Nahost-Konflikt: Gewalt in Israel und Gaza




Dieses Gespräch lehrt uns viel über die unterschiedlichen Sichten auf den Nahostkonflikt und den 07. Oktober 2023. Ich kann es jedem von Euch nur ans Herz legen, es zu hören. Gerade dann, wenn man beiden Protagonisten hier und da entschieden widersprechen möchte!

https://www.rbb-online.de/…/archiv/20231102_1900.html


Solidarität mit Israel

epd Niedersachsen-Bremen/EMA: https://www.landeskirche-hannovers.de/presse/tagesthemen/2023/10/09_kundgebung_isreal

Nach den Angriffen auf Israel haben am Montag in Hannover mehrere Hundert Menschen für Solidarität mit Israel und gegen den Terror der palästinensischen Hamas demonstriert. Die Polizei sprach von rund 350 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. „Das Gesicht des Hasses ist erbärmlich und würdelos“, sagte Niedersachsens Innenministerin Daniela Behrens (SPD) mit Blick auf den Überfall mit bislang rund 800 israelischen Todesopfern. Die Hamas kenne kein Erbarmen und keine Menschlichkeit.

Zugleich mahnte die Ministerin, der Terror dürfe sich nicht nach Deutschland ausdehnen. „Wir werden das jüdische Leben in unserem Land schützen und uns gegen jede Form von Antisemitismus und Israelhass stellen“, sagte Behrens unter Applaus. Bei Demonstrationen werde die niedersächsische Polizei in Zukunft darauf achten, dass die Hamas und ihr Terrorismus nicht unterstützt werden, sagte sie: „Wer Terror bejubelt, tritt die Menschenwürde und die deutsche Verfassung mit Füßen.“

Unter den Teilnehmenden war auch der Bischofsrat der Landeskirche Hannovers mit Landesbischof Ralf Meister, Dr. Petra Bahr, Dr. Hans Christian Brandy, Friedrich Selter und Dr. Adelheid Ruck-Schröder. Aus der Kirchenleitung nahmen zudem der Präsident der Landessynode Dr. Matthias Kannengießer, der theologische Vizepräsident des Landeskirchenamtes Dr. Ralph Charbonnier und Oberlandeskirchenrätin Dr. Kerstin Gäfgen-Track teil, ebenso der katholische Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer.

Der jüdische Verbandspräsident Michael Fürst sagte, der von Gaza aus gestartete Überfall der Hamas habe zum größten Massensterben von Jüdinnen und Juden seit dem Holocaust geführt. Zugleich mahnte er: „Nicht jeder Palästinenser ist ein Terrorist.“ Er sei froh, dass es in Niedersachsen ein hervorragendes Verhältnis zur palästinensischen Gemeinde gebe. Dies dürfe nicht durch einige „Verrückte“ zerstört werden.

Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay (Grüne) betonte: „Jüdisches Leben ist auch unser Leben.“ Jüdische Menschen hätten ein Recht zu leben, wo auch immer: „Egal ob in Israel, in Berlin oder in Hannover.“ Die Hamas müsse die Waffen niederlegen, diesen „verdammten Terror“ beenden und die entführten Geiseln freilassen. Weitere Demonstrationen zu den Angriffen auf Israel gab es am Montag unter anderem in Hamburg, Stuttgart und München.

Weitere Solidaritätsbekundungen geplant

In Göttingen rufen Oberbürgermeisterin Petra Broistedt (SPD) und der Rat der Stadt zu einer öffentlichen „Solidaritätsbekundung für die Menschen im Nahen Osten“ auf. Die Kundgebung findet statt am Mittwoch, den 11. Oktober um 18 Uhr am Hiroshimaplatz vor dem Neuen Rathaus, wie die Stadt am Montag mitteilte.

„Die Nachrichten vom barbarischen und grausamen Töten unschuldiger Menschen erschüttern mich zutiefst“, sagte Broisted. Der seit Jahrzehnten anhaltende Konflikt zwischen Israel und Palästina sei vielschichtig. Eines sei jedoch sicher: „Gewalt ist niemals eine Lösung.“ Wer möchte, kann den Angaben zufolge eine Kerze mitbringen und sie im Anschluss an die Kundgebung auf den Rathausstufen abstellen.

Die Deutsch-Palästinensische Gesellschaft hat die Angriffe der Hamas auf Israel und zugleich die Gegenangriffe Israels auf den Gazastreifen „auf das Schärfste“ verurteilt. Das Mitgefühl gelte „den Angehörigen der vielen Toten und den Verletzten auf beiden Seiten“, sagte der Präsident der in Hilter bei Osnabrück ansässigen Gesellschaft, Nazih Musharbash.

Die Gesellschaft begrüße die Stellungnahme des UN-Generalsekretariats, die nur in der Gründung eines eigenen palästinensischen Staates neben Israel eine effektive Beruhigung der Lage sieht. „Beide Seiten haben es längst verdient, nebeneinander in Frieden zu leben“, sagte Musharbash.

Der ehemalige niedersächsische SPD-Landtagsabgeordnete machte die Weltgemeinschaft für die Gewalteskalation verantwortlich. Diese habe Israel stets unterstützt und die völkerrechtswidrige Besetzung und Annektierung palästinensischer Gebiete geduldet, sagte Musharbash, der in Jordanien geboren wurde und seit 1965 in Deutschland lebt.

Unter der „rechtsradikalen und streng religiös geführten“ Regierung von Ministerpräsident Netanjahu habe sich die Situation der Palästinenser dramatisch verschlechtert, sagte Musharbash, der sich derzeit in Jordanien aufhält. „Gezielte Tötungen und Verhaftungen, militärische Razzien und von Kabinettsmitgliedern angeführte Angriffe von militanten jüdischen Siedlern auf Palästinenser und ihr Eigentum haben zugenommen.“ In diesem Jahr seien mehr als 700 Palästinenser getötet worden. Die palästinensische Führung sei geschwächt, die Hamas sei im Laufe der Jahre immer stärker geworden, erläuterte Musharbash.


Ich denke an die vielen Opfer

Ein nächtliches Telefonat zwischen Frankfurt und Jerusalem über die Tragödie des Terrorangriffs der Hamas auf Israel.

