… damit Deine Seele Lust hat, darin zu wohnen

1. Leib und Seele zusammenhalten

Ein kleines Dorf in Pennsylvania wurde in den 60er Jahren berühmt: Roseto. Das Dorf, das von italienischen Auswanderer gegründet wurde, hatte eine besonders niedrige Sterberate bei den unter 65-jährigen – 30 – 35 Prozent unter dem Durchschnitt. John Bruhn, Mitglied in einem Forscherteam, berichtete, man habe dort keine Selbstmorde gefunden, keinen Alkoholismus, keine Magengeschwüre; die meisten Leute seien einfach an Altersschwäche gestorben. In den nächsten Jahren ging man verschiedenen Hypothesen nach: war es ein besonderes Olivenöl, das so gesund erhielt oder insgesamt eine gesündere Kost? Tatsächlich aber nahmen die Leute dort 41 Prozent Fett zu sich. Lag es an den Genen? Am Trinkwasser, der medizinischen Behandlung in der dortigen Klinik? Keine Hypothese hielt der Forschung stand. Erst in den 70er Jahren kam das Forscherteam zu einem ganz anderen, überraschenden Ergebnis. Damals starb in Roseto der erste junge Mann am Herzinfarkt. Da hatte das Dorf seinen ursprünglichen Charakter verloren; die jungen Leute zogen zur Arbeit raus, man ging nicht mehr regelmäßig zur Kirche oder in den Club, aß abends nicht zusammen auf der Piazza. Im Rückblick zeigte sich: Genau das war das Geheimnis: Wer in eine solidarische Gemeinschaft eingebunden ist, lebt entspannt und vertrauensvoll. Und Gesundheit hat mindestens drei Dimension: eine körperliche, eine psychische und eine soziale.

„Leib und Seele“ heißt ein Tafelprojekt in Berlin. Da werden, wie in solchen Projekten üblich, gespendete Lebensmittel gesammelt und an Bedürftige verteilt; da wird aber auch – und das ist wichtiger -, zusammen gekocht und gegessen. Denn Essen und Trinken hält bekanntlich Leib und Seele zusammen. Nicht nur wegen der Nährstoffe und der Energiezufuhr, sondern auch wegen des Austauschs mit anderen und der Gemeinschaft, die stärkt und trägt. So ist es von Anfang an. Schon wenn Babys gestillt werden, erleben sie die intensivsten Momente der Nähe und Zugehörigkeit. Mutter und Kind stehen im Austausch, sie haben Kontakt – nicht nur körperlich, sondern auch mit Blicken und Bewegungen. Und der Säugling, der vor Hunger schreit, kann nicht unterscheiden, ob die Bauchschmerzen, die ihn plagen, eigentlich Hunger oder Sehnsucht sind. Er spürt nur diese furchtbare, schmerzende Leere.

Marco von Münchhausen, der ein Buch mit dem Titel „Wo die Seele auftankt“[1] geschrieben hat, spricht davon, dass wir auch als Erwachsene solche Momente kennen, in denen wir ein solches inneres Vakuum empfinden, die tiefe Sehnsucht nach Erfüllung spüren. Wir wollen einmal wieder durchatmen. Wir wollen neue Kräfte tanken. Endlich zu uns selbst kommen und uns wieder lebendig fühlen. Vor lauter Investition ins Außen, vor lauter Anforderungen in Beruf, Familie, Nachbarschaft haben wir das Gefühl, uns in den täglichen Zerreißproben selbst zu verlieren – unsere innere Mitte zu verlieren. Wir funktionieren, aber wir spüren uns nicht mehr – es sei denn mit Kopf- oder Rückenschmerzen. Wer kennt sie nicht, diese Momente der Leere, während das Hamsterrad sich zugleich immer schneller dreht. Und die Sehnsucht nach Entschleunigung, die damit einhergeht. Was dagegen hilft, hat mit unseren leiblichen und sozialen Rhythmen zu tun: mal wieder spazieren gehen statt Auto fahren, selbst kochen statt bei Mc Donalds vorbei hasten, einen langen Abend zusammen sitzen und klönen. Oder auch nur eine Viertelstunde auf die Matte gehen, im Atmen zur Ruhe kommen, die Mitte stärken, die alles tragen muss.

„Man soll dem Leib etwas Gutes bieten, damit die Seele Lust hat, darin zu wohnen“, steht an der Wand eines Cafés in Erfurt. Darunter: Winston Churchill. Naja – fast richtig. Denn das Wort ist viel älter, es stammt von Theresa von Avila und heißt wörtlich und sehr persönlich und direkt: „Tu Deinem Leib Gutes, damit Deine Seele Lust hat, darin zu wohnen.“ Theresa von Avila, eine spanische Mystikerin aus dem 16. Jahrhundert, verstand den Leib als Tempel der Seele. Gebaut aus dem gleichen Stoff wie die Welt, in der wir leben- und zugleich Teil unserer Person. Aus Erde gemacht, erzählt die Bibel – und lebendig, weil der Atem Gottes auch in uns atmet und durch unserer Körper hindurchfließt. Der mittelalterliche Theologe Thomas von Aquin spricht von der verleiblichten Seele.

