„Inklusionsprozesse zwischen Anspruch und Wirklichkeit – Geschwisterlichkeit und Grenzerfahrungen in der Gemeinde“

Cornelia Coenen-Marx, Gesamtkonvent Kirchenkreis Hamburg- West/Südholstein, 23.11.2016

 

1. Gottes verletzliches Ebenbild – ein theologischer Auftakt

Wir sind ein buntes Völkchen: „Die einen müssen liegen, einige dürfen schon sitzen, andere sind so nicht behindert, dass sie andere Leute schieben. Das alles ist so. Das macht Schmerzen. Nichts davon wollen wir vertuschen. Und dennoch: Obwohl hier Behinderte und Nichtbehinderte beisammen sind – nicht als Behinderte und Nichtbehinderte sind wir beisammen, sondern als Gemeinde des dreieinigen Gottes“. Diese Sätze, die an ein Eingangsvotum erinnern, stammen von dem Theologen Ulrich Bach, der selbst an den Folgen einer schweren Polio-Erkrankung litt und dadurch zeitlebens auf den Rollstuhl angewiesen war. Er hat tatsächlich viele Gottesdienste in der diakonischen Einrichtung Volmarstein gehalten, wo er auch lebte: „Fragt nicht in erster Linie, was ihr könnt oder nicht könnt. Hört, was Gott Euch sein lässt“, sagt er. „Ihr gehört zusammen als die bunte Gemeinde Gottes“. Mit einer fast radikalen Konsequenz hat Bach unser Bild vom Menschen in das Licht des Evangeliums gerückt. „Boden unter den Füßen hat keiner“, heißt einer seiner Buchtitel (Bach 1980). Aber nicht nur das Menschenbild der Leistungsgesellschaft, sondern auch das Gottesbild gibt er zur Überprüfung frei. „Der Gottessohn braucht Hilfe“, schreibt er. „Dieser Satz wurde für mich zu einem Schlüssel für viele biblische Zusammenhänge. Wenn dieser Satz stimmt, dann ist Stärke kein absoluter Wert.“

Der Text ist inzwischen 35 Jahre alt, Ulrich Bach selbst lebt nicht mehr – aber ich habe den Eindruck, dass wir noch immer und vielleicht immer mehr in einer Gesellschaft leben, die die eigene Verletzlichkeit verdrängt und eher von Konkurrenz als von Kooperation bestimmt ist. „Unsere Gesellschaft toleriert keine Schwäche mehr“, schreibt Ariadne von Schirach in ihrem Buch „Du sollst nicht funktionieren“. Es richtet sich gegen die Zurichtung des Menschen in der Marktgesellschaft. Ich zitiere: „Gier, Geilheit, Größenwahn. Der dunkle Affe steckt in jedem von uns und will alles nehmen – erobern – beherrschen, was ihm vor die Augen kommt. Wenn sich diese angeborene Blödheit, mit der jeder einzelne täglich zu ringen hat, mit einem auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Weltbild verbindet, das solche Impulse nicht nur legitimiert, sondern auch fördert, dann ist es nicht verwunderlich, dass sich langsam ein Unbehagen breit macht… Eine Zeit, die den Wert eines Menschen mit seiner Leistungskraft gleichsetzt,… diskriminiert diejenigen, die zur Verwertung entweder noch nicht oder nicht mehr tauglich sind – und damit irgendwann uns alle.“ (von Schirach 2014)

Das Christentum kennt einen gekreuzigten und mitleidenden Gott. Die einfühlende Nächstenliebe ist sein Markenzeichen. Auf diesem Hintergrund sind schon im 19. Jahrhundert die diakonischen Dienste und Einrichtungen entstanden, denen es nicht nur um das Seelenheil, sondern auch um das körperliche und soziale Wohlergehen der Menschen ging: Pflegedienste, Krankenhäuser, Einrichtungen für Menschen mit Behinderung. Wie das gesamte Gesundheitswesen sind sie heute geprägt durch medizinisches Wissen, technische Unterstützung und ökonomische Steuerung. Viele Menschen gehen davon aus, dass Gesundheit herstellbar sein müsse – Produkt der modernen Medizin oder einer erfolgreichen Dienstleistung. Im schlimmsten Fall soll Krankheit verhindert werden – notfalls auch durch Abtreibungen oder In-Vitro-Fertilisation. Und unerträgliches Leiden soll beendet werden – notfalls auch durch einen assistierten Suizid. Der Psychiater und katholische Theologe Manfred Lütz spricht in diesem Zusammenhang von einer neuen Gesundheitsreligion in unserer Gesellschaft – Gesundheit, so sagt er, sei für uns unhinterfragt zum höchsten Gut geworden. Das habe aber eine gefährliche Kehrseite: die Unfähigkeit mit der eigenen Vergänglichkeit umzugehen.

„Menschen mit Behinderungen wissen, was es bedeutet, dass sich das Leben unerwartet von Grund auf verändern kann“, heißt es in einem Text des Ökumenischen Rates der Kirchen zum internationalen Jahr der Behinderten 2003 (Zentralausschuss des ÖRK, „Kirche aller“) der in einer Gruppe von Menschen mit Behinderung, ihren Angehörigen und Assistenten geschrieben wurde. „Wir waren in jenem Grenzbereich zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten, in dem wir nur zuhören und abwarten konnten. Wir hatten Angst und den Tod vor Augen und kennen nun unsere eigene Verwundbarkeit. Wir sind Gott in jener leeren Dunkelheit begegnet, in der uns bewusst wurde, dass wir „die Kontrolle“ über uns verloren haben, und wir haben gelernt, auf Gottes Gegenwart und Fürsorge zu vertrauen. Wir haben gelernt, bereitwillig anzunehmen, mit Freude zu geben, und dankbar für den Augenblick zu sein. Wir haben gelernt, Neuland zu gewinnen und einen neuen Weg für unser Leben zu finden, der uns noch nicht vertraut ist. Wir wissen, was es bedeutet, inmitten von Paradoxen zu leben, und wir wissen, dass einfache Antworten und Sicherheiten uns nicht tragen.“