Von Meron Mendel, FAZ NET, 10.10.2023

Es ist schon bestimmt 25 Jahre her, seit ich Shachar zuletzt gesehen habe. Sie war die ältere Schwester meines besten Jugendfreundes. Nur zwei Jahre älter, aber für uns ein Vorbild. Ihr Geburtsname lautete Deborah, irgendwann lehnte sie ihn ab. Shachar war niemand, der sich von anderen etwas vorschreiben ließ, auch nicht von ihren Eltern. An glücklichen Samstagvormittagen in den Neunzigerjahren saßen wir bei ihnen auf der Terrasse und stopften uns mit Pancakes und Erdnussbutter voll. An diesem Samstagvormittag saß Shachar mit ihrem Mann zum letzten Mal am Frühstückstisch, vielleicht auch mit Pancakes und Erdnussbutter, als die Terroristen der Hamas ihr Haus im Kibbuz stürmten und die beiden hinrichteten. Nur ihr sechzehnjähriger Sohn überlebte, weil er sich in seinem Zimmer versteckt hatte.

Ich kann nicht an die aktuellen Ereignisse in Israel denken, ohne Shachars Gesicht vor mir zu sehen und ihre Stimme zu hören. Ich denke auch an die vielen anderen unschuldigen Opfer dieses groß angelegten Terrorangriffs. Zum Beispiel an die zweiundzwanzigjährige Shani Louk, eine Deutsche. Sie war auf einem Musikfestival, als der Angriff begann. Ein Video aus Gaza zeigt ihren entblößten Körper auf dem Rücksitz eines Pick-ups, ein bewaffneter Mann sitzt mit seinem Bein über ihr, der Mob auf der Straße jubelt, bespuckt sie und schreit „Allahu akbar“ (Gott ist groß).

Ich denke an die Mutter, die von einem israelischen Fernsehsender zum Telefoninterview aus dem Versteck ihres Haus zugeschaltet wurde. Sie flehte um Hilfe der Sicherheitskräfte für sie und ihre Tochter, während im Hintergrund die Stimmen der Terroristen vor der Tür zu hören waren. Als ich sah, wie Babys und Kleinkinder von bewaffneten Männern nach Gaza verschleppt wurden, konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich kann mir kaum vorstellen, dass diese Bilder der puren Barbarei irgendeinen Menschen kaltlassen können, egal, wie man politisch zum israelisch-palästinensischen Konflikt steht.

Solidarität mit Israel

In Deutschland äußerten viele ihre Trauer und Empathie. Auch in Frankfurt versammelten sich am Abend gut zweihundert Menschen, um ihre Solidarität mit Israel zu bekunden. Doch immer wieder war da auch menschenverachtende Freude zu sehen – unvorstellbare Szenen spielen sich auf deutschen Straßen und in den sozialen Medien ab. Im Berliner Stadtteil Neukölln wurden Süßigkeiten verteilt, auf der Straße wurde vor Freude getanzt. Grausame Videos von Gewalt, Mord und Leichenschändungen nach IS-Ästhetik wurden auf Instagram tausendfach mit Herzen geteilt. Nicht nur Influencer, sondern sogar Mitarbeiter von renommierten Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen feierten den Sieg der angeblichen „Freiheitskämpfer“ der Terrororganisation Hamas.

Ich blicke fassungslos auf den Bildschirm meines Handys, als mich mein Jugendfreund aus Jerusalem anruft und sagt, seine Schwester Shachar sei ermordet worden. In Frankfurt ist es zwei, in Jerusalem bereits drei Uhr nachts. Mir versagt die Stimme, stattdessen kommen die Tränen. Dann sprechen wir doch, über Pancakes mit Erdnussbutter. Und dann auch darüber, wie wir uns damals auf der Terrasse unsere Zukunft vorgestellt haben. So hoffnungsvoll waren wir, so naiv.

Wie nah erschien uns der Frieden, als wir damals 1993 aufgeregt im Fernsehen die Reden vor dem Weißen Haus beim Unterzeichnen des Osloer Friedensabkommens anschauten. Unvergesslich blieb der Satz von Yitzhak Rabin: „Wir, die gegen euch, die Palästinenser, gekämpft haben, sagen euch heute mit klarer Stimme: Genug der Tränen und des Blutes. Genug.“ Es kam uns fast wie ein Traum vor, dass der bisherige Erzfeind Jassir Arafat nun von „Peace of the ­brave“ sprach. Wir glaubten an das Versprechen von Rabin und Arafat so sehr, dass wir dachten, wir werden die letzte Generation von Soldaten sein, die den Nahostkonflikt noch erleben werden.

Das Versprechen des Friedens verpufft

Dann ereignete sich die größte Terrorwelle unserer Jugendzeit: Fast wöchentlich wurden Busse, Clubs und Restaurants von radikalen Palästinensern in die Luft gesprengt. Wir hielten es trotzdem für unmöglich, dass die Radikalen am Ende gewinnen. Dann wurde Rabin von einem jüdischen Fundamentalisten ermordet, und mit seinem Tod war das Versprechen des Friedens jäh verpufft. Wir wurden in die Armee einberufen und nach drei Jahren Pflichtdienst desillusioniert entlassen. Von unseren Jugendträumen war nicht viel übrig geblieben. Nach uns kamen noch viele weitere Generationen von Soldaten, und der Frieden ist ferner denn je.