Dass wir den Körper eben nicht nur als Materie verstehen, sondern als Teil der Person, das zeigt sich sogar an unserem Umgang mit den Toten. Schon lange vor der jüdisch-christlichen Geschichte begannen die frühen Menschen, ihre Familienangehörigen zu beerdigen. Und natürlich sagt es auch etwas über das moderne Verständnis von Leib und Seele aus, wenn wir den toten Körper eines Menschen heute tendenziell als verfügbares Gut verstehen. Als Bank für Genmaterial, als Lager für Organe. Dass sich bei vielen etwas dagegen sträubt, ist in den Debatten um die Organspende deutlich zu spüren. Erträglich wird das Ganze nur, wenn wir die Gabe mit der Vorstellung verbinden, anderen Leben zu schenken. Wenn Jesus beim gemeinsamen Sedermahl das Brot bricht, es seinen Jüngern gibt und sagt: „Nehmt und esst, mein Leib – für Euch gegeben“, dann meint er damit eben nicht nur die materielle Gabe, sondern zugleich einen spirituellen Austausch. In dieser Tischgemeinschaft drückt sich Geistliches ganz leiblich aus – ein starkes Symbol, das zum Kern unserer Kultur gehört.

Soviel Religion und Theologie gleich am Anfang? Bei einem Wohlfühltag? Ich möchte uns daran erinnern, wie sehr unser Umgang mit dem Körper mit unseren Vorstellungen von der Seele zu tun hat – und zwar in allen Kulturen und Religionen. Auch der Buddhismus kennt die Idee, dass der Körper Tempel der Seele ist und dass in unserem Atem eine andere Energie in ihm lebt. Sie fließt durch die Meridiane, sie sammelt sich in den Chakren – und diese Bewegung der inneren Energien ist mit dem Energiefluss und den Rhythmen der Außenwelt durch den Atem verbunden. Wer Tai Chi oder Yoga macht, der kennt diese Gedankenwelt. An unserem Atem spüren wir Druck und Enge, im bewussten Atmen lösen sich aber auch Verkrampfungen. Der Buddhismus hat die Vorstellung einer inneren, feinstofflichen Physiologie, die mit der äußeren eng verbunden ist. Erfahrungen verleiblichen sich – wir sprechen heute von Embodiment.

Wer im Hospiz oder im Pflegedienst arbeitet, kann inzwischen mitten in Deutschland erleben, wie unterschiedlich die Leib- und Seele-Vorstellungen in den verschiedenen Kulturen sind.[2] Die verschiedenen Rituale am Lebensende, die Massagen, Öle, Düfte und Segnungen erzählen davon. Auch der Umgang mit der Zeit für Sterben und Trauern. Dass kranke und sterbende Menschen nicht nur behandelt, sondern gepflegt werden, dass wir gerade auf die letzte Lebenszeit, auf ihre Tiefe, besonders achten, das hat natürlich auch mit der Vorstellung des beseelten Leibes zu tun; wer einen anderen berührt, rührt damit an Erfahrungen, die sich tief in den Körper eingeprägt haben. Und wer die Wunden eines Menschen pflegt, sorgt damit auch für das Heilen der Seele. Der Körper antwortet auf Berührung wie auf ein Gespräch.

 

2. Du sollst nicht funktionieren – vom Widerstand des Körpers

Ich bin mein Leib. Mein Gang, meine Haltung, meine Verletzungen und Schmerzen erzählen von meiner Lebensgeschichte. Wer mit einer Behinderung lebt, weiß, in welchem Maße dieser Leib auch unsere soziale Biographie, die Beziehungen und Berufswege bestimmen kann. Ich kenne aber auch Menschen, die andere ihre Behinderung einfach vergessen lassen. Denn wir können uns auch von körperlichen Erfahrungen distanzieren, uns über Körperbilder hinweg setzen. Ich bin Leib, aber ich habe eben auch einen Körper. Ich kann meine körperliche Kraft, meine Energie, meine Geschicklichkeit oder mein Aussehen einsetzen. Ich kann an meinem Körper arbeiten, ihn gestalten, mein Spiegelbild verändern. Jedes Sportstudio zeigt, wie Menschen sich darum bemühen.

Ariadne von Schirach[3] erzählt in ihrem Buch „Du sollst nicht funktionieren“, wie Menschen ihren Körper für den Markt optimieren – den Bewerbermarkt, den Heiratsmarkt. Von den Hungermädchen erzählt sie, die den Models nacheifern, von Stresskörpern und Fitnessleibern und von den Best Agern, die das Älterwerden wie eine lästige Krankheit hinaus zögern und verdrängen. Wir kommunizieren über unseren Körper, wir präsentieren ihn – da liegt es nahe, ihn wie ein Objekt zu behandeln, ihn stark zu machen und aufzuhübschen und unsere Chancen zu verbessern. Wir fliehen vor der Endlichkeit; dabei wäre es besser, sich den Tod zum Verbündeten zu machen, sagt von Schirach. Sich den Leib zum Verbündeten zu machen, auch wenn er Macken hat und uns zum Beispiel eine Erkältung präsentiert, wenn wir sie überhaupt nicht brauchen können.

Franziskus von Assisi spricht vom Leib als dem Bruder Esel. Damit erinnert er an die alte Geschichte von Bileam[4], dem Propheten, der mit seinem Esel unterwegs ist. Plötzlich bleibt der Esel stehen. Bileam gibt ihm einen Klaps, er brüllt den Esel an, schließlich prügelt er ihn, aber der Esel steht – alle Hufe fest am Boden. Denn im Unterschied zu Bileam sieht er den Engel, der ihnen den Weg versperrt. Ein Warnsignal – die beiden sind auf Abwegen. Bileams Esel ist nicht einfach nur störrisch, er nimmt mehr wahr als der Prophet selbst. So, sagt Franz von Assisi, sei es mit unserem Leib, dem Bruder Esel. Der sei oft klüger als unser Kopf mit all seinen Plänen. Er sieht die Grenzen, die Gefahren auf unserem Weg. Und sendet Warnsignale.