Ein berührender Text – und eine Lektion, die wir irgendwann alle lernen müssen, wenn wir sie nicht schon gelernt haben. Manche von Geburt an, andere bei einem Unfall, wieder andere bei einer Krebserkrankung, einem Herzinfarkt oder bei Pflegebedürftigkeit. Übrigens sind die meisten Behinderungen im Lauf des Lebens erworben. Wir alle leben mit Verletzungen, mit Wunden und Narben. Wer durch solche Erfahrungen hindurch geht, kann sie als Stärke erleben: plötzlich wachsen uns ungeahnte Kräfte zu, wir verstehen Zusammenhänge, die uns verborgen blieben. Und dennoch versuchen wir meist, unsere Krisen und Verletzungen vor den Augen der Öffentlichkeit zu verbergen. Wir leben in einem Charakter- und Rollenpanzer, entsprechen den gesellschaftlichen Normen – wir funktionieren. Die Theologin Gunda Schneider-Flume spricht in diesem Zusammenhang von der „Tyrannei des gelingenden Lebens“ (Schneider-Flume 2008). Unsere Gesellschaft sei so sehr von Machbarkeitsvorstellungen bestimmt, dass suggeriert werde, wir hätten das Gelingen unseres Lebens in der Hand. Tatsächlich aber komme es eben darauf an, dass wir lernen, mit Grenzen zu leben.

Die Tyrannei des gelingenden Lebens, die Gesundheitsreligion, die Gleichsetzung des Menschen mit seiner Leistungskraft, die Definition von Stärke als Fitness muss uns als Kirche provozieren. Ulrich Bach hat Recht – es geht nicht nur um unser Menschen- und Weltbild, es geht um unser Gottesbild. „Wenn Christus das wahre Ebenbild Gottes ist, dann muss grundsätzlich nach dem Wesen Gottes, der sich in dem Ebenbild widerspiegelt, gefragt werden“, heißt es in dem ökumenischen Text „Kirche aller“ (These 28)..Das hilflose Kind in der Krippe, der gebundene und gefolterte Leib des Gekreuzigten – die Inkarnation Christi erinnert daran, dass Gottesebenbildlichkeit eben nicht nur Geist und Seele betrifft, sondern auch den Körper. (vgl. Markschies 2016) Ja, sie lenkt unseren Blick auf Gottes Körper, der im Leib Christi wie unserer verletzlich und vergänglich ist. „Kernstück christlicher Theologie“, meint deshalb Ulrich Bach, sei die „Achtung vor Schwachheit, Gebrochenheit und Verletzlichkeit – und in der Konsequenz Kritik an Erfolg, Macht und Perfektionismus.“ Ohne die uneingeschränkte Integration von Menschen mit Behinderung könne die Kirche deshalb nicht für sich in Anspruch nehmen, Leib Christi zu sein, heißt es in dem oben zitierten ÖRK-Dokument. „Ohne die Erkenntnisse derer, die aufgrund ihres Lebens mit Behinderung etwas beitragen können, werden die tiefsten, ureigensten Elemente der christlichen Theologie verfälscht oder verloren gehen.“

Ein hoher Anspruch – eine moralisch-theologische Keule für die Gemeindearbeit? Nun, als jemand, der einige Jahre in Sachen internationaler Ökumene in Nahost und Übersee unterwegs war, weiß ich nur zu gut, mit wie vielen anderen Häresien wir leben: Die bunte Gemeinde Gottes feiert an vielen Orten getrennt nach Ethnien, nach Herkommen und Kulturen; das gilt für Jerusalem und Nambia wie für Düsseldorf und vielleicht auch für Hamburg. Vielleicht ist es deshalb besser, mit ein paar ermutigenden Fragen auf die Möglichkeiten und die kleinen Anfänge zu schauen, wie es die Fragenbox zum Thema Inklusion anbietet: „Wo bietet denn Ihre Gemeinde Möglichkeiten, dass sich Menschen begegnen, die sich z.B. im Lebensalter, im Blick auf ihren sozialen Hintergrund, ihre nationale Herkunft oder ihre Beeinträchtigungen unterscheiden?“ Und „an welche Momente im Gemeindeleben erinnern Sie sich, in denen das Miteinander von Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit in besonderer Weise geglückt war?“

„Wir sind einander Gabe, wenn wir unser Leben in den Dienst stellen: Gott will uns ganz und dazu gehören auch unsere Beeinträchtigungen. In diesem Sinne zitiert der ÖRK Joh. 9,3: Wir sind so, wie wir sind, mit unseren Gaben und Grenzen, „damit die Werke Gottes an uns offenbar werden.“ (These 65). Der Gedanke, dass Krankheit und Behinderung Ausdruck von Schuld sind, wird damit ausdrücklich zurück gewiesen. Das gilt genauso für die EKD-Orientierungshilfe zur Inklusion, die vor zwei Jahren unter dem Titel „Es ist normal, verschieden zu sein“ erschienen ist. Auch das sichtbar beeinträchtigte Leben ist Teil der Normalität, aber gerade diese Erfahrung kann auch als Gabe verstanden werden – das meine ich nicht im Sinne der politisch korrekten Rede von den „anders Begabten“ Aber tatsächlich können Menschen mit Behinderung andere herausfordern, mit Störungen zu leben, neue Kommunikationsmöglichkeiten zu entdecken, neue Lebensmöglichkeiten zu erproben. Natürlich können wir hier nicht von Gabe sprechen, ohne zugleich von Grenzen zu reden – aber gilt das nicht grundsätzlich? In unseren Begabungen und Begrenzungen wird deutlich, dass und wie wir einander und Gott brauchen – und zwar ungeachtet der Fähigkeiten, die wir mitbringen. Verschiedenheit zu achten und Angewiesenheit anzuerkennen, „macht uns offen füreinander und verhilft uns zu tieferer und aufrichtigerer Selbsterkenntnis – es hilft uns in einem umfassenden Sinne zu verstehen, was es heißt, menschlich und bewusst (Ebenbild Gottes) sein“, heißt es im Text des ÖRK. Denn Gottebenbildlichkeit ist schließlich selbst ein Beziehungsbegriff (vgl. Liedke 2009).