Es war fast nach drei Uhr nachts in Frankfurt, und ich lauschte der Stimme meines Freundes. Ich schwieg. Es kam mir vor, als ob die Worte sich weigerten, sich in Sätzen ordnen zu lassen. Als ob meine Muttersprache, Hebräisch, gegen mich rebelliert. Er sprach, und es fühlte sich vertraut an. Seine Eltern waren Anfang der Siebzigerjahre als überzeugte Zionisten aus Amerika nach Israel gezogen. Nun müssen sie ihre Tochter in ihrer Wahlheimat begraben. Wäre es nicht besser gewesen, wenn sie an der Ostküste geblieben wären? Der Gedanke ging mir durch den Kopf. Ich wagte es nicht, ihn auszusprechen. Nicht gegenüber einem Freund, der gerade seine Schwester verloren hat. Als hätte er meine Gedanken gelesen, sagte plötzlich er: „Als sie damals kamen, war es hier nicht besser. Sie wussten, was es bedeutet, in Israel zu leben.“

Die Geschichte wiederholt sich

Vor fünfzig Jahren, kurz nach dem Jom-Kippur-Krieg, befand sich Israel schon einmal im Schockzustand. Am 6. Oktober 1973 wurde das Land von Ägypten und Syrien am heiligsten Tag der Juden völlig überraschend überfallen. Die israelischen Verteidigungslinien auf dem Suez-Kanal und in den Golanhöhen wurden in kürzester Zeit zerstört, binnen weniger Stunden Hunderte israelische Soldaten getötet, weitere Hunderte gefangen genommen. „Die Geschichte wiederholt sich nach fünfzig Jahren und einem Tag“, sagt mein Freund.

Niemand hatte damit gerechnet, dass die Hamas an diesem Samstag einen lange geplanten Angriff auf Israel starten würde: mit Tausenden Raketen und schwerbewaffneten Terroristen, die auf dem Boden in die Sperranlage und aus dem Meer mit Schlauchbooten ins Kernland eindringen. Wie 1973 fiel auch dieser 7. Oktober auf einen Samstag, wie 1973 wurden die IDF, die stärkste Armee im Nahen Osten, völlig unvorbereitet getroffen. Offenbar war ein Großteil der regulären Streitkräfte ins Westjordanland abkommandiert worden. Dort hatte man Auseinandersetzungen zwischen radikalen Siedlern und Palästinensern erwartet.

Über die Pläne der Hamas im Süden hatten die Armeeaufklärung und der Inlandsgeheimdienst Shin Bet hingegen keine Hinweise. „Machen wir uns nichts vor, es sind nicht allein die Geheimdienste schuld“, sagt mein Schulfreund in der Nacht. Wer also noch? „Die Hybris der Politiker. Der Hochmut der aktuellen Regierung. In ihrer fundamentalistischen messianischen Ideologie leidet sie schon seit Monaten an Realitätsverlust“, glaubt er. In ihrem Eifer, die Demokratie außer Kraft zu setzen, hätten die regierenden Politiker die Gesellschaft gespalten und die Armee geschwächt. Mein Freund spricht besonnen, trotz der tiefen Trauer.

Verzweiflung und Müdigkeit

Seit Anfang des Jahres organisiert er Demonstrationen gegen die ultranationalistische Regierung von Benjamin Netanjahu. Als er darüber jetzt am Telefon spricht, überspielt das für einen Augenblick die Trauer. Er erinnert sich an ein Schild, das er und seine Mitstreiter so oft in der letzten Zeit hochgehalten hatten. Darauf stand: „Mechdal 73, Mechdal 23“. Das bedeutet auf Hebräisch: das Versagen von 1973, das Versagen von 2023. „Mit Versagen meinten wir die Pläne der Regierung zum Abbau der Demokratie. Wir haben uns nicht vorstellen können, dass sich das militärische Versagen vom Jom-Kippur-Krieg wiederholen kann.“

In Frankfurt war es noch dunkel, in Jerusalem begann die Morgendämmerung. Ich weiß nicht, ob es die Verzweiflung war oder die Müdigkeit in seiner Stimme. Jedenfalls wollte ich ihm etwas Ermutigendes sagen, aber, verdammt, mir fiel nichts ein. Ich schwieg wieder, blickte aus dem Fenster auf die ruhige Straße und auf die Häuser gegenüber. Auf einmal kam mir das Gespräch vor wie eine Zumutung für meinen Freund. Wie eine Unverschämtheit, dass ich gleich ins Bett gehen und in aller Sicherheit einschlafen würde, wissend, dass ich auch in Sicherheit wieder aufwachen würde. Dass morgen keine Terroristen durch meine Wohnungstür eindringen können – und dass dieses Privileg so selbstverständlich ist, jeden Tag und jede Nacht.

„Mach dir keine Sorgen, wir sind stark“, verabschiedete sich mein Freund. „Ich weiß“, entgegnete ich. „Bald komme ich wieder zu Besuch. Wir werden Pancakes und Erdnussbutter machen – und zum Friedhof fahren.“

Meron Mendel, 1976 in Tel Aviv geboren, ist Professor für Soziale Arbeit und Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt. Zusammen mit Saba-Nur Cheema schreibt er die muslimisch-jüdische Kolumne für die F.A.Z. 



EKD, 09.10.2023, https://www.ekd.de/friedensbeauftragter-mit-terror-kann-es-keinen-frieden-geben-80873.htm

Friedensbeauftragter Kramer: „Mit Terror kann es keinen Frieden geben“

Friedensbeauftragter der EKD, Friedrich Kramer, Landesbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland

Frankfurt a.M. (epd). Der Friedensbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischof Friedrich Kramer, hat die am Samstag begonnenen terroristischen Angriffe gegen Israel scharf verurteilt. „Die Bilder aus Israel mit dem massiven Angriff der Hamas sorgen für Entsetzen“, teilte der mitteldeutsche Landesbischof am Sonntag dem Evangelischen Pressedienst (epd) mit. „Die Gewalt gegen Zivilisten und die unzähligen Opfer sind durch nichts zu rechtfertigen. Dieser terroristische Angriff durch die Hamas ist entschieden zu verurteilen“, hieß es weiter. Kramer unterstrich außerdem: „Mit Terror kann es keinen Frieden geben.“

Bereits am Samstag hatte sich die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus mit Israel solidarisiert. „Ich verurteile die furchtbaren terroristischen Angriffe zutiefst“, sagte sie. „Unsere Gedanken und Gebete sind bei den Menschen in Israel, deren Land wir noch vor wenigen Tagen besucht haben“, versicherte die westfälische Präses.

