Einführungsrede Salemsfriedhof

salem

Das erste Auto meiner Mutter hatte einen  Namen. Es war ein kleiner, blauer Käfer und auf dem Nummerschild stand: D-AJ-53. Ich war 9 Jahre alt und werde nie vergessen, wie begeistert meine Mutter über diese Buchstaben war: AJ, jauchzte sie, wie „Anna Jakobi“. Und Anna Jakobi war ihre Lieblingsdiakonisse, eine der Kaiserswerswerther Schwestern aus der Station in Rheydt- Mönchengladbach.  In den 30er und 40er Jahren war meine Mutter noch ganz selbstverständlich mit Diakonissen aufgewachsen- die  Zwischenkriegs- und die Nachkriegszeit gehörten zu den großen Eintrittszeiten. Das Mutterhaus versprach eine sinnvolle Aufgabe, eine Familie, für die, deren Familie zerbrochen war, ein Stück Sicherheit und Stärkung in der Gemeinschaft,  und für manche auch einen Halt bei einer abweichenden politischen Haltung. Diakonissen waren meiner Mutter Pflegerin, Schwester oder auch Freundin – wie Anna Jakobi. Und noch für mich waren sie in den 50er Jahren Hebamme und Kindergärtnerin. Nur wenn Sie mich nach einem Namen fragen wollten, erinnere ich mich nicht. Viel eindrücklicher blieb mir, was alle trugen: das dunkelblaue Kleid mit den Pünktchen. Freundlichkeit,  Durchlässigkeit, Einfachheit .

Es ist wohl diese Mischung aus Gemeinschaftscharakter und Individualität, die uns an der Diakonissengeschichte so fasziniert: gerade auf dem Hintergrund der Gleichheit gewann das je Eigene Strahlkraft- und gerade wegen der faszinierenden Persönlichkeiten genoss die Gruppe Respekt. Das ist es nun ja auch, was auf dem Pfad der Erinnerung, den wir heute eröffnen, zum Tragen kommen soll: Während die Namen auf den Grabsteinen verwittern, werden einzelne Geschichten wieder lesbar. Und an der Geschichte der Berufsgruppe wie der Henriettenstiftung wird deutlich, wer Marie Klammroth oder Dorothee Kothe eigentlich waren. Damit wird eine Dimension erkennbar, die wir in unserer individualistischen und mobilen Gesellschaft leicht vernachlässigen: die Bedeutung von Zugehörigkeit, das Angewiesensein auf eine Gemeinschaft. In der Zeit, die diese Schwestern geprägt hat, unterschrieb man nicht einfach einen Arbeitsvertrag – schon gar keinen Zeitvertrag -, man trat ins Mutterhaus ein; so wie andere heirateten. Man wechselte aus der Herkunftsfamilie in die Diakonissengemeinschaft und verankerte sich hier für ein Leben- auch und gerade, weil es in diesem Leben oft vielfältige Stationen in Gemeinden, Heimen, Krankenhäusern, ja auch in Auslandsstationen gab. Wo immer aber diese Schwestern arbeiteten; es ging darum, Teil der Gemeinschaft zu sein- und Gemeinschaft zu bilden. Angesichts der Beschleunigung, die wir heute erleben, angesichts der Erfahrung, dass unser Leben beruflich wie privat in immer kürzere Zeitabschnitte und Projekte zerfällt, scheint diese Welt immer schneller zu verblassen – gerade so, wie wir es mit den Grabsteinen auf einem alten Friedhof erleben. Und in gewisser Weise ist es ja bald etwas Besonderes, solche alten Gräber zu sehen. Denn es braucht am Ende eine Familie oder eine Gemeinschaft, es braucht eine Erinnerungskultur, um sie zu pflegen.

Eine Erinnerung und eine Hoffnung. Auch davon erzählt dieser Friedhof – wie alle unsere alten Friedhöfe. Wenn Menschen sich darauf verlassen können, dass ihre Namen im Himmel geschrieben sind, wie es Jesus seinen Jüngern und Jüngerinnen verspricht – dann ist es vielleicht nicht ganz so wichtig, wo man sich sonst noch einen Namen gemacht hat. Dann ist der Gedanke, einmal vergessen zu sein, nicht ganz so unerträglich. Denn es sind und bleiben ja nur wenige, die wir nach zwei, drei Generationen noch aus den allgemeinen Geschichtspfaden herausheben können – wie ein schönes altes Gefäß in einer archäologischen Grabung. Auch wir Individualisten werden eines Tages nur noch Teil eines größeren Ganzen sein. Zweierlei hilft gegen den Schmerz, der damit verbunden ist: zu wissen, dass wir in Gott nicht vergessen sein- und uns für dieses Ganze zu engagieren. Zu Lebzeiten, so wie es die Schwestern hier getan haben.