Wenn und solange unser Körper funktioniert, solange wir uns bei einer sinnvollen Aufgabe selbst vergessen können, solange die Energie reicht, um unseren Projekten nachzugehen, denken wir nicht viel darüber nach. Der Philosoph Hans Georg Gadamer hat von Gesundheit als dem selbstvergessenen Weggegebensein an das Leben gesprochen. Erst wenn die ersten „Warnsignalen des Körpers“[5] sich bemerkbar machen, wenn der Körper schlapp macht oder wenn wir krank werden, spüren wir, dass unser Leib eben mehr ist als ein verfügbares Instrument. Plötzlich geht es wieder um uns selbst, um unseren Lebensstil, unsere Motivation und unsere Kraftquellen, um den Sinn unserer Arbeit. Allerdings dauert es meist eine Weile, bis wir begreifen, dass eine Krankheit so etwas ist wie die Kehrseite unseres Alltags. Zuerst mal tun wir so, als sei die Krankheit uns einfach nur zugelaufen wie eine fremde Katze. Wir hoffen, dass sie sich bald verzieht, wie sie gekommen ist. Die Grippe, der wiederkehrende Infekt, die Entzündung. Und machen weiter wie gehabt.

„Ich fürchte, dass Du, eingekeilt in Deine zahlreichen Beschäftigungen, keinen Ausweg mehr siehst und deshalb Deine Stirn verhärtest; dass Du Dich nach und nach des Gespürs für einen durchaus richtigen und heilsamen Schmerz entledigst. Es ist viel klüger, Du entziehst Dich von Zeit zu Zeit Deinen Beschäftigungen, als dass sie Dich ziehen und Dich nach und nach an einen Punkt führen, an dem du nicht landen willst. Du fragst an welchen Punkt? An den Punkt, wo das Herz anfängt, hart zu werden. Frage nicht weiter, was damit gemeint sei: wenn Du jetzt nicht erschrickst, ist Dein Herz schon so weit“, heißt es in einem Brief von Bernhard von Clairvaux. Nicht an irgendwen, sondern an einen Papst, Papst Eugen III.[6]

Wir müssen also nicht erschrecken, wenn es auch uns so geht. Deswegen sind wir ja hier. Um für uns zu sorgen. Auf unser eigenes Leben zu achten. Und das heißt auch: auf unseren Umgang mit Arbeit.

 

3. Gesundheit und die innere Achse

„Die Arbeit ist für viele Menschen der Ort, an dem sie sich selbst verwirklichen möchten – und zugleich der Ort, an dem die Auswirkungen von Beschleunigung, Rationalisierung und Globalisierung großen Druck ausüben. Die Anpassung an diese Bedingungen fordert Reflexion und Verantwortung. Zum einen müssen wir unseren Referenzwert, die Orientierungskoordinaten für unser Leben ständig überprüfen, zum anderen müssen wir Aufmerksamkeit für die Gefahr der Erschöpfung entwickeln“, schreiben Unger und Kleinschmidt in ihrem Buch „Bevor der Job krank macht“.[7]

Ich denke an ein Schaubild, dass Studentinnen der Pflegewissenschaft in einem Ethikseminar entwickelt hatten. Es ging um die Werte der Organisation und die Werte der Personen. Auf dem Plakat sah man oben die Leitung mit ihren Erwartungen an die Mitarbeitenden – Leistung, Einsatz, Qualitätsmanagement, Loyalitätserwartungen. Unten die Kunden mit ihren Erwartungen an gute Pflege, Akzeptanz ihrer jeweiligen Biografie und ihrer persönlichen Werte. Und dazwischen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – zwischen Kassen und Kunden. Eine meiner Studentinnen hatte das Gefühl auf der Intensivstation Handlangerin ethischer Entscheidungen zu sein, die sie selbst so gar nicht getroffen hätte. Eine andere hatte sich komplett ohnmächtig gefühlt, als der zuständige Hausarzt in der ambulanten Pflege den Missbrauch nicht anzeigen wollte, den sie zur Sprache gebracht hatte.

Meine Ruhrgebietsstudentinnen kamen vielfach aus Migrantenfamilien, die meisten waren Musliminnen. Ihre Werte waren ihnen wichtig für die eigene Arbeit – im Blick auf Altern und Sterben, Religion und Geschlechterrollen. Aber sie hatten bis dahin wenig Gelegenheit gehabt, aus ihrer eigenen Haltung heraus auf ihre Arbeit zu schauen und das auch zu formulieren. Meist gab es schon fertige Leitbilder und Ziele, an die sie sich anpassen sollten. Aber ohne die eigene Person einzubringen, wird man auf Dauer weder pflegen noch erziehen, weder beraten und leiten können. Darum ist es so wichtig, sich mit den eigenen Werten auseinander zu setzen, ins Gespräch zu kommen, notfalls sogar einen Konflikt zu riskieren, damit die Energie wieder fließt. Und immer wieder zu schauen, ob die Ausrichtung der Organisation mit der eigenen Haltung und den eigenen Werten zusammen passt.