Eine Delegation des Rates der EKD war seit Ende September und Anfang Oktober unter der Leitung der Ratsvorsitzenden zu Besuch im Heiligen Land. Die Reise stand unter dem Titel „Evangelisch in Jerusalem“ und markierte den Start der Feierlichkeiten zum 125. Jubiläum der Erlöserkirche in Jerusalem. Diese wurde in den Jahren 1893 bis 1898 nach Plänen des Architekten Friedrich Adler errichtet. Am Reformationstag des Jahres 1898 wurde sie im Beisein des deutschen Kaisers Wilhelm II. und seiner Frau Kaiserin Auguste Viktoria eingeweiht.


EKD, 08.10.2023, https://www.ekd.de/welle-solidaritaet-mit-israel-80852.htm

Welle der Solidarität mit Israel

Kurschus: „Ich verurteile die furchtbaren terroristischen Angriffe zutiefst.“

Die kriegerische Eskalation im Nahen Osten zwischen Israel und der Hamas hat eine breite Welle der Solidarität mit Israel in Deutschland ausgelöst.


Berlin, Frankfurt a.M. (epd). Zahlreiche Politiker sowie kirchliche Vertreterinnen und Vertreter in Deutschland haben sich entsetzt über die kriegerische Eskalation des Nahost-Konflikts mit zahlreichen Toten und Verletzten geäußert. Sie verurteilten am Samstag die Angriffe auf Israel und bekundeten Solidarität mit dem Land.

Auch die christlichen Kirchen solidarisierten sich mit Israel. „Ich verurteile die furchtbaren terroristischen Angriffe zutiefst“, teilte die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus, dem Evangelischen Pressedienst (epd) mit. „Unsere Gedanken und Gebete sind bei den Menschen in Israel, deren Land wir noch vor wenigen Tagen besucht haben“, versicherte die westfälische Präses.

Der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz (DBK), Georg Bätzing, sprach auf X von einer „gefährlichen Eskalation“. Er bete für die Opfer und trauere um die Toten. Der Nahe Osten brauche „endlich einen echten Friedensprozess, der die Interessen von Israelis und Palästinensern berücksichtigt“, erklärte der DBK-Vorsitzende, der zugleich Limburger Bischof ist und fügte hinzu: „Dabei gibt es für uns keinerlei Zweifel am Existenzrecht Israels und eines palästinensischen Staates.“

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) äußerte sich auf X, vormals Twitter, „zutiefst“ erschüttert. „Deutschland verurteilt diese Angriffe der Hamas und steht an Israels Seite“, versicherte er. Das Auswärtige Amt prangerte „die abscheuliche Gewalt der Hamas gegen Zivilistinnen und Zivilisten“ an. „Dieser Terror muss sofort gestoppt werden“, hieß es.

Der lange schwelende Konflikt zwischen dem Staat Israel und der radikalislamischen Terrororganisation Hamas war am Samstag kriegerisch eskaliert. „Israel befindet sich im Krieg“, schrieb die israelische Botschaft in Berlin auf X. „Die Terrororganisation Hamas hat Israel heute Morgen angegriffen. Israel wird alles Notwendige tun, um sich und seine Bürgerinnen und Bürger zu verteidigen“, hieß es.

Der Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, Volker Beck, teilte mit: „Die feigen und verbrecherischen Angriffe mit hunderten Raketen auf die israelische Zivilbevölkerung und das Eindringen einer großen Zahl von Terroristen in israelische Gemeinden und Kibbuzim sind auf das Schärfste zu verurteilen.“ Er billigte Israel das Recht zu, „diese Gefahr für das Leben von Israelis abzuwenden, indem die Terroristen festgenommen oder unschädlich gemacht werden“.

Das Internationale Auschwitz-Komitee verurteilte in einer Mitteilung den „unter Palästinensern immer wieder neu angefachten Antisemitismus“ und den „Vernichtungswillen gegenüber dem Staat Israel“. Deshalb müsse sich nicht nur die deutsche Regierung fragen lassen, warum die EU palästinensische Behörden „immer wieder durch massive Finanzhilfen unterstützt, obwohl sie für die Propagierung von antisemitischem Hass und Gewalt Mitverantwortung tragen“.

Vor diesem Hintergrund sprach sich die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), für die Überprüfung aller Hilfen an den palästinensischen Gaza-Streifen aus. Jegliche Verwendung für antiisraelische oder antisemitische Zwecke müsse vollständig ausgeschlossen sein.


P R E S S E M I T T E I L U N G

Stellungnahme der EMS zu den aktuellen Entwicklungen im Nahost-Konflikt

Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein!

(Stuttgart, 09. Oktober 2023) Seit dem Angriff palästinensischer Milizen auf den Staat Israel in den frühen Morgenstunden des 7. Oktober stehen wir in engem Austausch mit Menschen in der gesamten Region, denen wir verbunden sind. Das, was wir hören, geht uns nahe.

Um nur wenige Beispiele zu nennen: Wir nehmen Anteil an der Angst jüdischer Israelis, die sich in Mevasseret Zion (einem jüdischen Vorort Jerusalems) in einen Schutzraum geflüchtet haben, ebenso wie an der Angst palästinensischer Israelis in einem ganz ähnlichen Schutzraum in Abu Gosh (einem arabischen Vorort Jerusalems). Wir sind solidarisch mit unseren palästinensischen christlichen Geschwistern, die im Ahli Arab Hospital in Gaza palästinensische Kriegsopfer versorgen, ohne nach deren Hintergrund zu fragen – und stehen an der Seite der unzähligen Israelis, Frauen, Männern und Kindern, die am jüdischen Festtag der Tora-Freude schamlos angegriffen wurden. Wir klagen über alle Opfer, die dieser Krieg bereits gefordert hat.

Raketen unterscheiden nicht zwischen Israelis und Arabern; nicht zwischen Juden, Muslimen oder Christen. Unter den Opfern befinden sich Soldaten und Zivilisten, Einheimische und thailändische Gastarbeiter auf den israelischen Plantagen rings um den Gazastreifen, die aus wirtschaftlicher Not hierhergekommen sind. Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein.

Die EMS fordert alle Mitglieder, Partner, Geschwister in der Region auf, sich für den Frieden einzusetzen:

1. Diese Gewalt muss sofort enden. Das Feuer muss eingestellt werden. Alle, die als Geiseln gehalten werden oder in den Gazastreifen verschleppt wurden, müssen sofort freigelassen werden. Dies gilt insbesondere für Frauen und Kinder. Wer unschuldige Mütter mit ihren kleinen Kindern verschleppt, stellt sich außerhalb jeglicher Religion und jeglicher menschlichen Gemeinschaft.

