Vortrag Freiburg, 27.9.19
1. „Wo das Herz wohnt“: Kirche als kulturelle Heimat
Das Video auf Facebook hat mich noch einmal hingebracht. Zum Immerather Dom. Und in das alte Krankenhaus, wo ich als Gemeindepfarrerin die Kranken aus Keyenberg, Unterwestrich oder Oberwestrich besuchte. Die Dörfer am Rand des Braunkohletagebaus sind inzwischen umgesiedelt, vorübergehend leben Geflüchtete dort. Die Initiative „Alle Dörfer bleiben“ kommt zu spät für die Dorfbewohner. Die wissen längst: Heimat ist mehr als eine Sammlung von Eigenheimen – und seien sie noch so schön. Heimat, das sind Schule, Kneipe und Arztpraxis, engagierte Geschäftsleute, ein reges Vereinsleben und natürlich die Kirche. “Glaube, Sitte, Heimat“- wie es auf der Schützenfahne steht. Traditionen, Überzeugungen, Menschen, die den Geist eines Ortes über Jahrzehnte, ja über Jahrhunderte geprägt haben. Je mobiler die Gesellschaft, je mehr Optionen und Lebensstile, desto grösser wird die Sehnsucht nach diesem Ort, in dem wir uns selbstverständlich bewegen , weil wir dazugehören.
Die meisten wollen die Kirche im Dorf lassen- nicht nur den Immerather Dom. Auch die Münchner Frauenkirche und den Hamburger Michel. Auch die, die die Kirche selbst kaum noch besuchen singen im Karneval: „Mr lasse der Dom in Kölle“. Ob im Dorf oder in der Metropole – die Kirche ist nach wie vor markanter Punkt im Stadtbild. In Zeiten der Verunsicherung richten sich Hoffnungen und Erwartungen, aber auch Wut und Verzweiflung darauf.
Meine erste Erfahrung mit Wutbürgern in der Kirche habe ich gemacht, als ich vor fünfundzwanzig Jahren mit einer kirchlichen Reformgruppe den Osten Londons besucht habe – eine heruntergekommene Hafengegend mit internationaler Bürgerschaft, wo der Bischof von London eine Kirche aufgegeben hatte. Dort begegneten wir einer verzweifelten Bürgerinitiative. Menschen, die zum Teil nicht mehr dort wohnten. Aber sie waren in dieser Kirche getauft oder getraut worden; sie hatten dort eine Erfahrung von Zugehörigkeit und Würde gemacht. So etwas gibt man nicht auf. Was damals in der Church of England für Aufregung sorgte und in den Niederlanden schon damals eine Selbstverständlichkeit war, ist längst bei uns angekommen: Kirchen werden geschlossen, aufgegeben, verkauft oder umgewidmet – zu Synagogen oder Moscheen und zu Restaurants. Und manchmal werden daraus Nachbarschaftszentren oder Konzerthallen. Was das bedeutet, habe ich schon in den 90er Jahren in Duisburg- Marxloh und Bruckhausen erlebt. Wie in London waren es auch bei uns zuerst die Kirchen in Armutsquartieren, in denen kaum noch Kirchensteuer einkam und die Mehrheit in den Tageseinrichtungen muslimisch war, die geschlossen wurden. Der lange Atem, der Kirche so auszeichnet, die Solidarität mit den Schwachen und Alleingelassenen fehlte. Wohin das führt, das sehen wir vielleicht heute genauer als damals.
