverständlicher – die fürsorgliche Kontrolle des Lebensstils hatte ein Ende. Und es kam verstärkt zu Kirchenaustritten. Das alles hat Auswirkungen auf die diakonischen Schwesternschaften: Die Zahl der Probeschwestern geht zurück. Stattdessen werden jetzt Frauen zu Diakoninnen eingesegnet, ja – sogar Frauen ordiniert. Spannend, dass diese ordinierten Pfarrerinnen und Diakoninnen heute als Leitende Schwestern in die Gemeinschaften zurückkehren. Die Schwesternschaften aber überaltern. So wird für einige Gemeinschaften Kontemplation wichtiger als Aktion. Andere wie Kaiserswerth wechseln schon in den 60ern ins Tarifsystem.
So entsteht eine neue Vielfalt: die Gemeinschaften öffnen sich für ACK-Mitglieder auch außerhalb der evangelischen Kirche, anderswo entstehen kontemplative Gemeinschaften und in den Unternehmen schließen sich unterschiedliche Gemeinschaften zusammen: Diakonen- und Diakonissengemeinschaften wie in Remscheid oder später dann Schwesternschaften aus Diakonissen und diakonischen Schwestern wie in Flensburg. Neue Bildungsangebote entstehen wie in Witten und Bethel. Und in Kaiserswerth entsteht schon 1964 eine Diakonissengemeinschaft neuer Form. Vielfalt und Suchbewegungen also überall. Das ändert aber nichts daran, dass die Bedeutung der Gemeinschaften deutlich abnahm – seit dieser Zeit war von sterbenden Gemeinschaften die Rede. Man setzte mehr und mehr auf die professionellen Unternehmen. Und die neu entstehenden Gemeinschaften stellen nicht mehr Unentgeltlichkeit und Verzicht in den Mittelpunkt, sondern Professionalität, Solidarität und Inspiration und den bewussten Umgang mit Grenzen. Es geht darum, dass „Pflegende wie Gepflegte Gewinn davon tragen“, wie Florence Nightingale einst über Kaiserswerth in ihr Tagebuch schrieb.
6. Das Feuer hüten: Die Ideen des Anfangs bleiben attraktiv
Heute aber zeigt sich: die Ideen des Anfangs bleiben attraktiv. Am Ende des Professionalisierungswegs, unter dem ökonomischen Druck in allen Berufsfeldern, wächst der Wunsch nach Sinnerfahrung und Erfüllung im Beruf, nach freundschaftlichen Beziehungen und verlässlicher Zusammenarbeit am Arbeitsplatz.
Menschen suchen persönliche Entwicklung in Bildungs- und Sabbatzeiten – ihnen geht es um Haltung, Ethik und Spiritualität. Sie suchen Gleichgesinnte, vor Ort am Arbeitsplatz, aber auch in internationalen Netzwerken wie bei Ärzte ohne Grenzen. Gerade in sozialen Berufen will man ernst machen mit dem Slogan, dass der Mensch im Mittelpunkt steht. Assistenzdienste, Case-Management, die Orchestrierung um die Leidenden und Sterbenden in der Palliativarbeit zeigen die Richtung.
Die Freiwilligenbewegung wächst – in den Quartieren und auch in den Unternehmen. Wohnprojekte, Mehrgenerationenhäuser, Stadtteilarbeit und Sorgende Gemeinschaften gewinnen an Bedeutung. Supperclubs, Tischgemeinschaften, Wandergruppen entstehen- und viele neue Rituale an Lebensschwellen.
Das alles ähnelt den Ideen der Gründerzeit in der Diakoniebewegung. Auch damals ging es um Bildung, Beruflichkeit und Haltung. Gemeinschaften als Wahlfamilien und integrative Quartiersarbeit waren der entscheidende Gegentrend zu Globalisierung, Gesellschaftlicher Spaltung, Überlastung von Familien und der Vernachlässigung von Kindern, Pflegebedürftigen, Sterbenden. Die Gründerinnen und Gründer schufen Netzwerke der geschwisterlichen Liebe gegen die globalisierten Netzwerke der Industrie und des Handels. Umgesetzt allerdings wurden die neuen Ideen im Gerüst der damaligen Zeit: Mit patriarchaler Führung und Geschlechterhierarchie und mit der Vorstellung, dass die unentgeltliche Nächstenliebe „Frauensache“ sei. Davon müssen wir uns verabschieden, wenn wir die Fragen unserer Zeit aufnehmen wollen. Wir müssen uns verabschieden von Anpassungsdruck und Kritiklosigkeit und stattdessen Individualität und Vielfalt schätzen lernen. Die unterschiedlichen Steine im gleichen Symbol bei den Sarepta-Schwestern zeigen bildlich, was es bedeutet, Gemeinschaft in Vielfalt zu leben.
Aber auch heute gilt: Soziale Professionalität braucht Empathie, Selbstreflexion, Beziehungs- und Gemeinschaftsorientierung. Und in den eigenen Leidenserfahrungen wachsen Empathie und Compassion – und Respekt auch vor den Schwächen und Stärken anderer. Diakonische Arbeit braucht Zusammenarbeit mit Patienten bei der Heilung, Zusammenarbeit untereinander, Zusammenarbeit bei der Bewältigung des schwer Erträglichen und eine gemeinsame Suche nach spirituellen Kraftquellen.