Die Integration von Ausgeschlossenen und Randsiedlern kennzeichnet des Wirken Jesu. Er heilt vor den Augen der Öffentlichkeit und stellt damit die gängige Exklusion in Frage. Dass Kranke im Umfeld Jesu Anteil bekommen an Gottes heilender Kraft und von ihr berührt werden, gehört zu den wichtigsten Gründen für die Anziehungskraft und Ausbreitung des Christentums. Die antike Welt war schließlich überzeugt, dass Menschen mit Behinderung in die widergöttliche Sphäre des Todes gehören und aus der sozialen und kultischen Gemeinschaft ausgegrenzt werden müssen. Dass sie von Dämonen besessen sind, dass eine Strafe auf ihnen liegt – und dass sie gerade damit das Miteinander bedrohen. Das Handeln Jesu stellt diese Vorstellungen radikal in Frage. „Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht mitleiden könnte an unseren Schwachheiten“, heißt es im Brief an die Hebräer. (Hebr. 4,15).

Die Heilungen selbst bleiben Zeichenhandlungen, denn nicht an der Heilung hängt die Würde der Geheilten, sondern an der Wiederaufnahme der Beziehung – zu Gott wie zur Gemeinschaft. Vielleicht deshalb lehnte Ulrich Bach die Vorstellung, dass er in der Ewigkeit wieder einen gesunden Rücken haben sollte, als Zumutung ab: Er wollte im Rollstuhl auferstehen, weil seine Würde wohl gerade darin lag, anderen so, wie er lebte, etwas geben zu können.

 

2. Inklusion – ein neues Paradigma für Kirche und Diakonie?

Als vor zwei Jahren die EKD-Orientierunghilfe zur Inklusion erschien, hatten viele das Gefühl, hier hinke die Kirche wieder einmal hinterher. Denn Inklusion war zum Leitbild eines umfassenden gesellschaftlichen Wandels geworden. Separierungen sollen überwunden, Vielfalt wertgeschätzt und Teilhabe für alle gleichberechtigt ermöglicht werden. Es geht darum, niemanden als „Anderen“ oder „Fremden“ auszugrenzen ‑ etwa weil er oder sie einen anderen ethnischen oder kulturellen Hintergrund hat, zu einer religiösen oder zu einer sexuellen Minderheit gehört oder eben mit einer Behinderung lebt – es geht um das zentrale Lebensprinzip einer pluralen Gemeinschaft.

Die UN-Behindertenrechtskonvention hat entscheidende zur Verbreitung dieses Konzepts beigetragen. Als Ziel formuliert sie die „volle und wirksame Partizipation und Inklusion“ (Art. 3) von Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen. Ihre grundlegenden Forderungen lauten:

  • Anerkennung von Menschen mit Behinderungen als gleichberechtigte und gleichwertige Bürgerinnen und Bürger der Gesellschaft,
  • Verwirklichung der vollen und wirksamen gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen unabhängig von Art und Schweregrad ihrer Beeinträchtigung,
  • Achtung der Würde und Autonomie von Menschen mit Behinderungen,
  • Respekt vor der Unterschiedlichkeit und die gesellschaftliche Wertschätzung der Menschen mit Behinderungen.

Die Bundesrepublik Deutschland hat die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2009 einstimmig in Bundestag und Bundesrat ratifiziert. Inzwischen hat sich das Konzept aber wenigstens zum Teil aus seinem Bezug zu Menschen mit Behinderungen gelöst und wurde zu einem generellen Prinzip für den gesellschaftlichen Umgang mit Vielfalt. In den Blick kamen auch die zunehmende Spaltung zwischen Armen und Reichen in unserer Gesellschaft, die Genderfrage, das Miteinander der Generationen sowie die Herausforderungen kultureller und religiöser Vielfalt angesichts einer verstärkten Migration. Inklusion ist dabei keineswegs nur eine Sache von Expertinnen und Experte; schließlich geht es um gerechte Teilhabe und der Entwicklung einer Kultur gegenseitiger Akzeptanz und Wertschätzung. Inklusion soll als Überzeugung und Haltung in den Köpfen und Herzen aller Menschen im Gemeinwesen ankommen und die Praxis im täglichen wie im professionellen Handeln bestimmen.

Unter der Perspektive der Inklusion verändert sich der Blick auf Behinderung. Stand früher ein Bild von Behinderung im medizinischen Sinne im Fokus, das gesundheitliche Probleme der Einzelnen hervorhob, wird heute die Beeinträchtigung von Teilhabe als soziale Behinderung verstanden. Damit wird der Blick auf gesellschaftliche Systemänderungen gelenkt. Es geht darum, alle Menschen in die Lage zu versetzen, mit anderen in soziale Beziehung zu treten, persönliche Bindungen einzugehen und sich selbst als Teil des normalen öffentlichen Lebens erfahren zu können, ohne Barrieren überwinden zu müssen und ohne Vorurteilen oder abwertenden Einstellungen zu begegnen. Es bedeutet, nicht auf Mitleid angewiesen zu sein, um die erforderliche Unterstützung und Hilfe zu erhalten.

Unter der medizinischen Perspektive auf Behinderung kommen also Funktionseinschränkungen in den Blick. Daraus resultiert in der Regel die Überweisung zum einem Spezialisten, in eine Spezialeinrichtung. Im Mittelpunkt steht der Gedanke: Diese Person ist behindert. Ein am Konzept der Inklusion geschulter Blick nimmt vor allem die hemmenden Rahmenbedingungen wahr. Im Mittelpunkt steht der Gedanke: Ein Mensch wird behindert! Entsprechend wird die Veränderung der Gegebenheiten, die Leben behindern, in den Blick genommen. Es sind eben nicht nur die sprichwörtlichen Bordsteine, die behindern. Unsicherheiten bei der Begegnung und überkommene Vorurteile stellen mindestens ebenso hohe Hürden dar. „Ist allen bewusst, dass durch mangelndes Zutrauen und Ungleichbehandlung neue Barrieren entstehen können?“, fragt deshalb eine Karte in der Fragenbox zur Inklusion.