2. Auch wenn Israel durch diesen Angriff erstmals seit genau 50 Jahren überrascht wurde, so ist es doch nicht der erste Krieg um den Gazastreifen. Die letzten Waffengänge fanden 2008/09, 2012, 2014 und 2021 statt. In den dazwischen liegenden Phasen relativer Ruhe wurde immer wieder versäumt, ernsthaft nach langfristigen Lösungen für die Region zu suchen. Aufmerksame Beobachterinnen und Beobachter haben bei zahlreichen Gelegenheiten auf dieses Versäumnis hingewiesen. Auch nach dem derzeitigen Krieg wird wieder gelten: Die Menschen im Gazastreifen, der seit 2007 sowohl von Israel als auch von Ägypten weitgehend abgeriegelt ist, brauchen Lebens- und Entwicklungsperspektiven, die ihnen viel zu lange vorenthalten wurden. Zugleich muss der immer wieder artikulierte Irrglaube bekämpft werden, der Staat Israel sei ein „koloniales Siedlerunternehmen“, welches irgendwann aus der Region verschwinden werde, wenn man nur lange genug eine „Normalisierung“ der Beziehungen verweigere. Wir sind überzeugt: Israelis und Palästinenser können und werden dauerhaft miteinander leben – dazu müssen wir die Kräfte der Vernunft, des Ausgleichs und der Gerechtigkeit stärken.

3. Die Stellvertreterkriege, die Israel- und Palästinafreunde weltweit auf der Straße, an Hochschulen und in den sozialen Medien gegeneinander führen, sind nicht dazu geeignet, zu konstruktiven Lösungen im Nahen Osten beizutragen. Insbesondere in diesen Tagen wird häufig gefordert, sich ganz für die eine und gegen die jeweils andere Seite zu positionieren. In der Folge solcher Forderungen, die teilweise mit ebenso starken wie verständlichen Emotionen vorgetragen werden, scheinen auch die letzten offenen Gesprächskanäle zwischen den unterschiedlichen Positionen abzureißen. Wir werden solchen Forderungen nicht nachgeben, sondern mit allen im Gespräch bleiben, die weiter an einem Miteinander in Frieden und gerechten Beziehungen arbeiten.

4. Die Evangelische Mission in Solidarität (EMS) ist ein Netzwerk von 25 Kirchen und fünf Missionsgesellschaften in Asien, Afrika, Europa und dem Nahen Osten. Zu ihr gehört auch die „Episcopal Diocese of Jerusalem“. Diese anglikanische EMS-Mitgliedskirche betreibt in Gaza das „Ahli Arab Hospital“. Das Krankenhaus versteht sich als Dienst der kleinen christlichen Gemeinschaft an der gesamten Gesellschaft im Gazastreifen. Über den anglikanischen Erzbischof in Jerusalem, the Rt. Rev. Dr. Hosam Naoum, erreicht uns in diesen Tagen die Bitte von Dr. Suhaila Tarazi, der Direktorin dieser Einrichtung, um Unterstützung. Dr. Tarazi ist eine bemerkenswerte Frau, die während aller vergangenen Kriege als Leitung des Ahli Arab Hospitals ausgeharrt und mit ihrem Team darauf geachtet hat, dass die Zivilbevölkerung des Gazastreifens hier eine gute medizinische Versorgung erhält. Auch jetzt leidet die Zivilbevölkerung auf beiden Seiten des Kriegsgeschehens massiv. Durch die enge Verbundenheit mit unseren anglikanischen Geschwistern im Nahen Osten haben wir die Möglichkeit, wenigstens an dieser einen Stelle konkret und direkt zu helfen. Bei der EMS gibt es dauerhaft ein Konto, über das Spenden an das Ahli Arab Krankenhaus weitergeleitet werden. Wer eine Spende mit dem Verwendungszweck „Krankenhaus Ahli Arab“ an das Spendenkonto der EMS überweist, darf sich sicher sein, dass das Geld diesem wichtigen Dienst direkt zugutekommt.

Dr. Tarazi beendet ihren Brief mit den Worten: „Bitte betet mit uns, dass diese Welle der Gewalt gestoppt wird, denn in Kriegen gibt es keine Gewinner. Alle sind Verlierer.“

Diese Bitte geben wir jetzt und hier an alle weiter: Betet mit uns, dass diese Welle der Gewalt gestoppt wird! Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein!

Pressekontakt: Pfarrer Dr. Uwe Gräbe, Nahost-Referent, graebe@ems-online.org

Spendenkonto:
Evangelische Bank eG
IBAN: DE85 5206 0410 0000 0001 24
BIC: GENODEF1EK1
Stichwort: Krankenhaus Ahli Arab

Die Evangelische Mission in Solidarität (EMS) e.V. ist eine Gemeinschaft von Kirchen und Missionsgesellschaften auf drei Kontinenten. 25 evangelische Kirchen und fünf Missionsgesellschaften in Europa, Afrika, Asien und dem Nahen Osten bilden ein internationales Netzwerk langfristiger Partnerschaften. In Deutschland gehören der EMS die evangelischen Landeskirchen in Baden, Hessen und Nassau, Kurhessen-Waldeck, der Pfalz, Württemberg und die Evangelische Brüder-Unität (Herrnhuter Brüdergemeine) sowie die Deutsche Ostasienmission (DOAM), die Basler Mission – Deutscher Zweig (BMDZ) und der Evangelische Verein für die Schneller Schulen (EVS) an.