Die alte Gestalt des Herrnhuter Friedhofs erinnert an beides: die Bedeutung des Namens und das Aufgehen im Engagement. Die Form des Gottesackers, der sich zuerst in Herrnhut bei Ludwig Graf von Zinzendorf fand – dem Erfinder der Losungen- und dann von Theodor Fliedner in Kaiserswerth übernommen wurde, findet sich bis heute auf vielen Diakonissenfriedhöfen wie in den Herrnhuter Brüdergemeinden. Für mich zeigt sich hier eine Erinnerung an die Gemeinschaft der Getauften: denn in der Taufe sind wir gleich- daher haben wir unsere Würde, darin finden wir Geschwisterlichkeit und  Solidarität Wer sich aus dieser Haltung engagiert, muss vor Stress nicht ausbrennen. Und wer in diesem Trost stirbt, ist nicht verloren. Kontemplation und Engagement gehörten und gehören in der Schwesterngemeinschaft zusammen – und vielleicht wird auch das spürbar an der Gestalt der Gräber: ein Ruhebett, eine aufrechte Tafel. Aktives Warten, bis bei Gott das Neue beginnt.

Und ich denke daran, wie sehnlich viele dieser Schwestern erwartet worden sind, solange sie lebten. In Kinderzimmern und in Krankenzimmern, bei dem Armen und von den Verwundeten. Unendlich viele Menschen haben darauf gewartet, dass eine kam, die mitten in ihrem übervollen Alltag Zeit hatte oder sich Zeit nahm, genau hinzusehen, wie es dem anderen erging, ganz gleich, unter welchen Umständen er lebte. Und was waren das für Situationen: Kriegsverletzungen, Infektionskrankheiten ohne Antibiotika, Kinder, die ihre Eltern verloren hatten – nein, die Welt war wahrhaftig nicht paradiesisch in diesen Zeiten. Aber ist sie das heute – in der Ukraine, in Syrien, in Nigeria – oder hier bei uns, wo viele Menschen das Gefühl haben, das Arbeit nicht mehr lohnt und ihre Kinder keine Zukunft haben?

In unserer Tradition legen wir Friedhöfe wie Parks oder Gärten an- in Erinnerung an das Paradies, aus dem wir kommen, in das wir gehen. Im Wissen, dass Gott uns lebendig will. Eine Insel im Strom der Zeit, einen Ort, an dem wir innehalten können – herausgehoben in einem anderen Licht. Einen Ort, an dem wir uns mit der Welt versöhnen, sie willkommen heißen können, wie es die jüdische Dichterin Rose Ausländer in einem Gedicht sagt. Sie wurde 1901 geboren, als Marie Klammroth mit 21 ins Mutterhaus eintrat, und auch sie hat die Schrecken ihrer Zeit an Körper und Seele erfahren. Das Gedicht aber, von dem ich spreche, strahlt Zuversicht aus, es heißt „ Wachsen dürfen“. Am Ende bittet die Dichterin darum, „ uns aufzunehmen in Gärten, wo wir wachsen dürfen, brüderlich, Mensch an Mensch.“[1]

Von dieser großen Hoffnung erzählt auch der Salems-Friedhof. Für manchen ist es vielleicht eine Hoffnung wider alle Erfahrung. Für andere mag sich gerade darin die Erfahrung spiegeln, die sie mit diesen Schwestern gemacht haben. Und schließlich wird es diejenigen geben, die von beidem wenig wissen: wenn sie aber auf dem Pfad der Erinnerung entdecken, wie christlicher Glaube und Engagement zusammen gehören, dann leuchtet dieser Garten in Schönheit und Sinn: Dass wir wachsen dürfen, geschwisterlich, Mensch an Mensch. Miteinander und vor Gott.

 

[1] Rose Ausländer Blau/ eine Fahne dem Wunder, Gedichte