Mit diesem Verständnis ist die Abkehr von der Defizitorientierung und bevormundender Fürsorge verbunden. Es geht um die Einlösung von Rechten, die für alle Menschen in gleicher Weise gelten, und nicht um Wohltätigkeit, um individuelle oder kollektive „gnädige Herabneigung“ zu Schwachen und Hilfebedürftigen. Eine der geistigen Mütter des Paradigmenwechsels, die Philosophin Martha Nussbaum, rückt in ihrem Konzept der Teilhabe und Gerechtigkeit die Würde und die Fähigkeiten jedes einzelnen in den Mittelpunkt (Nussbaum 2010). Denn unser Selbstbewusstsein und unsere Würde verbinden sich mit der Erfahrung, etwas zum Ganzen beitragen zu können. Für Martha Nussbaum gehört dazu die Fähigkeit, das eigene Denken zu entwickeln; alle Menschen brauchen deshalb Angebote zu Bildung und Ausbildung. Die fehlenden Schulen für Menschen mit schweren Behinderungen in der ehemaligen DDR haben gezeigt, wie wenig selbstverständlich das ist. Genauso zentral ist die Fähigkeit, sich selbst zu versorgen, auf die eigene Gesundheit zu achten, für die eigene Wohnung zu sorgen. Es gibt Lebenssituationen, in denen wir dazu Unterstützung und Assistenz brauchen, aber das muss die Selbstbestimmung nicht einschränken. In Wohngemeinschaften ist solche Selbständigkeit möglich, in stationären Einrichtungen kaum. Jeder, der Angehörige im Pflegeheim besucht und begleitet hat, weiß, wovon ich spreche. Auch Bewegungsfreiheit und Mobilität gehört zu unseren Grundbedürfnissen – daran ändert sich nichts, wenn wir auf Rollstuhl oder Rollator angewiesen sind. Aber je verletzlicher wir sind, umso eher brauchen wir Schutz vor Gewalt und sexuellen Übergriffen. In vielen Fällen waren und sind Mädchen Behinderungen die ersten und verschwiegenen Opfer .Es gehört auch zum Menschsein, Bindungen aufzubauen, zu Menschen und zu Dingen – zu lieben, zu trauern, Dankbarkeit und Zorn zu empfinden. Wir brauchen das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, aber auch die Anteilnahme an der Natur, auch an Tieren und Pflanzen. Und schließlich müssen wir die Möglichkeit haben, uns einzumischen, wenn es um die Gestaltung unseres eigenen Lebensraums geht – in der Nachbarschaft, in Gemeinde und Politik. Neulich bin ich einer Gruppe von jungen Menschen mit Behinderung begegnet, die eine Veranstaltung in ihrem Rathaus besucht und sich an der Diskussion beteiligt hatten: sie strahlten von neuem Selbstbewusstsein. Das alles brauchen wir, um Selbstachtung zu empfinden.

Hilfesysteme müssen diese Fähigkeiten unterstützen. Sie dürfen sie nicht schwächen. Sie dürfen nicht entmündigen. Von diesem Impuls lebte Ende der 60er Jahre im Westen die Auflösung der großen Heime der Jugendhilfe zu kleinen Familiengruppen, das trieb die Gemeindepsychiatriebewegung in den 70ern und die Hospizbewegung in den 80ern voran, und es führt seit 10 Jahren zur Ambulantisierung der Behindertenhilfe und zur Veränderung in der Altenhilfe. Damit verbindet sich eine kritische Sicht auf da vorfindliche Sozialsystem – und auch in dieser Hinsicht geht es bei der Inklusion um einen Paradigmenwechsel.

Im deutschen Sozialstaat hat, wer hilfebedürftig ist, einen Rechtsanspruch auf Hilfe, der sich an der jeweiligen Notlage bzw. an den Bedarfen misst. Dabei macht es einen erheblichen Unterschied, ob jemand akut oder chronisch krank ist, eine Behinderung hat oder pflegebedürftig ist. Denn die im Sozialgesetzbuch geregelten Ansprüche sind meist defizitorientiert und nur sekundär auf Teilhabe- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten ausgerichtet. So gibt es zwar in der Jugend- und Behindertenhilfe, die in kommunaler Hoheit ist, eine Quartierskomponente, um die Teilhabe zu stärken – in der Pflege an älteren Menschen fehlt sie aber noch immer. Zudem führen die unterschiedlichen Systematiken zu „Verschiebebahnhöfen“ zwischen den Kostenträgern, denen die Einzelnen schon wegen der Unübersichtlichkeit ausgeliefert sind. So „landen“ nicht nur alte, sondern auch junge Menschen mit Behinderung in einer Pflegeeinrichtung, weil der Platz günstiger ist als der in einer Einrichtung der Eingliederungshilfe. Und am Ende bleibt auch, wer einen Rechtsanspruch wahrnimmt, „Hilfeempfänger“. Daran ändert schließich die Tatsache nichts, dass inzwischen von Kunden der sozialen Dienste gesprochen wird.

 

3. Jeder Mensch gilt – eine kritische Erinnerung

Als Kirche und Diakonie sind wir in die Geschichte dieses Sozialstaats zutiefst verwickelt. Gleich, ob es um Rettungsanstalten oder Obdachlosenarbeit, um Einrichtungen für Körperbehinderter oder später auch um die Gründung psychiatrischer Heime ging, es waren fromme Christinnen und Christen und diakonische Vereine, die die ersten Einrichtungen schufen. Vom Rauhen Haus bis nach Kaiserswerth – dahinter stand feste Überzeugung, dass – wie es in einem Kirchenlied hieß – auch die von Gott berufen sind, die „blind und lahm und Krüppel sind“. Spezialeinrichtungen wurden geschaffen – mit Medizin und Pflege, mit Schulen und Arbeitsmöglichkeiten. Ganz auf dem Stand der medizinischen und pädagogischen Forschung – aber, wie damals üblich, gefangen in einem Standesdenken, dem noch heute unser Schulsystem mit den verschiedenen Stufen von der Förderschule bis zum Gymnasium entspricht. Sogar neue Orte wurden entwickelt wie in Bethel oder Hephata, die auch den Aufgegebenen und Diskriminierten Wahlfamilien und ein Zuhause bieten sollten. Erst heute ist uns bewusst, dass die Exklusion, die damit verbunden war, eine gefährliche Rückseite hatte. Denn mit den Anstalten, die meist vor den Städten lagen, verschwanden auch die Menschen aus den Familien und den Gemeinden – und mit ihnen das Bewusstsein für Verletzlichkeit und Angewiesenheit. Die Gesundheitsreligion, von der oben schon die Rede war, der Utilitarismus im Gesundheits- und Sozialwesen feierte schon in der Weimarer Republik fröhliche Urstände – auch in der Diakonie. Das Erschrecken über die Beteiligung von Anstaltsleitungen an der Vernichtung so genannten unwerten Lebens im Dritten Reich hat nach dem Krieg und erst Recht seit den 60er Jahren zum Umdenken geführt – auch in Diakonie und Theologie. Aus dieser Perspektive entwickelte dann Ulrich Bach seine „Theologie nach Hadamar“. Die Landesheilanstalt Hadamar in Hessen war 1941 eines der Zentren der Tötungsaktionen im Rahmen des fälschlich so genannten „Euthanasie“-Programms. Bachs „Theologie nach Hadamar“ folgt dem Grundsatz „Jeder Mensch gilt“.