Unger und Kleinschmidt, die sich damit beschäftigt haben, was gute Arbeit ausmacht, empfehlen, sich regelmäßig Auszeiten zu nehmen, um sich solche Fragen zu stellen. „Entspricht meine Arbeit noch meinen persönlichen Werten und Zielen? Achte ich gerade genug auf mich selbst, meine Rhythmen und Körpersignale? Wie verantwortlich und wertschätzend bin ich mir selbst und mir wichtigen anderen Menschen gegenüber?“ Es geht um eine furchtlose Inventur, wie wir sie aus der Suchtkrankenhilfe kennen; ein Coaching oder eine Supervision können dabei hilfreich sein. Vielleicht auch einfach eine Zeit am Tage, in der wir die Stille auf uns wirken lassen. Ohne Selbstsorge kann die Sorge für andere auf Dauer nicht gelingen.

Paradoxerweise ist das in der Sozialwirtschaft und gerade in Diakonie und Caritas besonders schwer. Wie andere Dienstleistungsbereiche auch leidet die Branche in besonderer Weise unter Kosten- und Arbeitsdruck. Hier werden keine Überschüsse erwirtschaftet, die sich an Mitarbeitende verteilen ließen. Aufgaben wie Erziehung, Pflege oder Hauswirtschaft, die traditionell von Frauen in den Familien oder ergänzend von kirchlichen Einrichtungen übernommen wurden, werden bis heute oft nicht als professionelle Dienstleistungen verstanden, die das Einkommen einer Familie sichern sollen. Ohne Zweifel hängt das geringe Einkommen auch damit zusammen, dass „Beziehungs- und Zuwendungsarbeit“ grundsätzlich niedriger bewertet wird als wissenschaftliche und technische Arbeit oder Managementaufgaben. Längst kommt es auch und gerade in Erziehung und Pflege zu einer zunehmenden Spreizung von Qualifikationen und Einkommen: einfache Tätigkeiten werden outgesourcet, Fachdienste oft teuer eingekauft und Mitarbeiter ohne weitere Zusatzqualifikationen möglichst flexibel eingesetzt. Teams werden immer neu gemischt, einzelne Module und Dienstleistungen im Case Management aneinandergereiht – die Beziehungen geraten in Zerreißproben und werden brüchig. Die Zeit, sie ist in sozialen Diensten das teuerste Gut, wird knapp – und so werden die „Resonanzflächen“ geringer und die Möglichkeiten, sich einzufühlen und Feedback im Alltag aufzunehmen, schwinden.[8] „Wie ich berühre, so bin ich berührt“[9] – aber wenn ich niemanden mehr wirklich begegne, werde ich auch selbst kälter und distanzierter. Zielvereinbarungen, Nutzerfragebögen, Regelgespräche können zwar dafür sorgen, dass Feedback und damit Resonanz organisiert werden, sie bleiben aber letztlich Managementinstrumente, deren Sinnhaftigkeit immer neu erinnert und hergestellt werden muss. Wer Hilfebedürftige nur noch ein kleines Stück auf dem Weg begleiten kann und nicht mehr sieht, wie es weiter geht, wer sich immer neu einlassen und schnell wieder abgeben muss, verliert das Kostbarste, was diese Berufe ausmacht: die Erfahrung heilender Begegnungen.

Heike Lubatsch vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD hat eine Studie zu den Arbeitsbedingungen in diakonischen Krankenhäusern gemacht. Knapp 2000 Fragebögen wurden in diakonischen Krankenhäusern in Niedersachsen versandt, etwa ein Drittel kam zurück und konnte ausgewertet werden. Hinzu kamen 500 Fragebögen in den neuen Bundesländern sowie als Vergleichsgröße knapp 300 in städtischen Häusern. Ziel der Studie war es, mehr über Arbeitszufriedenheit und Sinnerleben im Pflegeberuf zu erfahren. Angesichts hoher Burnout Gefährdung in der Pflege ging es dabei wesentlich um die Kraftquelle der Pflegenden. Es wird niemanden überraschen, dass sich knapp die Hälfte der Befragten mit Entlohnung und Anerkennung ihrer Leistung unzufrieden zeigten, dass 80 Prozent über Zeitdruck klagten – und dass beim Thema Zufriedenheit die vielfältigen Aufgaben und vor allem die sozialen Beziehungen zu den Kollegen ganz vorn standen. Das Wohl der Patientinnen und Patienten stand mit 80 Prozent an erster Stelle, aber gleich danach ein gutes Team, eine sinnstiftende Tradition und schließlich die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung in der Arbeit. Die SI-Untersuchung zeigt: Wenn diakonischer Anspruch und gelebte Wirklichkeit in einem eklatanten Widerspruch stehen, wächst die Burnout Gefährdung, steigen die Fehltage[10].

Die schönste Geschichte von Menschenwürde und Mitleiden, die ich kenne, ist die vom Barmherzigen Samariter. Wie viele Gleichnisse gehört sie zu den Kraftquellen des christlichen Glaubens, an denen die Diakonie aber auch gemessen wird. Ich erinnere mich auch an die Wut der Patienten und Mitarbeiter, als zeitweilig in unserem Krankenhaus das kostenlose Wasser abgeschafft wurde, das bis dahin auf den Nachtischen stand. Weil das Herbeischaffen und Wegräumen der Flaschen zu viele Personalkosten band, wurde der Service outgesourcet. Man musste das Wasser also kaufen. Eines Tages hatte ich einen wütenden Ehemann am Telefon. „Und das in einer Kirche, die vom barmherzigen Samariter redet“, schrie er. „Nicht mal Wasser haben Sie für den, der im Dreck liegt.“ Er hatte Recht. Diese scheinbar kleine Entscheidung hatte die innere Achse, die Werte des Unternehmens beschädigt – und meine persönlichen gleich mit.