2. In der Transformation: Kirche als Herberge
Dass Familien, möglicherweise sogar mit mehreren Generationen, an einem Ort wohnen, ist längst keine Normalität mehr. Es braucht keine Braunkohlebagger, um die heimatlichen Dörfer durcheinander zu schütteln. Globalisierung und sozialer Wandel genügen. Nicht nur im Osten ziehen junge Leute in die prosperierenden Regionen; zurück bleiben die Älteren, weniger Beweglichen. Väter pendeln in die Städte – die Familien bleiben in der Region, wo die Mieten bezahlbar sind. Inzwischen leben 40 Prozent der Bevölkerung allein, bei den Älteren sogar 46 Prozent. Die meisten genießen ihre Freiheit; manche leider aber auch unter der Einsamkeit. Menschen, die häufig umziehen oder auch pendeln, verlieren die alltägliche soziale Einbettung in Familie und Nachbarschaft. Das Zerbrechen der hergebrachten sozialen Bezüge ist nicht nur eine emotionale Herausforderung. Gerade alte oder kranke Menschen geraten bei der Bewältigung des Alltags oft enorm unter Druck, wenn sie nicht auf die selbstverständliche Hilfe von Angehörigen oder engen Freunden zurückgreifen können. Tatsächlich haben laut Alterssurvey nur noch ein Viertel der Älteren erwachsene Kinder am gleichen Ort.
Aber auch für die, die ihre Heimat nicht verlassen, verändert sich die Welt. Fremde ziehen zu – als Arbeitssuchende, Migranten oder Flüchtlinge. Geschäfte verschwinden, in der Kneipe wechselt die Speisekarte, Nachbarn sprechen eine andere Sprache. So kann die alte Heimat fremd werden – und damit das „Identifikationsgehäuse“, der Ort, wo wir uns geistig, emotional und kulturell zu Hause fühlen. Während Post und Sparkassen sich zurückziehen, finden wir noch überall Kirchen und Gemeindehäuser. Manchmal stehen sie halbleer– und die Nachbarn, die beobachten, wie Schulen und Krankenhäuser geschlossen oder Nahverkehrsstrecken stillgelegt werden, fragen sich, was daraus wird.
Ich erinnere mich an eine Kirche in der Innenstadt von St Louis in den USA. Sie hatte eine Weile leer gestanden – das Viertel war heruntergekommen und wer es sich leisten konnte, war an den Stadtrand gezogen. Aber anders als den Bischof von London war dieser amerikanischen Gemeinde nicht egal, was mit ihrer Kirche passierte – und wie es den Leuten in ihrem alten Quartier ging. Sie öffneten die Kirche für die neuen Nachbarn, meist Latinos und Farbige. Nun gab es Kinderbetreuung und Selbstverteidigungskurse, Drogenberatung und einen Mittagstisch – und immer noch Gottesdienste für alle, mit allen. So wie im Wiki, dem Wichlinghauser Gemeindezentrum in Wuppertal. Dort hat die Diakonie eine alte Kirche übernommen – mit Stadtteilarbeit, Jugendarbeit, Pflegeangeboten und Gemeindegruppen. Die sind hier ein Fachbereich des Diakonischen Werkes – und anders als in anderen Städten gibt es keine Reibung und keine Bitterkeit. Das Wiki ist quicklebendig und die Gemeinde ist stolz darauf.
In den Anfängen der neuzeitlichen Diakonie verstanden sich Herbergen für Kranke, Fremde oder Obdachlose als Orte der Gastfreundschaft, wo Menschen auf ihrem Lebensweg Station machen und auftanken konnten. Heute können auch Kirchengemeinden Oase sein in den Wüsten des mobilen Alltags. Wo Menschen ihre Geschichten teilen, wo sie spüren, dass sie gemeinsame Probleme haben und sich füreinander einsetzen, da können sie einander ein Stück Heimat geben. Gemeinde als Herberge. Der holländische Theologe Jan Hendriks hat dieses Modell in den 1980er Jahren entwickelt. Die offenen Stadtkirchen und Vesperkirchen, die Diakonieläden in den Quartieren wollen genau das sein: Herbergen am Weg. Hier wachsen Verbundenheit und Zugehörigkeit über Begegnungen, Beziehungen und Engagement.