7. Der Sehnsucht folgen – zum Aufbruch einladen
„Unter der Asche ein heimliches Feuer“: Wer noch die Kohleheizung kennt, der kennt auch die Arbeit, die am Morgen ansteht: man muss die Kohleschütte holen, die Asche wegtragen, ein paar neue Holzscheite dazu legen und dann hineinblasen. Es ist eine mühsame, ja auch eine schmutzige Arbeit, aber nur so wird es wieder warm in der Wohnung! Also: Trennt Euch von dem, was nur noch belastet. Und seht Euch um nach dem, was wirklich gebraucht wird – was brennbar ist. Und dann: lasst die Funken sprühen. Es ist Pfingsten!
26 Und ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben und will das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen und euch ein fleischernes Herz geben, heißt es bei Hesekiel.
27 Und will meinen Geist in euch geben und will solche Leute aus euch machen, die in meinen Geboten wandeln und meine Rechte halten und danach tun. Die Jahreslosung – Sie erinnern sich.
Also: was ist der alte Geist, den wir loslassen müssen? Was sehen sie kritisch – was liegt schon längst in Trümmern, funktioniert nicht mehr? Und wo hat vielleicht etwas Neues begonnen? Das Ziel der Erneuerung ist klar: es geht nicht nur um uns oder unsere Gemeinschaften – es geht um andere: „Ich will solche Leute aus Euch machen, die meine Rechte halten und danach tun.“ – um Gottes willen.
Die Kirche ist kein Museum; die Traditionsbestände müssen ins Gespräch gebracht werden, die Rituale wollen verstanden werden, die Gebäude fangen an zu modern, wenn nicht immer wieder der Wind der Welt hineinweht. So geht es bei der Suche nach einer erkennbaren, glaubwürdigen und für die Menschen hilfreichen kirchlichen Identität immer um ehrliche Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen Veränderungen. Für Gruppen und Einzelne kann es nötig sein, sich Unterstützung in Veränderungsprozessen zu suchen, damit die eigene Motivation wie die Bereitschaft, sich einzulassen und zu engagieren, erhalten bleibt. Coaches, Mentorinnen und Mentoren können helfen, bei einem Wechsel ganz bewusst aufzuräumen und abzuschließen – im wörtlichen, aber auch im übertragenen Sinne. Dieses „Clearing“ ist angewandte Lebenskunst. Dazu gehört es, noch einmal anzuschauen und zu sortieren, was war – sicherlich auch die alten Hoffnungen noch einmal anzuschauen – vergangene Aufbrüche und Enttäuschungen. Trauer gehört zum Abschied, vielleicht aber auch Ungeduld – und dann endlich Dankbarkeit. Die unerfüllten Pläne, die ungelebten Ideen gilt es noch einmal wahrzunehmen und dann loszulassen. Und was soll weitergehen – was trägt durch die Zeiten?
Zurücklassen, was uns gefangen hält, durch Wüsten ziehen und ein neues Leben wagen, das prägt die jüdisch-christliche Kultur wie die politischen Hoffnungen unterdrückter Völker, Klassen und Ethnien durch die Jahrhunderte. „Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe“, heißt es zu Beginn des Dekalogs, der Mose in der Wüste offenbart wird. Die ritualisierte Erinnerung daran bildet den Mittelpunkt jedes Sederabends am jüdischen Pessachfest, wenn die Kerzen entzündet sind und Bitterkräuter wie Honigäpfel auf dem Tisch stehen.
Ohne solche Vergewisserung, dass wir in einer Tradition der Aufbrüche stehen, kann Veränderung nicht gelingen. Ohne ein Bewusstsein für die Sackgassen und Irrwege besteht die Gefahr, dass wir sie wiederholen. Und ohne die Erzählungen von gelungenen Veränderungsprozessen fehlt uns die Hoffnung, dass mehr möglich ist, als wir glauben. Das gilt im persönlichen Leben genauso wie im politischen Dass wir die diakonischen Aufbrüche in der Zeit der ersten Industrialisierung und gesellschaftlichen Transformation, die Anstöße zur Entwicklung des Sozialstaats, die Vereinigung Europas oder die friedliche Revolution nicht vergessen.
Im Umbruch von 1989, als die Mauer sich geöffnet hatte und wir zusammen feierten, diskutierten, versuchten Zukunft zu gestalten und auch mit unseren Ängsten umzugehen, wurde ein neues Kirchenlied aus der DDR zum Schlager: „Vertraut den neuen Wegen“ von Klaus-Peter Hertzsch. Hertzsch ist gestorben, aber sein Lied, das uns in vielen Aufbrüchen begleitet und uns Mut gemacht hat, klingt noch immer in mir nach. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen heute Vertrauen in Ihren neuen Aufbruch.
Cornelia Coenen-Marx, Speyer, Pfingsten 2017