Meist sehen die anderen, die Kunden, die Angehörigen, zuerst, wenn unsere Quellen versiegen. Wenn die Energie fehlt, die Begeisterung, wenn wir müde und zynisch werden und nur noch funktionieren. Wenn die innere Flamme erlischt. Unser Umfeld merkt das so schnell wie unser Leib, auf den wir ja oft nicht hören. Wir sind ja keine Inseln, sondern miteinander verbunden. Aber es ist nicht leicht zu ertragen, wenn wir in Überforderungssituationen auch noch mit Fehlern konfrontiert werden. Trotzdem wissen wir: wenn solche Signale sich häufen, wird es Zeit, wieder neu zu klären, was wir mit unserer Arbeit erreichen, wofür wir uns einsetzen wollen, was uns heilig ist. Wir schließen ja nicht nur Verträge mit unserem Arbeitgeber, sondern in gewisser Weise auch mit uns selber, wenn wir einen Beruf wählen, einen Job beginnen.

 

4. „Dienet dem Herrn mit Freuden“ oder eigene Energie wieder finden

„Tu deinem Leib Gutes, damit Deine Seele Lust hat, darin zu wohnen.“ Das Wort von Theresa von Avila erinnert daran, wie wichtig es ist, uns die Lebensfreude zu erhalten – gerade dann, wenn uns die Sorge für andere belastet. Deswegen gefällt es mir eigentlich sehr gut, wenn über manchem Mutterhaus der Diakonie zu lesen ist: „Dienet dem Herrn mit Freuden“. Die Diakonissen, für die das einmal geschrieben wurde, wussten, dass sie Rückzugszeiten brauchten, um sich neu an ihre Kraftquellen anzuschließen, Prioritäten zu klären, sich vielleicht auch neu zu orientieren. „Einkehrtage“ nannte man das damals. „Auftanken“ würden wir vielleicht sagen. Das ist allerdings kein passiver Vorgang, so wenig wie übrigens das Stillen, von dem ich am Anfang gesprochen habe. Sich rausziehen und alles andere ausblenden – das ist nur der Anfang. Das entspannt, aber es versorgt uns noch nicht mit Energie. Uns vitalisiert, was uns befreit und was uns begeistert.

Marco von Münchhausen hat in seinem Buch „Wo die Seele auftankt“ verschiedene Möglichkeiten dargestellt: ein gutes Essen, eine Massage, die Liebe genießen. Musik hören oder besser noch Musik machen – wie viele Filme erzählen, wie ein Chor Menschen verändern kann. Die eigene Stimme hören, die Lebendigkeit des Körpers wahrnehmen. Natur erleben: Unter grünen Baumdächern walken und beobachten, wie das Licht die Farben verändert. Beim Tiefseetauchen ganz neue Welten entdecken. Sich bewegen und die Kraft im eigenen Körper spüren, seine Lebendigkeit wahrnehmen. Das tut gut. Oder Lesen und in eine andere Welt versinken; neulich erschien ein Buch über Romane als Therapie. Oder auch Lachen – ganze Lachseminare leben davon, dass Lachen entspannt und glücklich macht. Kinder lachen übrigens im Schnitt etwa 400-mal täglich, Erwachsene nur noch 15 mal – vielleicht, weil wir uns immer ein bisschen kindisch vorkommen, wenn wir uns begeistern oder über eine Kleinigkeit lachen.

Lachen entspannt und bringt unsere Energie zum Fließen. Aber auch ein konzentriertes Tun, zum Beispiel Gartenarbeit, kann den Alltag vergessen lassen. Aufräumen kann befreien, und gerade das Engagement für andere kann uns das spüren lassen, dass unser Leben Sinn hat, dass es Freude macht, da zu sein. Horst Krämer, der ein Buch über Soforthilfe bei Stress und Burnout geschrieben hat[11], sagt, wir fänden am besten aus Belastungssituationen heraus, wenn wir wieder spüren, dass wir die Lust und die Kraft haben, Ziele zu erreichen, uns selbst und unsere Umwelt zu verändern. Und wenn wir uns auf das Miteinander verlassen können. Kollegen, auf die wir zählen können. Stabile Beziehungen auf der einen Seite und Herausforderungen, an denen wachsen, auf der anderen – das sei das Geheimnis eines erfüllten Lebens, sagt der Hirnforscher Gerald Hüther.

Abhängen und sich verwöhnen lassen genügt also nicht, wenn wir uns leer und kraftlos fühlen. Wenn die Lebensfreude schwindet und selbst Aufgaben, die gestern noch Spaß gemacht haben, zur bloßen Pflicht werden. Es geht darum, aufzubrechen und uns auf eine innere Reise zu machen, wie es so viele tun, die auf einen Pilgerpfad gehen und mit den Füßen beten. Dabei kommt es letztlich darauf an, unseren Tag und dann auch unseren Alltag neu zu gestalten, eine neue Balance zu finden zwischen Anspannung und Entspannung. Zwischen zielgerichtetem Handeln und einem tragfähigen Miteinander, zwischen Fürsorge und Selbstsorge. Erinnern Sie sich an die Antworten der Pflegenden zur Frage nach ihren Kraftquellen? Die Resonanz ihrer Patientinnen und Patienten und ein gutes Team, hilfreiche Traditionen und eigenes Wachstum standen ganz oben. Immer, wenn wir auf der Beziehungsebene weiter gekommen sind, wenn wir uns von einer Person oder eine Gruppe anerkannt und eingebunden fühlen, spüren wir auch Erfolg. Wenn wir aber alle Energie aufs Funktionieren richten, dann spüren wir am Ende möglicherweise nicht einmal mehr die eigene Anspannung, selbst Schmerz und Enttäuschung nicht. Genau deshalb ist es so wichtig, inne zu halten und eben auch die Warnsignale des Körpers ernst zu nehmen. Manchmal genügen viel Schlaf und ein warmes Bad, oder auch Tai Chi und Yoga, manchmal muss es die Seelenspeise aus unserer Kindheit sein, damit wir rauskommen aus Rechtfertigungsdruck und guten Ratschlägen, aus Zeitdruck und Selbstüberforderung. Religion kann dabei helfen. Mit ihren Bildern und Ritualen ist sie ein Angebot, unseren Ort im Lebenslauf, „zu verleiblichen und zu vergemeinschaftlichen“.