Für Friederike Weltzien wird das in der Gemeindeküche spürbar. Die Stuttgarter Pfarrerin hat lange im Libanon gelebt und spricht arabisch. Als im Herbst 2015 die Turnhalle mit hundert Flüchtlingen belegt wurde, öffnete die Gemeinde die Türen. „Und es stellte sich heraus, dass das größte Bedürfnis der Menschen war, selber Essen zu kochen, etwas, was sie kennen und was ihnen schmeckt.“, erzählt Friederike Weltzien. „Also wurde jeden Dienstag für achtzig bis neunzig Leute gekocht. Die Hilfsbereitschaft war groß, Gelder mussten gesammelt werden, die Lebensmittel eingekauft und die Tische gedeckt und dann auch wieder alles abgeräumt, gespült und gesäubert werden. In der Küche trafen die Kulturen aufeinander. Dinge veränderten sich, zunächst gab es viel Aufregung in der Gemeinde und auch Sorgen und Ängste. Inzwischen finden im Ramadan gemeinsame Iftar-Feiern statt. Und auf einmal werden religiöse Themen ganz zwanglos miteinander diskutiert und besprochen und erlebt. „Für mich ist die Gemeindeküche ein spiritueller Ort“, sagt Friederike Weltzien.
Auch in anderen Gemeinden ist die Küche zum heimlichen Zentrum geworden. Meine Nachbargemeinde gehört zu den vielen, wo alleinstehende Rentnerinnen zweimal die Woche einen gemeinsamen Mittagstisch haben. Auch da wird reihum gekocht. Und zwischendurch trifft man einander beim Einkaufen, hilft sich auch mal im Alltag, ruft sich an. Bei den über 70-jährigen ist der Anteil der Frauen, die den Führerschein besitzen, noch immer nicht so hoch wie in jüngeren Altersgruppen. Sie sind schnell in ihrem Bewegungsradius eingeschränkt, wenn der Auto fahrende Partner pflegebedürftig wird oder stirbt. So gewinnt der Nahbereich zunehmende Bedeutung. Und damit auch die Kirchengemeinde, die oft noch fußläufig erreichbar ist. Inzwischen gibt es dort Erzählcafés und Biografiewerkstätten. In Hamburg-Eilbeck gibt es eine Sütterlinstube, wo Ältere für Übersetzungsdienste zur Verfügung stehen, anderswo entstehen Schmökerstuben bei Café und Musik in der Gemeindebücherei – ganz ähnlich, wie es jetzt auch Stadtteilbibliotheken anbieten. Und Stadtspaziergänge mit Rollstuhl und Rollator wie den Wägelestreff in Gültlingen.
Was aber, wenn die Wege zu weit sind? In der evangelischen Kirchengemeinde Lindlar im Rheinisch-Bergischen Kreis entschied sich der Kirchenvorstand für einen radikalen Neuanfang. Viele Gemeindemitglieder waren älter geworden, sie brauchten Hilfe, um das Haus zu verlassen. Es fehlten alternsgerechte Wohnungen, Haushaltshilfen, aber auch ein Ort der Begegnung zwischen den Generationen. Die Kirche mit dem Gemeindehaus lag geradezu unerreichbar auf einem Hügel. So entschied sich der Kirchenvorstand, das Pfarrhaus abzureißen und einen Teil des Landes verkaufen. In Zusammenarbeit mit einer kirchlichen Wohnungsbaugenossenschaft wurden barrierefreie Wohnungen errichtet. Und von dem erzielten Gewinn wurde das Jubilate-Zentrum errichtet – ein Treffpunkt der Generationen. In das Wohnprojekt zog ein Pflegedienst ein und, das war der Clou des Ganzen, mit Hilfe des Kuratoriums Deutsche Altershilfe (KDA) wurde ein Aufzug hinunter in die Innenstadt gebaut, damit auch Ältere wieder die Chance hatten, gut zum Einkaufen zu kommen. Das Konzept hat nicht nur die Gemeinde neu belebt, es hat auch ihren Einfluss in der Kommune gestärkt, den sie nun für die Entwicklung zur alternsgerechten Stadt nutzt.