In den letzten 25 – 30 Jahren haben sich die sozialen Dienste in Deutschland noch einmal grundlegend verändert – man kann diesen Prozess als Privatisierung Vermarktlichung, aber auch als Auflösung der Anstalten oder auch als Ambulantisierung bezeichnen. Dienstleistungen sind an die Stelle von Einrichtungen getreten. Man kommt nicht mehr in eine Station oder Einrichtung, man schließt einen Vertrag über ein individuelles Hilfepaket – im Krankenhaus über Operation und Station, im Jugend- und Behindertenhilfe über Wohnung, Arbeit, Coaching und Mobilität. Dabei geht es letztlich darum, das Soziale eben nicht mehr nach unterschiedlichen Defiziten zu denken, sondern entlang der Lebensvollzüge, die jeden von uns betreffen: Wohnen und Arbeiten, um Bildung und Gesundheit, um Mobilität und Zugehörigkeit und um selbstbewusste Beteiligung. Dieses Konzept liegt nicht nur bei der Inklusion von Menschen mit Behinderung zugrunde – auch bei den Netzwerken für ältere Menschen geht es um nichts anderes. Das SONG-Netzwerk der Bertelsmann-Stiftung z.B. oder Wohnquartier hoch 4 der Diakonie und Erwachsenenbildung RWL organisiert sich nach den wesentlichen Bedarfen bei Wohnungen, Bildungs- und Freizeitangeboten, Gesundheit und Pflege und Mobilität. Genauso wie Wohnquartier 8, das Inklusionskonzept von Alsterdorf. Konsequent weitergedacht für die unterschiedlichen Zielgruppen der Inklusion bedeutet das: Wir brauchen barrierearme Wohnungen für Menschen mit Behinderung, für Ältere wie für Familien – gemischte Quartiere also. Eine gute öffentliche Verkehrsinfrastruktur, Einkaufsmöglichkeiten, Ärzte und Treffpunkte vor Ort.

Damit wird klar: das Soziale neu zu denken, eine neue Subsidiarität zu entwickeln, ist eine große Herausforderung. Es ist richtig, nicht von den Einrichtungen und Dienstleistern, sondern von den Hilfebedürftigen her zu denken. Es muss darum gehen, jeden Menschen in seinen ganz individuellen Fähigkeiten zu fördern und in seiner Selbstbestimmung zu unterstützen. Damit wächst die Autonomie der „Verbraucher“, ihre Eigenverantwortung und Selbststeuerung – und das entspricht der Sehnsucht nach Eigenständigkeit, der Befreiung aus überkommenen Fürsorgestrukturen. Aber zu den Widersprüchen dieser Entwicklung gehört, dass der Markt heute Zugänge regelt, die in früheren Zeiten durch Herkunft, Tradition und Konfession, durch Milieus und Netzwerke bestimmt waren. Das hat Freiheit geschaffen, aber es bedeutet auch, dass den weniger Zahlungskräftigen Zugänge erschwert oder verwehrt werden. Viele fürchten, dass die begrenzten Ressourcen am Ende zu einer neue Exklusion und Exklusivität führen. Und die Spaltung zwischen arm und reich, Gebildeten und Bildungsfernen, Autochthonen und Zugewanderten schreitet ja fort.

So wichtig also Selbstbestimmung ist – was nutzt die Autonomie, wenn das Gefühl von Zugehörigkeit und Heimat verloren geht? Was nutzt die Freiheit, wenn die Unterstützungssysteme erodieren? Wird Inklusion nicht zur Mogelpackung, wenn die Kommunen die nötige Beteiligung gar nicht leisten können? Die Enttäuschung der Betroffenen über das neue Teilhabegesetzt zeigt: angesichts unübersichtlicher politischer Rahmenbedingungen, ungeklärter Schnittstellen im Sozialversicherungssystems und leerer kommunaler Kassen könnte aus der Vision der Inklusion ein Sparprozess werden. Dabei sind es die Kommunen und auch die Kirchengemeinden, die in besonderer Weise herausgefordert sind. Denn all die Lebensvollzüge, um die es eben ging: Wohnen, Bildung, Betreuung und Freizeit finden jetzt nicht mehr in irgendwelchen Sondereinrichtungen sondern mitten unter uns in den Quartieren statt. Rein räumlich ist die Exklusion aufgehoben: Was bleibt ist eine neue Normalität der Verschiedenheit. Darauf gilt es mit den Konzepten für Gemeinden und Kommunen zu reagieren. „Wird sich gelegentlich bewusst gemacht“, fragt die Inklusions-Fragenbox, „wer in der Vorstellung der Beteiligten zum WIR zählt“? Eine merkwürdig formulierte Frage – aber sie zeigt, dass wir gar nicht anders denken können als vom Subjekt eines solchen „Wir“ aus, das die Anderen schon sprachlich zum Objekt macht. Das gilt es zu reflektieren und damit immer neu zu überwinden.

Dabei geht es um wechselseitige Unterstützung und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen – für sich selbst, für andere und auch für die gesellschaftliche Entwicklung. Fast zeitgleich mit der Perspektive der „Inklusion“ ist wohl nicht zufällig ein weiterer Begriff in die Debatte gebracht worden: Die „Caring Communities“ zu einem internationalen Leitbegriff gesellschaftlicher Entwicklung geworden. In Deutschland ist von „Sorgenden Gemeinschaften“, von „Sorgenden Gemeinden“ oder auch von „Verantwortungsgemeinschaften“ die Rede. Dabei geht es um ganz verschiedene Lebensbereiche: Um die Förderung der Kleinsten und um Unterstützung für Ältere, um Netzwerke für Menschen mit Behinderung, aber auch um Willkommensangebote für Geflüchtete und um Sterbende und Trauernde (Kellehear 2005). Der Gedanke der Sorgenden Gemeinschaften setzt bei ganz konkreten Erfahrungen an: In Hospizvereinen und an den Tafeln, in Mehrgenerationenhäusern und Nachbarschaftszentren, bei Seniorennetzwerken und Mentorenprogrammen, in Nachbarschaften und Vereinen engagieren sich Menschen gemeinsam für andere. Und wer sich engagiert, gewinnt zugleich neue Beziehungen und eigene Netzwerke, Lebensvertiefung und soziale Kompetenzen. In der Zivilgesellschaftsbewegung sprechen wir deshalb inzwischen von einem „Recht auf Engagement“ – auch für Menschen mit Behinderung. Ich denke an die Projekte des Stadtkirchenverbands in Essen, die z.B. junge Leute mit Behinderung als Museumsführer ausbilden.