 

5. Beseelte Orte und Seelenverwandte

Die Psychoanalytikerin Ingrid Riedel[12] hat ein Buch geschrieben, in dem sie ihre Seelenorte vorstellt. Die Tempelanlage der Erdmutter auf Malta kommt da vor, ein Isis Tempel in Libyen – wer weiß, ob er noch steht – das Kloster der Hildegard von Bingen auf dem Disibodenberg, das Labyrinth in Chartres und die Menhire in Frankreich und das Meditationszentrum Neumühle. Kraftorte, die – wie sie schreibt, in ihrer stimmigen Ganzheit das Gefühl von Ganzheit in ihr selbst geweckt haben. „Woher mag es kommen, dass wir in den letzten Jahrzehnten in breiten Kreisen eine solche Faszination durch beseelte Orte erfahren?“, fragt Ingrid Riedel. Sie meint, es müsse mit einer Art von Heimweh zu tun haben, das viele ergreift. In einer Welt, die sich rasch verändert und uns hin und hertreibt, suchen wir Wurzeln, die über unsere einzelnen Projekte, Lebensabschnitte, ja, über unsere individuelle Geschichte hinausreichen. Beseelte Orte eben, in denen unsere Seele zu Hause sein kann wie in einem größeren Leib.

Als ich das Buch vor einigen Jahren gelesen habe, begann ich ganz unwillkürlich meine eigene Liste der beseelten Orte hinzu zu fügen. Das 400 Jahre alte Fachwerkhaus, in dem ich meine Kindheit verbracht habe, die Klagemauer in Jerusalem, und auch die Kaiserswerther Diakonie, die mir ja eigentlich ein Arbeitsort war. Wer durch die alten diakonischen Gründungsorte wie Bethel, Herrnhut oder das Rauhe Haus geht, der erspürt schon in der Anlage der Häuser und Friedhöfe , in den Bibelworten und Bildern an den Wänden eine faszinierende Verbindung von Innen und Außen, von Spiritualität und sozialem Engagement. In Kaiserswerth gehört auch die Natur dazu: die alte Zeder, die Fliedner aus dem Libanon mitgebracht hat, die Apfelplantagen, die von der Gartenbauschule übrig geblieben sind, Rosen und Linden auf dem Friedhof nach Herrnhuter Art. Der Rosenduft im Sommer und die Glocken der Mutterhauskirche morgen, mittags und abends bilden eine Art Klangheimat – und das alles zusammen macht den Zauber aus – in mancher Hinsicht ist es auch hier längst der Zauber vergangener Zeiten mit ihren regelmäßigen Andachten, Ein- und Aussegnungen.

Aber trotzdem bleibt da eine Sehnsucht, ein Hunger nach Orten und Augenblicken, in denen wir auch am Arbeitsplatz Sinn und Motivation sichtbar, hörbar, spürbar um uns haben. In den Räumen wie in den Ritualen. Und dieser Wunsch ist berechtigt. Martina Höber, mit der ich viel in Führungstrainings zusammengearbeitet habe, hat immer wieder daran erinnert, dass zur Identität einer Organisation auch um die physische Ausstattung der Häuser und der Umgang mit Zeit und Ritualen in den Arbeitsprozesse gehört. Es geht um die Gestaltung der Eingangshallen und Büros, der Betriebsrestaurants, um Studios und Rückzugsmöglichkeiten für intensive Gespräche, die Ermöglichung von Auszeiten. Firmen im Silicon Valley, aber auch kleine Unternehmen, die hier für Nachhaltigkeit stehen, sind große Vorreiter darin. Zeit und Raum sind aber zugleich wesentliche Kategorien der diakonischen Arbeit selbst – von der Jugendhilfe über die Wohnungslosenhilfe bis zur Pflege haben wir es ja immer mit Körper und Lebensrhythmen, mit Herkunft und mit sinnlicher Wahrnehmung zu tun. Die Schönheit und der Zauber der alten diakonischen Einrichtungen sollten die Prozesse des Zu-sich-selbst-Kommens unterstützen – genauso wie heute ein Hotel für Wohnungslose oder ein Generationengarten. Seit den 80er Jahren aber hatten die Ökonomisierungsprozesse im Sozialen dazu verführt, Zeit eben nicht mehr in Rhythmen von Werden und Vergehen, sondern nach Planung und Wirkung zu berechnen und Räume zu funktionalisieren. Im Wettbewerb um die günstigsten Pflegesätze wurden die schönen Gründerzeithäuser zu groß und zu teuer, die Parkpflege unbezahlbar und die gemeinsamen Tischzeiten schwanden.