Mehr und mehr denken Gemeindeleitungen wieder territorial. Sie nehmen das Quartier als Raum für Gemeindearbeit wahr – und denken dabei von den kleinen und großen Netzwerken aus. Wenn die Bürgerinnen und Bürger bei der Planung von Gemeindearbeit Ausgangspunkt sind, dann werden die Kirchen sich nicht aus Finanznot aus dem Quartier zurückziehen, sondern mit Phantasie und frischen Ideen Drittmittelfonds finden, um ihre Aufgaben wahrzunehmen.
3. Caring Communities: Was Gemeinschaft schafft
Nach dem großen Brand in Hamburg, 1846, konzipierte Johann Hinrich Wichern ein Wohnungsbauprogramm. Eine Art Gehöft mit 150 und 200 Wohnungen – in der Mitte eine Schule. Wie wichtig Bildung als Schlüssel zur Teilhabe ist, das hatte er mit der Sonntagsschularbeit selbst erlebt. Genauso wesentlich war ihm aber eine funktionierende Nachbarschaft und Zivilgesellschaft. Deshalb sollten sich die Bürgerinnen und Bürger in einem Kranken- und Begräbnisverein organisieren. Alleinlebende sollten in ein das „Familiengemeinwesen“ integriert werden. Es ging darum, den Benachteiligten einen Platz in der Gesellschaft und eine Perspektive für die Zukunft zu geben.
Heute haben wir es mit einer wachsenden Zahl älterer und assistenzbedürftiger Menschen zu tun. Wer bestimmte Zielgruppen unterstützen will – Demenzkranke, Menschen mit Behinderung, Pflegebedürftige oder Familien in Armut – der muss alle Akteure an Bord holen, die Angebote verknüpfen. Alternsgerechte und demenzfreundliche Städte, Inklusionsquartiere, die soziale Stadt und compassionate Cities leben von einem Ineinandergreifen unterschiedlicher Hilfen. Wo die Kommunen zunehmend überfordert sind, verbindet sich mit der Quartiersarbeit die Hoffnung auf eine neue Kooperation zwischen dem ausblutenden öffentlichen und dem privaten Bereich, zwischen Wirtschaft, zivilgesellschaftlichen Initiativen und Trägern sozialer Dienste. Dafür braucht es vor allem ein neues Denken. In unserer individualisierten Gesellschaft mit all ihren funktionalen Diensten geht es darum, ganzheitlich, vernetzt und feldorientiert zu arbeiten. Dabei lässt sich an den Netzwerken der Bürgerinnen und Bürger anknüpfen- den Begegnungen in Schulen und Wartezimmern, beim Einkaufen oder im Sportverein, in Kitas und Konfirmandenarbeit.
Auf dem Marktplatz vor der Kirche in Rotenburg steht ein Bronzedenkmal, ein Frau in der Tracht der alten Gemeindeschwestern. Mir fällt auf, dass sich noch immer Menschen nach der alten Gemeindeschwester zurücksehnen. Ganz offenbar hat das damit zu tun, dass die Herausforderungen, vor denen wir stehen, in manchem denen des 19. Jahrhunderts ähneln- auch wenn die Menschen im Durchschnitt deutlich wohlhabender sind. In der Zeit der Industrialisierung brachen für viele Menschen die sozialen Zusammenhänge, die sie getragen hatten, zusammen. Die Schattenseite der neuen Produktivität, des Anwachsens der Städte und des steigenden Wohlstandes waren Arbeitslosigkeit und Armut, Wohnungsnot, überforderte Familien und schließlich unversorgte Kranke und Sterbende. Hohe Mobilitätsanforderungen und Erwartungen an Flexibilität, das Gefühl der Beschleunigung gehören auch heute zum Design unserer Gesellschaft genauso wie die Schattenseiten: mangelnde Vereinbarkeit, Familien, deren Mitglieder immer weiter entfernt voneinander leben, Pflegeprobleme. Wer über ein ausreichendes Einkommen und ein gut geknüpftes soziales Netz verfügt, wird den neuen Herausforderungen mit Gelassenheit begegnen. Viele allerdings fühlen sich allein gelassen und überfordert.