Manche sehen in der Proklamation der „Sorgenden Gemeinschaften“ aber auch ein Signal für einen weiteren Rückzug des Staates. Angesichts der leerer werdenden öffentlichen Kassen ist ja der Einsatz von Ehrenamtlichen etwa in der Tafel-, Hospiz- und Flüchtlingsarbeit gesellschaftlich hoch willkommen. Zugleich ist aber gerade letztes Jahr auf dem Höhepunkt des Zuzugs von Geflüchteten deutlich geworden, wie problematisch die Ausdünnung von Sozialverwaltungen oder auch die Privatisierung des ehemals öffentlichen Wohnraums tatsächlich ist. Ehrenamtlich Engagierte, die Koordination von Flüchtlingsunterkünften übernahmen, weil Stadtverwaltungen personell überfordert waren, haben sich dazu entsprechend kritisch öffentlich geäußert. Inzwischen ist für jeden ersichtlich, dass Sorgende Gemeinschaften auf Sorgestrukturen angewiesen sind, wenn es keinen gesellschaftlichen Rückschritt in Richtung Deprofessionalisierung und Romantisierung gegenseitiger Solidarität geben soll, wie Thomas Klie zu bedenken gibt (Klie 2017).

Es geht also um eine „geteilte Verantwortung“, das produktive Zusammenwirken von Staat, marktorientierten Dienstleistern und zivilgesellschaftlichen Netzwerken, von Kommune, Kirche und Diakonie. Gemeinschaft bedeutet aber mehr – Gemeinschaften sind geprägt durch Zugehörigkeit, gemeinsame Werte und Verantwortungsbeziehungen, wie wir sie aus Familien, Nachbarschaften, Freundeskreisen oder Wohngemeinschaften kennen – und nicht zuletzt aus Glaubensgemeinschaften mit ihrer spirituellen Qualität.

 

4. Gemeinden als Netzwerke und Kooperationspartner im Quartier       

Mit der Ambulantisierung diakonischer Einrichtungen und von Programmen wie Soziale Stadt ist in den letzten Jahren eine neue Aufmerksamkeit für die Gemeindediakonie entstanden. Die Quartiersbewegung, die Gemeinwesendiakoniebewegung, Familienzentren, aber auch Angehörigennetzwerke nehmen den diakonischen Auftrag der Gemeinde neu in den Blick. Und Inklusion ist dabei ein wesentlicher Schlüssel zu einem neuen Miteinander von Kirche und Diakonie. Sie ermutigt zu neuen Erfahrungen in der Kooperation zwischen Gemeinden und Wohngruppen der Diakonie, zwischen Nachbarschaftsnetzwerken und Pflegediensten, zwischen Konfirmandenarbeit und Schulen mit Assistenz. Ich kenne eine Gemeinde, die seit Jahren regelmäßig Gottesdienste mit einer Werkstatt hält und die Vor- und Nachbereitung in die Konfirmandenarbeit einbezieht; anderswo öffnen die diakonischen Wohngruppen Türen zum lebendigen Adventskalender – wer genau hinschaut, entdeckt so viele Möglichkeiten. Dazu ist es nötig, dass die Gemeinde sich als gleichberechtigter Partner begreift und ganz konkret bedürfnisorientiert handelt. Das geht nur über Gespräch und Dialog – mit den Betroffenen wie mit deren professionellen Unterstützern. Der Zusammenhang von Bedürfnisorientierung und Partnerschaftlichkeit verhindert den Rückfall in Denkmuster, die ein starres Gegenüber von „Helfern“ auf der einen und „Bedürftigen“ auf der anderen Seite voraussetzen. Und macht ernst damit, dass wir als Geschöpfe Gottes aufeinander hin- und angewiesen. Es geht also nicht um „Angebote“ kirchlicher Leistungsträger für potentiell Hilfsbedürftige. Es geht auch nicht um die Kirche für andere, sondern um Kirche miteinander. Es geht darum, im Horizont des Evangeliums Gemeinschaft so zu organisieren, dass Menschen sich auf Augenhöhe begegnen und einander mit ihren vielfältigen Kompetenzen und Einschränkungen ergänzen können.

Eine innovative, gemeinwesenorientierte Strategie lebt davon, dass die überkommene Distanz zwischen Kirchengemeinden und Diakonischen Diensten überbrückt wird – und dabei haben wir es schon auf der professionellen Ebene mit Vielsprachigkeit und unterschiedlichen Perspektiven zu tun. Genauso wichtig ist es, die Kontakte zu denen zu verbessern, die wir in den Gemeinden bislang vorrangig als Klienten der Diakonie wahrgenommen oder eben nicht wahrgenommen haben – und zu den vielfältigen zivilgesellschaftlichen Initiativen, den Alzheimernetzwerken, den Eltern von Kindern mit Behinderung, den Initiativen gegen Armut und Ausgrenzung. Da fehlt es nicht an scharfen Analysen und an Gestaltungsideen. Und natürlich geht es schließlich darum, sich auch mit den außerkirchlichen Trägern und Initiativen im Gemeinwesen zu vernetzen. Vom Ärztehaus bis zur Dorfladenbewegung – von den Bürgerbussen bis zur Wohnungsgenossenschaft und auch mit der Handwerkerschaft. Es war die Kreishandwerkerschaft, die in einer Kommune ein Inklusionsnetzwerk gegründet hat – mit Schulen, Sportvereinen und der freiwilligen Feuerwehr. Kirche ist ein Baustein im pluralen Gemeinwesen und muss nicht alles schultern. Aber Platz nehmen an den runden Tischen, das sollte sie schon.