IPG: NAHER OSTEN/NORDAFRIKA 10.10.2023 | Marcus Schneider, https://www.ipg-journal.de/regionen/naher-osten/artikel/potenzial-zum-flaechenbrand-7042/?utm_campaign=de_40_20231010

Potenzial zum Flächenbrand

Der brutale Angriff der Hamas ist ein Schock für Israel. Wie reagiert die Netanjahu-Regierung? Dem Nahen Osten droht eine beispiellose Eskalation

Genau als niemand mehr damit rechnete, katapultierte die Hamas den israelisch-palästinensischen Konflikt brutalstmöglich zurück ins Zentrum der Weltaufmerksamkeit. Während global gesehen die Konfrontationslogik Überhand zu nehmen schien, entwickelte sich zuletzt ausgerechnet der notorisch instabile Mittlere Osten zu einer Oase der diplomatischen Großoffensiven. Doch das ist nun vorbei. Letztlich hat sich die große Verbrüderung, die Annäherungen und Normalisierungen allerorten doch nur als „Ruhe vor dem Sturm“ entpuppt. Denn jenseits des Honeymoons der Herrscher ist kaum etwas gelöst im Mittleren Osten. Dass nun ausgerechnet der Nahostkonflikt, dieser in letzter Zeit doch so marginalisierte Urkonflikt der Region, die oberflächliche Harmonie zerstörte, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.

Noch hat sich der Nebel der sich überschlagenden Ereignisse nicht völlig gelichtet. Aber eines scheint bereits klar: Israel hat am 7. Oktober ein Desaster erlebt, das nicht nur in seinen strategischen, sondern auch psychologischen Folgen durchaus mit Pearl Harbour oder dem 11. September gleichzusetzen ist. Auch ohne den inzwischen abgedroschenen Begriff der „Zeitenwende“ zu bemühen, ist klar: Nichts wird mehr so sein wie zuvor.

Fast auf den Tag genau 50 Jahre nach Ausbruch des Jom-Kippur-Krieges wurde Israel abermals durch einen Überraschungsangriff tief getroffen. Doch statt der ägyptischen und syrischen Armeen war es diesmal die radikal-islamistische Hamas, die in weiten Teilen der Welt als Terrororganisation eingestufte De-facto-Beherrscherin des abgeriegelten Gazastreifens, die nach Südisrael einfiel. Ein Überraschungsangriff beispielloser Qualität. Phasenweise kontrollierten militante Kämpfer ganze Dörfer und Städte im Süden des Landes, ein Albtraumszenario, das jenseits von Netflix-Serien und Horrorfilmen wohl niemand in Israel für möglich gehalten hätte. Über 800 Tote, eine unbekannte, aber wahrscheinlich niedrige dreistellige Zahl Gekidnappte und Verschleppte hat der jüdische Staat zu beklagen. Darunter Militärs und Sicherheitskräfte, aber die Allermeisten sind Zivilisten, viele Frauen und Kinder. Dabei ging die Terrororganisation mit einer menschenverachtenden Brutalität vor, die zumindest in den Augen der westlichen Öffentlichkeit die ohnehin schwindende Sympathie für die Sache der unterdrückten und durch die anhaltende israelische Besatzung gezeichneten Palästinenser weiter erodieren dürfte.

Ein Albtraumszenario, das jenseits von Netflix-Serien und Horrorfilmen wohl niemand in Israel für möglich gehalten hätte.

Es ist ein Desaster vor allem für den gewöhnlich so gut informierten israelischen Geheimdienst, der eine solche auf Monate geplante Großoffensive nicht hatte kommen sehen. Nicht nur tappte man völlig im Dunkeln, was die Planungen anging, ganz offensichtlich hielt man dergleichen auch politisch nicht für möglich. Zu stark war wohl der Glaube, die Hamas würde sich im Rahmen einer kontrollierten Feindseligkeit an bestimmte Spielregeln halten und den ganz großen Krieg scheuen. Dass sie das nicht tat, könnte nun auch bedeuten, dass Israel sich an nichts mehr gebunden fühlt. Somit betreten beide Parteien bei der Art der Auseinandersetzung Neuland – und gerade dies lässt die Gefahr einer großen Eskalation, eines Krieges womöglich über Gaza hinaus, exponentiell steigen.

Eine besondere Niederlage ist dieser Gewaltrausch für Benjamin Netanjahu, israelischer On-off-Langzeitpremier, der nun inmitten der größten innenpolitischen Auseinandersetzung seines Landes den Kriegsherrn geben muss. So sehr dies zumindest zeitweise die tiefen gesellschaftlichen Gräben zuschüttet, da sich das Land im Angesicht der äußeren Gefahr vereint, ist es doch ein Scheitern der „netanjahuschen“ Vision, den Konflikt managen zu können. Sein Versprechen war es, die Palästinenserfrage in der Wahrnehmung der meisten Israelis zu einem kaum mehr spürbaren Hintergrundrauschen zu reduzieren. Die Lösung des Konflikts bestand nicht mehr in der ungeliebten Zweistaatenlösung, zu der seine rechtsnationale Regierung sogar die Lippenbekenntnisse eingestellt hatte, sondern in der Perpetuierung des Status quo aus Besatzung und Unterdrückung der Palästinenser, den sowohl die weltweit führenden als auch israelische Menschenrechts-Organisationen mit dem in Deutschland so missliebigen Apartheidsbegriff umschreiben.

Die Marginalisierung der Palästinenserfrage sollte in Netanjahus Logik international einhergehen mit einer Normalisierung der Beziehungen zu den arabischen Herrschern und Potentaten, die mit den Abraham Accords begonnen hat und mit dem gerade noch verhandelten Großdeal mit Saudi-Arabien ihren krönenden Abschluss finden sollte. Dies ist nun in weite Ferne gerückt, nicht nur weil sich die Palästinenser ganz offensichtlich nicht „managen“ lassen wollen, sondern auch weil die mutmaßlich hässlichen Bilder, die die angekündigte Bodenoffensive in den kommenden Tagen in Gaza produzieren wird, die Manövrierfähigkeit selbst des allmächtigen saudischen Kronprinzen erheblich einschränken dürfte. Anders als bei ihren Herrschern ist die Palästinasolidarität bei den arabischen Völkern weiterhin lebendig. So unterstützen lediglich zwei Prozent der jungen Saudis die Normalisierung mit Israel.