In den Nachbarschaften und Gemeinden werden also Menschen gebraucht, die zupacken, Netzwerke knüpfen, Plattformen gründen und Räume öffnen, damit Bürgerinnen und Bürger einander gegenseitig helfen können. Der Erfolg von Netzwerken wie nebenan.de zeigt: das geht auch digital. Aber es genügt nicht, eine Plattform zu installieren – weder digital noch analog. Untersuchungen von Martina Wegner aus München zeigen, dass sich auf diese Weise immer nur die gleichen beteiligen: die hochengagierte Mittelschicht mit ihren eigenen Interessen. Wenn wir die erreichen wollen, die ihre Rechte nicht selbstverständlich wahrnehmen, sind intermediäre Organisationen nötig: Schulen, Kirchen, Wohlfahrtsverbände, Parteien. Genau die sind aber in den letzten Jahren auf dem Rückzug.
Es kann (aber) nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden, dass die Selbstorganisation von Bürgern und Bürgerinnen, etwa in der organisierten Nachbarschaftshilfe, aber auch in Seniorengenossenschaften und in Bürgervereinen ohne Hilfe „von außen“ auskommt. Vielmehr benötigen solche Formen der Selbstorganisation in der Regel Anstöße, Förderung und Unterstützung auch durch die Kommune“, heißt es im 7.Altenbericht. Als „Sparmodell“ ist die aktive Bürgergesellschaft nicht geeignet, auch wenn sich immer mehr Menschen engagieren und der Einsatz Ehrenamtlicher gesellschaftlich hoch willkommen ist. Von der Demenzbegleitung bis zu den Alltagshilfen rechnen Hospizarbeit, Altenhilfe und ambulante Pflege mit diesen Diensten.
Längst gibt es eine Grauzone zwischen dem klassischen Ehrenamt und prekären Beschäftigungsverhältnissen mit Übungsleiterpauschale, Freiwilligendiensten und Minijobs. Auch in der Nachbarschaftshilfe arbeiten Rentnerinnen und Rentner auf dieser Basis mit. Viele von ihnen könnten es sich nicht leisten, nur für Ehre und Anerkennung zu arbeiten. Andererseits steckt eine große Chance darin, wenn Menschen sich über ein Ehrenamt eigene Netzwerke aufbauen, neue Kompetenzen entwickeln und letztlich an Selbstachtung gewinnen. Gemeinden müssen sich fragen: Was ist nötig an finanziellem Einsatz, aber auch an hauptamtlicher Unterstützung, um Menschen zum Engagement zu ermutigen? Und wie verknüpfen wie berufliche und freiwillige Dienste so, dass die Dignität beider Dienste gewahrt bleibt?
Sabine Pleschberger von der Universität Graz untersucht zurzeit informelle außerfamiliäre Hilfen in der Pflege. Auch dort zeigt sich: Der soziale Nahraum, der sich durch individuelle Hilfen, durch Nähe, Freiwilligkeit, Wechselseitigkeit auszeichnet, braucht die Ergänzung durch bedarfsorientierte, qualifizierte und organisierte Hilfesysteme. Die Förderung „Sorgender Gemeinschaften“ muss eingebettet sein in Sorgestrukturen. Dabei lässt sich von der Gemeindeschwester lernen. Einfach übertragen lässt sich das Modell allerdings nicht mehr – es fußte auf der freiwilligen kostenlosen Wohlfahrtstätigkeit von Frauen und entstand in einer Zeit, als alle Bürgerinnen und Bürger zugleich Gemeindemitglieder waren und die Zahl der Institutionen und Vereine längst nicht die Pluralität hatten, die wir heute vorfinden.