Letztlich geht es um die Überwindung der Zielgruppenorientierung und Versäulung – in der Diakonie als Wohlfahrtsanbieter ist sie oft durch die Refinanzierung festgelegt, in der Kirche aber nicht. Kirche hat immer noch Hauptamtliche, die ihre Zeit selbst einteilen und gestalten können und sie hat Räume, die sie dem Gemeinwesen zur Verfügung stellen kann. Sie muss bereit sind, die eigene Organisations- und Finanzlogik zugunsten einer neuen Kultur der Zusammenarbeit zu überwinden.

Es geht also bei Inklusion nicht um ein weiteres Thema, das sich auf die ohnehin schon volle Agenda drängt / so wie zuletzt die Familie und als nächstes die Arbeit mit Senioren. Es geht um ganz elementare Fragen, die in jeder Gemeindekonzeption Thema werden müssen. Gehören alle dazu, die in einer Gemeinde und einem Wohnviertel wohnen? Welche Gruppen im Wohnviertel sind besonders auf das Miteinander angewiesen? Ist Vielfalt ein Schatz, der gehoben werden soll – und wo sind die Grenzen der Gemeinschaft? Sind in der Kirche und im Sozialraum unterschiedliche Menschen und Institutionen miteinander verbunden? Und wo liegt dabei unser Schwerpunkt? Was können wir tun, um Barrieren in der Stadt und in den Köpfen abzubauen? Begegnen Menschen in der Gemeinde einander gleichberechtigt? Ist hier jeder und jede willkommen? Wer fühlt sich bei uns ausgeschlossen?

Meine Fragenbox hält dazu folgendes bereit: Stärkt die Kirchengemeinde das Zusammengehörigkeitsgefühl und die nachbarschaftlichen Beziehungen der Menschen am Ort? Gibt es Aktivitäten, die den Menschen das Leben in ihrem Wohnviertel angenehmer machen? Und beteiligt sich die Kirchengemeinde an übergreifenden kommunalen Gremien?

Lässt sich eigentlich die Haltung, die Ulrich Bach in Worte gefasst hat, von Volmarstein auf eine ganz normale Wohnortgemeinde übertragen? Wir sind ein buntes Völkchen, hieße das dann: einige sprechen unsere Sprache noch nicht, andere vergessen Worte und Sätze, einige wollen zwischendurch aufstehen, laufen und klatschen, andere brauchen eine Induktionsschleife, um zu hören. Das kann man sich vorstellen, oder? Oder wo sind unsere Grenzen, was Kompetenzen, Räume und Ressourcen angeht? Grenzen vielleicht auch der Sprache und Verständigung?

 

5. Gemeinsam mit Grenzen leben und das Leben feiern

Die Ärztin Beate Jakob hat viele Jahre im indischen Gesundheitswesen gearbeitet. Dabei ist sie besonders aufmerksam geworden auf das, was Gemeinden leisten kann – und wo das Krankenhaus seine Grenzen hat. Beate Jakob versteht Gemeinden als Orte des Zuhörens, wo mehr zu finden ist als praktische Hilfe oder das gemeinsame Finden von Lösungen. Wo zu spüren ist, dass Menschen bei einem sind, die neuen Mut und Energie geben. Und wo im gemeinsamen Gebet Gottes Geist als Kraftquelle spürbar ist.

„Mein Anliegen ist, dass in Gemeinden „geschützte Räume“ entstehen“, sagt sie. Im Englischen spricht man von „safe“ oder „sacred spaces“ und meint damit Orte/Räume/Begegnungsmöglichkeiten, an denen sich Menschen frei und offen begegnen und austauschen können, anstatt eine Rolle spielen zu müssen. Das kann zum Beispiel ein Gesprächsangebot sein, eine Angehörigengruppe oder eine Trauergruppe. Orte also, wo Menschen sich nicht als stark und als „Sieger“ präsentieren müssen, sondern auch einmal ihre Masken ablegen und ihre Schwachheit und Hilfsbedürftigkeit benennen dürfen. Dadurch wächst in Gemeinden auch das Bewusstsein, nicht eine Gemeinschaft von Starken zu sein, sondern von Un-Perfekten, die alle auf Gottes Gnade angewiesen sind“.

Dieser Ansatz gefällt mir – er stellt nun auch nicht die Gemeinden unter Leistungsdruck. Denn sie sind eben un-perfekt. Und auch bei der Inklusion klafft eine große Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Aber „das entbindet nicht von der Einleitung des Paradigmenwechsels. Die Realisierung gleichberechtigter Teilhabe aller Menschen und insbesondere von Menschen mit Behinderungen hat ganz unmittelbar mit dem Kirchsein von Kirche zu tun“ / mit Geschwisterlichkeit und mit Augenhöhe. Und deswegen geht es dabei eben nicht nur – oder vielleicht gar nicht zuerst um barrierefreie Räume. Es geht um die inneren Zugänge zu Gottesdienst und Konfirmandenarbeit oder auch zu Trauungen oder Segnungen und Taufen. Denn noch immer sind ja Partnerschaft und Familie im Blick auf Menschen mit Behinderungen hoch umstritten. Und vielleicht mehr als früher ist die Taufe eines behinderten Kindes ein Ereignis, das besonders sensibel und bewusst gestaltet werden will. Und was bedeutet eigentlich unsere starke Betonung des Wortes für diejenigen, die eher über leibliche Erfahrungen und über Berührung ansprechbar sind? Was heißt es in diesem Zusammenhang, dass das Wort Fleisch wurde – und wie lässt sich Inkarnation in unseren Liturgien sinnlich erfahren?

Wie werden Menschen mit anderer Muttersprache in die Aktivitäten der Gemeinde einbezogen, fragt meine Box. Und was hilft Ihnen, sich anderen Menschen zu öffnen – oder was hindert Sie?

Ich denke an das geistliche Zentrum für Menschen mit Demenz in Berlin. Dort hat ein Sozialunternehmer ein Tanzcafé für Demenzkranke eingerichtet hat. Mit Musik, die zurück in die goldenen 20er und 30er führt. Neben den wenigen Profis haben hier Arbeitslose, Hartz-IV-Empfänger und Ältere ihren Einsatzort gefunden. Eine Gemeinde auf dem Weg zur Caring Community. Und einmal im Monat wird zusammen Gottesdienst gefeiert: einfach, sinnlich und sehr lebendig. Menschen geben Zeit und setzen Phantasie ein, um ihn vorzubereiten – und viele davon sehen darin ein Stück Lebenssinn, auch für sich selbst.