Welche Optionen also hat Israel? Die Illusion vom gemanagten Konflikt ist zwar zerstört, was jedoch angesichts der Zusammensetzung der vornehmlich ultrarechten Regierung und der hegemonialen politischen Verhältnisse im Land keineswegs eine Rückbesinnung auf eine Verhandlungslösung bedeutet. Ganz im Gegenteil zeigen die ersten Ankündigungen des Premierministers, dass auch Israel auf eine Revision der Spielregeln setzt. Das Ziel der Bodenoffensive ist es, die Hamas als relevante politisch-militärische Organisation zu zerstören. Die seit 2007 de facto existierende Koexistenz soll somit ihr Ende finden. Dies könnte auch eine Wiedereinsetzung der direkten Besatzung im Gazastreifen bedeuten. Beides ist mit erheblichen Risiken verbunden. Zwar lässt sich die internationale Empörung, die vor allem im Westen nahezu einhellig ist, für ein wesentlich robusteres Vorgehen nutzen. Das brutale Abschlachten von Zivilisten durch die Terrororganisation erinnert Beobachter an die Unmenschlichkeit des Islamischen Staats.

Im schlimmsten Falle droht für Israel ein Mehrfrontenkrieg.

Mit Zehntausenden Soldaten und modernstem Militärgerät in ein extrem dicht besiedeltes urbanes Gebiet vorzurücken, das von einer hochmotivierten, dort jeden Stock und Stein kennenden Organisation gehalten wird, die ihrerseits auf Leben und Tod kämpft, könnte sich trotz der konventionellen Überlegenheit der israelischen Streitkräfte als militärisches Desaster entpuppen. Der Gazastreifen ist kleiner als das historische Ostberlin, hat allerdings mit zweieinhalb Millionen Menschen das Doppelte an Bevölkerung, fast die Hälfte davon sind Minderjährige. Der Aufruf Netanjahus an die Bevölkerung zur Flucht ist zynisch angesichts der Tatsache, dass keinerlei Fluchtmöglichkeiten bestehen und Israel einer ihm zutiefst feindselig gesonnenen Bevölkerung wohl keinerlei Fluchtkorridore ins eigene Land gewähren wird. Eine humanitäre Katastrophe ist hier vorprogrammiert.

Denn auch für Israel werden die Spielregeln neu festgelegt. Netanjahus rechtsradikale Koalitionspartner träumen schon lange von einem Großisrael ohne Araber. Finanzminister Bezalel Smotrich möchte die Palästinenser „ermutigen“, die besetzten Gebiete zu verlassen – letztlich ein mit bisher noch sachtem Druck erwirkter demografisch-ethnischer Wandel der Verhältnisse. Es öffnet sich nun womöglich ein politisches Fenster, dies mit größerem Nachdruck zu betreiben. Verteidigungsminister Yoav Gallant verkündete eine Totalblockade („kein Strom, kein Wasser, kein Essen, kein Benzin“) des Streifens und spricht vom Kampf gegen „menschliche Tiere“. Eine Massenpanik der in Gaza eingeschlossenen Bevölkerung könnte zu einem Exodus nach Ägypten führen, sofern der Nilstaat selbst seine hochbefestigte Grenze zum Sinai hin öffnet – was derzeit noch wenig wahrscheinlich erscheint. Dabei sollten sowohl Kairo als auch die Flüchtenden bedenken, dass es keine Rückkehroption in einen unter direkter israelischer Okkupation stehenden Gazastreifen mehr geben wird. Eine solche Lösung mag extrem erscheinen, der aserbaidschanische Machthaber Ilham Alijew hat jedoch vor nicht einmal zwei Wochen in Bergkarabach bewiesen, dass sich solcherlei auch im 21. Jahrhundert noch bewerkstelligen lässt.

Das Kalkül der Hamas freilich ist ein anderes. Es ist nicht davon auszugehen, dass die Organisation von der kommenden Bodenoffensive überrascht sein wird. Sie rechnet womöglich damit, Israel im Häuserkampf empfindliche Verluste zufügen zu können, jedenfalls bis von anderer Seite Unterstützung kommt. Die Lage im Westjordanland ist so explosiv wie seit Jahren nicht mehr angesichts der Agonie der Autonomiebehörde, des kommenden Kampfes um die Nachfolge von Mahmud Abbas und der zunehmenden Gewalteskalation durch die von der israelischen Regierung unterstützten Siedler. Gleichzeitig gibt es politisch keinerlei Perspektive auf Besserung. Die Palästinenser sitzen in der Sackgasse und drohen angesichts der sich anbahnenden Normalisierung mit der arabischen Vormacht Saudi-Arabien endgültig marginalisiert zu werden. Gewalt erscheint da als die letzte gangbare Option. Je länger der Kampf in Gaza dauern wird, desto größer mag aus Sicht der Hamas die Hoffnung sein, dass auch in der Westbank die Ordnung völlig zusammenbricht, es möglicherweise zu einer vollständigen Erhebung des palästinensischen Volkes, wie bei den Unruhen 2021 sogar bis hinein nach Kernisrael kommt.

Aber auch regional gestaltet sich die Situation höchst explosiv. Im schlimmsten Falle droht für Israel ein Mehrfrontenkrieg. Groß ist die Spekulation derzeit darüber, wie viel Iran als Vormacht der auch die Hamas umfassenden „Achse des Widerstands“ in die Planung eingeweiht war. Die Geheimhaltungsnotwendigkeit für den Überraschungsmoment spricht eher gegen eine engmaschige Koordination. Die Hamas agiert seit jeher eigenständig und trotz der derzeitigen Unterstützung aus Teheran gab und gibt es in der Beziehung zwischen Islamischer Republik und palästinensischer Terrororganisation viele Aufs und Abs. Hätte eine koordinierte Planung nicht – analog zum Jom-Kippur-Krieg – ein gleichzeitiges Losschlagen der Hisbollah an der Nordfront wahrscheinlich gemacht? Die Hisbollah allerdings ist zwar hochgerüstet, aber nach Ansicht vieler Beobachter angesichts der Wunden durch die Einsätze in Syrien noch nicht bereit für den ganz großen Krieg. Der mögliche Kriegseintritt der libanesischen Miliz ist derzeit jedoch das ganz zentrale Element, das aus einem territorial begrenzten Gazakrieg einen regionalen Flächenbrand machen würde.

Die Hisbollah ist militärisch ein völlig anderes Kaliber als die Hamas.