4. Qualifiziert für Quartier – Kirche als dritter Ort
.Die diakonischen Aufbrüche im 19. Jahrhundert gingen vom Quartier aus und führten ins Quartier zurück – mit Wicherns Utopie eines neuen Wohnquartiers in Hamburg-St. Georg genauso wie mit Fliedners Gemeindeschwestern. Dann aber führt die Entwicklung des Sozialstaats über die Anstaltsdiakonie zur fallbezogenen Dienstleistung. Damit verbunden war ein Blick auf die Defizite, der zwischen Hilfebedürftigen und Helfern unterschied und zur Exklusion führte. Bis heute spiegelt sich die Trennung von Kirche und Diakonie in der Trennung der Klientel – auch dann, wenn alle Betroffenen Kirchenmitglieder sind. Die Klienten diakonischer Dienstleistungen fehlen meist in der Gruppengemeinde vor Ort –das gilt für Hartz-4-Empfänger genauso wie für Alleinerziehende, für Menschen mit Behinderung wie für pflegende Angehörige. „Die Hochbetagten, Dementen und Pflegebedürftigen sind von zunehmender Exklusion betroffen und brauchen Unterstützung, um auch weiterhin Teil der Gemeinde zu bleiben.
Mit dem Anspruch „Ich will leben und sterben, wo ich dazu gehöre“, hat Klaus Dörner seit den 70er Jahren gegen diese Exklusion gekämpft. Und damit einen Aufbruch anstoßen, der den Quartiersinitiativen des 19. Jahrhunderts gleicht. Angehörige, Nachbarn, Ehrenamtliche bringen ihre Perspektiven auf gelingendes und selbstbestimmtes Altern ein und verändern die Hilfesysteme. So entstanden die Mehrgenerationenhäuser und Demenz-Wohngemeinschaften.
Dabei spielen die sogenannten „jungen Alten“ eine besondere Rolle. Sie sind häufig lange am Ort, sozial und oft auch politisch engagiert und bringen breite Lebenserfahrungen und soziale Netze ein. Sie sind damit Teil einer neuen, generationenübergreifenden und gemeinwohlorientierten Bewegung. Sie fahren die Bürgerbusse, arbeiten in den Dorfläden mit und sind die Initiatoren der Sorgenden Gemeinschaften. Die Generation der 55- 69-jährigen engagiert sich im sozialen Ehrenamt und im lokalen Bürgerengagement. In Vereinen und Verbänden, aber zunehmend auch in Bürgerinitiativen und Genossenschaften. Bei „Rent a Grant“ arbeiten sie als Leihomas, in Mehrgenerationenhäusern geben sie den Kindern ein Stück Kontinuität in wechselnden Alltagsmustern. Sie sind es auch, die in vielen Fällen die kleinen Netze der Gemeinde aufrechterhalten und für die religiöse Erziehung ihrer Enkel gerade stehen. In unserer auf Wirtschaft, Erwerbsarbeit und Konsum fixierten Gesellschaft können Ältere deutlich machen: Arbeit ist mehr als Erwerbsarbeit; sie ist eben auch freiwilliges Engagement, bürgerschaftliche und politische Arbeit. Ältere bringen ein, was im Glück-Index zur wichtigsten Währung wird: Zeit. Sie haben die Fähigkeit, von sich selbst abzusehen- für andere da zu sein und ihre Erfahrungen in die Gesellschaft einzubringen. Damit wächst den Gemeinden eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu. Sie gewinnen an Bedeutung, wo sie diese Bewegung stützen- mit Hauptamtlichen wie mit Räumen. Es geht um ein anderes Leben, ein neues Miteinander, um Zusammenhalt und die Würdigung des Alters.