Immer wieder einmal werde ich gefragt, ob es für Kirche und Diakonie nicht an der Zeit wäre, aus dem Gesundheits- und Sozialmarkt auszusteigen. Ich denke dann an Theodor Fliedner, den Gründer von Kaiserswerth. Der hatte damals klare Kriterien, wann er seine Diakonissen aus einem Krankenhaus zurückzog. Dabei ging es um Qualität und Ethik der Pflege, um Sauberkeit, gute Versorgung und medizinische Behandlung, – es ging aber auch um die Gesundheit der Schwestern, dass sie Urlaub und dass sie Zeit genug zur Erholung hatten. Was uns für unsere Klienten wichtig ist, das brauchen die Mitarbeitenden eben auch. Tragfähige Netze, inspirierende Begegnungen und Orte, an denen man sich gern aufhält. Sie brauchen Zeit, sich gut zu versorgen, für Bewegung, gute Ernährung und gemeinsame Mahlzeiten.

Nach der Zeit der Zweckbauten und Kantinen kehrt jetzt hier und da etwas von dem zurück, was die Mutter- und Bruderhäuser jahrzehntelang geprägt hat: die Gastfreundschaft. Ob Haus der Stille oder Mehrgenerationenhaus, ob Familienzentrum oder Obdachlosen-Café- immer geht es um einen Platz, an denen, wo man freundlich empfangen wird, gemeinsam essen und reden und auch Gäste einladen kann. Auch die Andachts- und Abschiedsräume, meditative Labyrinthe und Cafés wurden in den letzten Jahren neu entdeckt und gebaut. Und auch Gartenprojekte und gemeinsame Mittagstische für jeden im Quartier haben wieder Konjunktur. Die Arbeit mit denen, die oft vergessen und marginalisiert sind, hat wesentlich dazu beigetragen: in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen wurden die ersten Abschiedsräume eingerichtet, in Vesperkirchen die Mittagstische für Obdachlose. Gastliche Räume holen offene Fragen aus der Tabuzone.

Der Ethik- und Palliative-Care-Prozess in der alten Kaiserswerther Diakonie begann mit den Tränen einer Schwester. „Nach vier Jahren in der Lungenklinik kann ich meine Traurigkeit nicht mehr herunterschlucken“, sagte sie. Sie hatte zu viel Abschied erlebt – und zu wenige Möglichkeiten gehabt, ihre Gefühle wahrzunehmen und zu gestalten. Mit diesen Tränen begann etwas Neues – zunächst mit einer ehrenamtlichen Hospizgruppe von Schwestern in der Rente, die sich endlich Zeit nehmen konnten, am Bett zu sitzen und ganz da zu sein. Ich habe die Anfangsschwierigkeiten nicht vergessen – zunächst einmal störte sie den Betrieb. Aber dann kam der Aufbruch. Die Atemtherapeutin, die Stationsschwester, ein junger Arzt arbeiteten mit und aus der kleinen Gruppe wurde eine Bewegung, die mehr als 200 Leute in Krankenhaus und Altenhilfe erfasste. Die Schreinerei entwickelte eine kleine Schub-Lade mit Kerze, Spruchkarte, Kreuz und einem weißen Deckchen für den Nachtisch – für jede Station, für jede Pflegekraft, die einen Abschied gestalten will. Und in das weiße Tuch stickten Ehrenamtliche aus der Paramentik einen Schmetterling als Zeichen der Wandlung. Es hat mich begeistert, zu sehen, wie diese Arbeit immer neue Früchte trug – ganz greifbar und praktisch vom Moseskörbchen in der Geburtsstation bis zur Ethikberatung in der Altenhilfe – das Schönste war, dass Mitarbeitende sich beflügelt fühlten, weil sie endlich wieder die eigene Berufung spürten. Wer in diesem Sinne bei sich selbst ist, kann auch bei anderen bleiben. Aber zu sich selbst und zu anderen kommen, die eigenen Gefühle und die der anderen wahrnehmen – das braucht Gestaltung in Zeit und Raum.

Die gegenwärtigen Umbruchprozesse in diakonischen Unternehmen machen das Bleiben allerdings schwer. Fusionsprozesse und Neuaufstellungen wirbeln ganze Teams durcheinander, viele verlieren den Halt auf ihrer Station, in ihrem Haus oder Arbeitsbereich. Manche steigen aus, qualifizieren sich weiter, wechseln den Job, andere fühlen sich „abgehängt“. Wir sind Beziehungswesen – auch wenn wir herauswachsen aus der Symbiose von Mutter und Kind, die am Anfang unsere Sehnsucht stillt – letztlich sind wir in jedem Alter auf Anerkennung und das Wohlwollen anderer angewiesen. Der Wirtschaftstheoretiker Adam Smith hat diesen Gedanken in seiner Theorie der ethischen Gefühle für die moderne Wirtschaft herausgearbeitet. „In einer zivilisierten Gesellschaft ist der Mensch ständig und in hohem Maße auf die Mitarbeit und Hilfe anderer angewiesen. Doch reicht sein ganzes Leben gerade aus, um die Freundschaft des einen oder anderen zu gewinnen…“[13].