Noch ist die schiitische „Partei Gottes“ nicht bereit, an Israels Nordgrenze über Gebühr zu eskalieren. Die Israelis freilich bereiten sich auf einen Zweifrontenkrieg vor und verlegen in Windeseile Truppen und Gerät nach Galiläa. Möglicherweise hat Hisbollahführer Nasrallah eine endgültige Entscheidung noch nicht gefällt. Sobald die Bodenoffensive in Gaza startet, wird der Druck jedoch exponentiell zunehmen, den „Brüdern“ in Palästina islamistische Solidarität zu gewähren.

Sollte sich tatsächlich die faktische Vernichtung der Hamas als militärisch-politischer Faktor abzeichnen, könnte dies das Kalkül in Südbeirut nochmal beeinflussen. Dies wäre nämlich gleichbedeutend mit einer deutlichen Verschlechterung der strategischen Gesamtlage und würde dann ein weiteres Abwarten auf den „angestrebten Endkampf“ mit Israel nachteilig erscheinen lassen. Die Hisbollah allerdings ist militärisch ein völlig anderes Kaliber als die Hamas. Die Organisation verfügt über mehr als zehnmal so viele Raketen, darunter viele hochmoderne, als noch 2006, beim letzten militärischen Aufeinandertreffen mit Israel, das damals unentschieden endete. Ein extrem bedrohliches Szenario nicht zuletzt angesichts der Tatsache, dass der vielbeschworene Iron Dome zeitweise angesichts der Raketen der Hamas an seine Belastungsgrenze zu stoßen schien.

Sollte sich Israel zudem, ähnlich wie jetzt bei der Hamas angekündigt, dazu entschließen, mit Bodentruppen gegen den Feind im Norden vorzugehen, droht die endgültige Ausweitung des Krieges auf den Iran. Die Islamische Republik würde höchstwahrscheinlich nicht dabei zusehen, wie ihr wertvollstes Asset zunichte gemacht wird. Durch eine Invasion des Libanon, seinerseits ein politisches Pulverfass mit bereits jetzt fast zwei Millionen Flüchtlingen, sowie eine Ausweitung des Konflikts auf Syrien – das Land, in dem zahlreiche iranische und pro-iranische Milizen operieren, die dann über den Golan eine dritte Front eröffnen könnten – würde man dem Horrorszenario eines nahöstlichen Flächenbrandes mit globalen Auswirkungen immer näher kommen.

Was sollte der Westen jetzt tun? Er sollte alles daransetzen, den Konflikt territorial zu begrenzen. Das bedeutet, mäßigend auf Israel einzuwirken, damit es im Zustand des psychologischen Schocks nicht überreagiert. Nicht nur um die sich anbahnende humanitäre Katastrophe in Gaza noch abzuwenden, wenn eine Millionenbevölkerung ohne Fluchtmöglichkeit zwischen die Fronten gerät. Sondern auch um Israel selbst vor einer Überschätzung seiner Kräfte zu bewahren, die in einem Multifrontenkrieg bei gleichzeitigem Ausbruch bürgerkriegsartiger Zustände im Westjordanland und in Kernisrael droht. Dies wird nicht einfach angesichts von Teilen der politisch dominanten, offen rechtsradikalen Kräfte in Israel, die womöglich genau das Gegenteil von Deeskalation anstreben.

Ein Flächenbrand im Nahen Osten wäre verheerend für die globale Stabilität.

Ägypten und Katar sind zu involvieren, um in irgendeiner Art und Weise auf die wildgewordene Hamas einzuwirken, nicht nur im Hinblick auf die Freilassung der Geiseln, sondern auch, um ihr möglicherweise im Angesicht des Todeskampfes Exil anzubieten. Vor allem aber sollte der Islamischen Republik Iran von amerikanischer Seite klar vermittelt werden, dass dem Westen nicht am Ausbruch eines großen Regionalkrieges gelegen ist. Gleichzeitig ist jedoch die notwendige Abschreckung in Form von Kriegsunterstützung für Israel hochzufahren, wie durch die Verlegung einer US-Flugzeugträgerkampftruppe bereits geschehen, um dem iranischen Regime klarzumachen, welche Kosten auf es zukämen. Ob sich dann in Teheran die klügeren Kräfte und nicht die Hasardeure durchsetzen, steht freilich auf einem anderen Blatt. Zumindest aber sollte es nicht zu einer Fehlkalkulation an Israels Nordgrenze kommen, in deren Folge dann ein Krieg ausbrechen könnte, den eigentlich niemand will.

Ein Flächenbrand im Nahen Osten wäre verheerend für die globale Stabilität. Er wäre vor allem ein Geschenk an Russland, das durch die Ablenkung des Westens Luft zum Atmen in der Ukraine bekäme. Zwar ist nicht zu erwarten, dass sich Moskau explizit auf die Seite einer Iran-Hamas-Allianz stellt, das ausbrechende Chaos käme dem Kreml jedoch entgegen.

Letztlich ist die derzeitige Eskalation auch eine Erinnerung daran, dass an einer politischen Lösung des Nahostkonflikts kein Weg vorbeiführt. Es war eine Milchmädchenrechnung zu glauben, dass sich nachhaltige Stabilität in der Region durch Ignorieren der Palästinenserfrage erreichen ließe. Es ist gerade die politische Aussichtslosigkeit, die den Nährboden für Extremisten bereitet. Dies sollte denjenigen zu denken geben, die dann bald wieder die große Normalisierung zwischen Saudi-Arabien und Israel aushandeln.


Statement on the violence in Israel and Gaza

07/10/2023, THE ARCHBISHOP OF YORK, https://www.archbishopofyork.org/news/latest-news/statement-violence-israel-and-gaza

Read the full statement:

“We are grieved and deeply concerned at the violence in Israel and Gaza, and we unequivocally condemn the attacks by Hamas. We pray for those who are mourning, those who are injured, and all those fearing for their safety. We pray for restraint on all sides, and renewed efforts towards a just peace for all. The way forward must be for both sides to build confidence in a secure future through which Israel and its people can live in security within its internationally recognised borders, and Palestinians have their own state and live in their lands in security, and with peace and justice.”