Freilich, nicht alle, die sich heute in Sorgenden Gemeinschaften engagieren, sind Kirchenmitglieder. Häufig hatten sie sich schon lange der Kirche entfremdet oder gehörten ohnehin nie dazu. Das unterscheidet unsere Gesellschaft von der des 19. Jahrhunderts. Aber Engagement öffnet auch heute für spirituelle Erfahrungen – das Beispiel von Friederike Weltzien zeigt das genauso wie das der Gemeinde in St. Louis. Immerhin zweiundzwanzig Prozent der ehrenamtlich Engagierten geben an, dass sie mit anderen über religiöse Fragen sprechen- bei den Nichtengagierten sind es weniger als 10 Prozent. Engagement öffnet Türen– unter einer Voraussetzung: Es sind Menschen nötig, die die Suche der anderen wahrnehmen.
Damit das gelingt, brauchen wir Begegnungsorte. Am besten solche, die keiner Gruppe eindeutig zuzuschreiben sind, wo sich die Verschiedenen ohne Hierarchisierung begegnen und ihre Anliegen aushandeln können. Orte, an denen wir nicht mehr „ Gäste und Fremdlinge“, sondern zu Hause sind. „Dritte Orte“ – offen, niedrigschwellig und kostenlos. Der indische Theoretiker Homi Bhabha hat das Konzept des „dritten Ortes“ entwickelt: Solche Orte sind leicht zugänglich und offen; eine Reservierung ist nicht nötig, die Teilnahme kostet nichts. Mit mit ihren Pfarrgärten, Gemeindehäusern, Nachbarschaftsläden kann die Kirche auch heute noch diese Rolle spielen- und Herberge sein für viele.
Bis in die 60er Jahre waren Gemeindehäuser Versammlungsräume und Vereinshäuser für alle. Heute werden sie oft als halb leerstehende Clubhäuser für Hochverbundene wahrgenommen. Das enttäuscht. Denn Beispiele aus Ostdeutschland von Kirchenkuratoren oder Orgelpaten, zeigen ganz ähnlich wie das aus Südlondon: Kirchen sind Orte der Zugehörigkeit. Deshalb geht es darum, die Türen zu öffnen– gerade da, wo andere Träger sich zurückziehen- und den frei gewordenen Raum mit anderen zu teilen. Vom Sportverein bis zur Musikschule, vom Mieterbund bis zur Beratungsstelle. In Gelsenkirchen-Hasselt zum Beispiel hat die Kirchengemeinde einen Bürgerverein gegründet und das Gemeindehaus zum Bürgerzentrum ausgebaut. Das Bonni, wie die Konfirmanden das Dietrich-Bonhoeffer-Haus nannten. Die Gebäude und Liegenschaften, die oft nur noch als überdimensioniert wahrgenommen werden, sind tatsächlich ein Asset für die Neugestaltung der Quartiere. Die Kirche gehört zum Quartier: mit ihren Gebäuden, mit ihren Klängen, aber eben auch mit ihren Menschen und mit deren Hoffnungen und Träumen und ihrem Einsatz für eine gerechte Welt. „[j]e nach Situation, nach Ressourcen und Begabungen, nach Kräften und gesellschaftlichen Möglichkeiten können Kirche und Diakonie verschiedene Rollen einnehmen. Um es mit dem Bild einer Filmproduktion zu sagen: Sie können Produzent, Regisseur, Haupt – oder Nebendarsteller, manchmal vielleicht auch nur Komparse sein. Wichtig ist, dass sie in ihrer Motivation und ihrem Profil erkennbar bleiben.“ In der Herberge sind wir manchmal Wirt oder Gastgeber und manchmal nur die Bedienung – aber darauf kommt es nicht an. Entscheidend ist, dass Menschen in unserer Nähe zu sich selbst kommen und einen Ort finden, an dem sie zu Hause sind. Dass wir einander Heimat geben.