Freundschaften und Seelenverwandtschaften sind gerade heute wichtig, in unserer Zeit der flexiblen Arbeitsverhältnisse. Und die Kolleginnen und Kollegen spielen dabei eine wichtige Rolle – manche sprechen schon von Frollegen. Es tut gut, zu wissen, wem wir vertrauen können, wohin wir gehören, wenn wir an die Arbeit gehen. Wir sind darauf angewiesen, dass Informationen fließen, dass wir Rückmeldungen bekommen und geben können, dass wir uns einmischen können, wenn unsere Arbeit sich verändert. Wir brauchen Besprechungen, die mehr sind als das Abhaken von to-do-Listen, Zeiten zum Austausch, Probleme zu klären, einander Mut zu machen. Und eben auch Zeiten und Räume, die aus dem Alltag herausgenommen sind. Ein Raum der Stille, ein Einführungskurs, ein Ethikzirkel, aber auch Feste und Fachtage wie heute geben die Chance, uns klar zu machen, wo wir stehen, wohin wir gehören, wohin wir unterwegs sind. In Gruppengesprächen, beim gemeinsamen Essen, in einem gemeinsamen Abschluss entsteht ein Resonanzraum, der über den Augenblick hinausweist, unsere Rollen überschreitet und unsere Gefühle einbezieht. Das macht Lust, zusammen weiter zu arbeiten. Weil auch die Seele ihren Platz wieder gefunden hat. Im Leib, in der Gemeinschaft und an ihrem Ort. Das alles gilt es zu pflegen, damit der Spirit sozialer Arbeit erhalten bleibt.

Wir sind dazu ausgebildet, auf die Bedürfnisse anderer zu achten und für sie zu sorgen. Vielleicht gehört dazu auch die Vorstellung, dass von den Menschen, denen wir Zuwendung geben, etwas zu uns zurückkommt. Wenn uns die Resonanz fehlt, führt das manchmal dazu, dass wir noch mehr tun und uns selbst dabei vergessen. Bis eben nichts mehr geht. Wenn es soweit ist, dann gibt es nur eines: da anfangen, wo der Schmerz sitzt – bei der Wut, der Enttäuschung vielleicht. Sich die uneingestanden Wünsche und Bedürfnisse bewusst zu machen. Und wirklich zu begreifen, dass Fürsorge ohne Selbstsorge nicht funktioniert. Dass wir uns selbst gut tun. Und dann klein beginnen – einen Tag für sich selbst nehmen; den Arbeitsplatz neu gestalten, ein paar Blumen kaufen, einen Spaziergang machen. Es gab eine Zeit, da hatte ich 20 Ideen, wie ich mir gut sein konnte, am Kühlschrank hängen. Und eine andere, in der ich mit den Jahreszeiten wunderbare Rituale aus einem Jennifer Loudens Wohlfühlbuch für Frauen[14] ausprobierte.

Meine Erfahrung ist, irgendwas geht immer, um zurück in die Spur zu kommen. Für mich am besten: Walken und Tagebuch schreiben. Bis ich den Kopf frei kriege und meine Seele auch. Und es ist gut, dabei Begleiter zu haben – Freunde, Personaltrainer, geistliche Begleiter. Da geht es uns nicht anders als denen, die uns begleiten. Auch eine Erfahrung von Theresa von Aquila hilft mir: die innere Burg, der Schutzraum in mir selbst. Oder – wie es die Hypnotherapeuten sagen: die innere Kapelle. Es tut gut, in Stille und Meditation, irgendwo im Grünen oder auf einer Yogamatte, den Ort aufzusuchen, an dem unsere Seele zur Ruhe kommt. Dieser Raum ist immer da – wir tragen ihn in uns. Meiner sieht übrigens aus wie der Chorraum der Zionskirche in Bethel: ganz ausgeschmückt mit Sternen auf blauem Grund. Als ich das entdeckte, habe ich endgültig begriffen, wie sehr Innen und Außen, Leib und Seele, Lebenswege und Seelenwege verschränkt sind. Wir sind im Leib und in der Welt – und gerade so machen wir wunderbare Erfahrungen. Wer darauf achtet und achtsam mit sich umgeht, tut sich gut. Und anderen auch.

Cornelia Coenen-Marx, Mühlhausen, 18.9.15

[1] Marco von Münchhausen, Wo die Seele auftankt, Frankfurt 2004
[2] Vgl. auch: Ulrike Krasberg, Godula Kosack, Und was ist mit der Seele? Frankfurt 2009
[3] Ariadne von Schirach, Du sollst nicht funktionieren – Für eine neue Lebenskunst, München 2014
[4] 4. Mose 22, 21 ff.
[5] Vgl. z.B. Volker Fintelmann, Marcela Ullmann, Warnsignale des Körpers, Beschwerden von Körper und Seele ganzheitlich verstehen, München 2004
[6] Zitiert nach Anselm Grün, Buch der Lebenskunst, Freiburg 2002
[7] Unger, Hans-Peter/ Kleinschmidt, Carola: Bevor der Job krank macht, München 2006.
[8] Vgl. die Überlegungen von Hartmut Rosa zu „Beschleunigung. Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Berlin 2005 – und seitdem vielfältige Aufsätze und Texte zu Resonanz und Beschleunigung vom gleichen Autor
[9] Klaus M. Meyer-Albich.
[10] „Führung macht den Unterschied“, Heike Lubatsch, Sozialwissenschaftliches Institut der EKD, Hannover 2012
[11]Horst Krämer, Soforthilfe bei Stress und Burn-out, München 2010
[12] Ingrid Riedel, Beseelte Orte, Stuttgart 2001
[13] Adam Smith, Theorie der ethischen Gefühle, Hamburg 1977, S. 127
[14] Jennifer Louden, Tu dir gut, Das Wohlfühlbuch für Frauen, Freiburg 1997