Die Liturgie eines inklusiven Gottesdienstes zeichnet sich durch eine „Präsenz des sinnlichen Reichtums“ (Grethlein) aus. Mit Musik, Gesang, Spielszene, Tanz, Bild, Film, Symbol, Geruch, Geschmack und Bewegung werden möglichst viele Sinne angesprochen. So kann das Wort Gottes auf vielerlei Weise erfahrbar werden. In „leichter Sprache“, wo nötig auch unterstützt durch Gebärden oder Bilder, erreicht das Wort Gottes Herz und Verstand. Und Segen auch körperlich zu spüren durch Handauflegen, Salben, Fußwaschen und vieles mehr, ist nicht nur für Menschen mit Behinderungen wichtig. Versinnlichungen erden das Evangelium und vertiefen die Auslegung der Heiligen Schrift. Eigentlich brauchen unsere Gottesdienste heute verschiedene Orte und verschiedene Sprachen. Es gibt die einfache Sprache, die für Kinder, aber auch für Menschen mit Behinderung oder wieder für Demenzkranke wichtig ist. Es gibt Gebärdensprache und Jugendsprache – und die Sprachen von Migrantinnen und Migranten. Vor allem bei Kasualien ist es wichtig, sich auch sprachlich auf die dann versammelte Gemeinde einzustellen. Und wie im frühen Christentum achtet der inklusive Gottesdienst darauf, dass alle ihre Gaben aktiv „zum Aufbau der Gemeinde“ (1 Kor 14, 26) einbringen können. Vor allem, wenn immer wieder andere an der Vorbereitung beteiligt sind. Die Beispiele vom Zentrum Demenz oder von den Gottesdiensten mit der Werkstatt zeigen, dass das auch Menschen sein können, die sonst wenig Gottesdiensterfahrung haben. Wenn sie sich als Mitgestalter der biblischen Botschaft erleben, werden Energien wach, von denen wir vorher kaum etwas ahnen.

Inklusion – die Antwort bin ich Ihnen noch schuldig – ist also nicht ein Nachhinken hinter irgendeiner gesellschaftlichen Entwicklung. Hier geht es um das Kirchesein der Kirche selbst.

 

Cornelia Coenen-Marx, Gesamtkonvent Kirchenkreis Hamburg- West/Südholstein, 23.11.2016

 

Just erschienen bei Edition Ruprecht:

„Aufbrüche in Umbrüchen – Christsein und Kirche in der Transformation“
mein neues Buch.

Themen der Murmelgruppen:

1. In der Sprache des Herzens – Verkündigung in vielen Sprachen
Kommunikation des Evangeliums in multilingualen Gemeinden: Einfache Sprache – Gebärdensprache – Jugendsprache – Sprache von Migranten in Kasualien und Gemeindegottesdiensten

2. Gemeinde im Quartier: Inklusion und Kooperation
Kooperationserfahrungen mit Diakonie, Lebenshilfe und anderen: Wohngruppen – Werkstätten – Schulen – Sportvereine – Assistenzdienste – Rat und Kommune

3. Was heißt hier Inklusion? Profilieren, was wir schon sind
Ehrenamtliches Engagement in Demenznetzwerken, Tafeln und Mittagstischen, Angebote für Menschen mit Sinnesbehinderungen, Quartiers- und Diakonieläden, Inklusive Konfirmandenarbeit …

4. Assistenz oder Geschwisterlichkeit?
Ehrenamtliches Engagement, Caring Communities und Teilhabe von Menschen mit Behinderung: Wie können wir lernen, uns auf Augenhöhe zu begegnen?

5. Himmlische Werkstatt – Irdische Grenzen
Grenzen wahrnehmen und respektieren – bei anderen und bei uns selbst: Grenzen beim Umbau von Gebäuden, Grenzen der Kommunikation, Grenzen der Ressourcen, Grenzen der Vielfalt. Was entspricht unseren Herausforderungen und Möglichkeiten?

 

Literatur:

Ev. Kirche in Deutschland: „Es ist normal, verschieden zu sein“ – Eine Orientierungshilfe des Rates der EKD zur Inklusion in Kirche und Gesellschaft, Hannover 2014

Ulrich Bach, Boden unter den Füßen hat keiner, Plädoyer für eine solidarische Diakonie, Göttingen 1980

Michael Bürsch, Recht auf Engagement, Berlin 2015

Cornelia Coenen-Marx, Die Seele des Sozialen, Neukirchen 2013

Cornelia Coenen-Marx, Aufbrüche in Umbrüchen- Christsein und Kirche in der Transformation, Göttingen 2016

Gerald Hüther: Kommunale Intelligenz. Potenzialentfaltung in Städten und Gemeinden. Hamburg: Ed. Körber-Stiftung, 2013

Allan Kellehear: Compassionate Cities: Public Health an End of Life Care London: Routlege, 2005

Thomas Klie: Caring Community – Verständnis und Voraussetzungen von Verantwortungsübernahme in lokalen Gemeinschaften, in: ders., Beate Hofmann, Cornelia Coenen-Marx (Hrsg.): Drama, Powerplay oder Symphonie – Zum Zusammenspiel von Haupt- und Ehrenamtlichen in der Kirche, Kohlhammer April 2017

Ulf Liedke: “Gegebenheit, Gabe, Begabung“; Zum theologischen Diskurs über „Behinderung“, in; Pastoraltheologie 12/2009

Christoph Markschies, Gottes Körper – Jüdische, christliche und pagane Gottesvorstellungen in der Antike, 2016

Mehr als Fragen: Fragenbox zum Thema Inklusion, PTI Rheinland, Netzwerk Inklusion Nordkirche, 2013

Martha Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit, Chicago 2010

Ariadne von Schirach, Du sollst nicht funktionieren. Für eine neue Lebenskunst, Stuttgart 2014

Julia Simonson, Claudia Vogel und Clemens Tesch-Römer (Hrsg.): Freiwilliges Engagement in Deutschland – Der Deutsche Freiwilligensurvey 2014. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin 2016. Kurzfassung im Internet: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/freiwilliges-engagement-in-deutschland-/96254

Gunda Schneider-Flume, Leben ist kostbar- Wider die Tyrannei des gelingenden Lebens, Göttingen 2008