Fachtag der Wohnungslosenhilfe der Diakonie Schleswig-Holstein, Schäferhof, Appen, 09.11.2016
1. Die himmlische Gesellschaft
Der syrische Flüchtling Alex Assali wurde über Facebook bekannt: Er ist „der Flüchtling, der auch Obdachlose bekocht“. Alex war 2014 an der italienische Küste gelandet und hatte letztes Jahr das Glück, ein Zimmer im Sharehouse Refugio in Berlin zu finden. In dem schönen, hundertjährigen Haus in Neukölln leben und arbeiten auf 5 Etagen Menschen zusammen, die ihre Heimat verloren haben oder verlassen mussten, oder die nach neuem Leben in Gemeinschaft suchen. Menschen aus Syrien, Somalia, England und Deutschland, aus Schweden, Afghanistan oder der Türkei. Das Refugio ist kein Heim, sondern eine Wohn- und Arbeitsgemeinschaft auf Zeit. Genau eineinhalb Jahre kann man jeweils hier wohnen.
„Jeder Mensch ist einzigartig und kostbar, darum fördern wir uns gegenseitig in unseren einzigartigen Fähigkeiten und Talenten. Wir helfen nicht, wir unterstützen einander auf Augenhöhe, denn keiner ist besser als der oder die andere, und nur im Teilen sind wir wirklich reich.“ Das ist der Sharehausgedanke, das Leitbild. In diesem Sinne kann ein Sharehaus überall sein, wo Menschen mit Respekt und Neugier aufeinander zusammenkommen. Es geht also nicht nur um die Integration von Geflüchteten, sondern um einen neuen Lebensstil. Das Sharehouse versteht sich als Teil eines Netzwerks, als Co-working-Space und als soziales Unternehmen – refinanziert durch Vermietung von Räumen, Catering, Konferenzen und Spenden.
„Ich habe hier im Refugio gelernt, wie man tief leben kann“, schreibt Esra im Sharehouse-Blog. Das bedeutet für mich, wie man alle akzeptieren kann. Wir haben auf dieser Welt genug Platz. Wir sollen keine Angst vor anderen haben und vor uns selbst auch nicht. Wir sind alle auf der Flucht – auf der Flucht auch vor uns selbst. Teil deine Liebe mit allen. Mach die Revolution mit dir“. Was Esra hier schreibt, könnte auch von Luther oder Bodelschwingh kommen: „Wir sind Bettler, das ist wahr“, sagt Luther. Und Bodelschwingh war überzeugt: Wir sind alle unterwegs. „Das ist aller Gastfreundschaft tiefster Sinn, dass wir einander Heimat geben auf dem Weg nach dem ewigen Zuhause.“
Dass Alex Assali hier ganz selbstverständlich leben und mitarbeiten konnte, dass er von Anfang an dazu gehörte, das machte ihn einfach glücklich – und von diesem Glück wollte er etwas weitergeben. So machte er seine eigene kleine Revolution. Er entschied sich, eine Straßenküche aufzumachen. Er kochte Suppen und Eintöpfe, packte die Töpfe auf sein Fahrrad und installierte eine Warmhalteplatte auf den Straßen Berlins. Und dann schöpfte er aus an Flüchtlinge und Obdachlose – und einfach an jeden, der probieren wollte. Kochen wärmt das Herz – nicht nur die Speisen. Und auch einer wie Alex Assali wärmt die Herzen; das ist das Geheimnis seines Erfolgs.
„Ein Sharehaus ist ein Garten, in dem deine einzigartigen Talente und Träume aufblühen können, es ist eine Gemeinschaft, in der alle gleich wichtig sind, und es ist immer eine Werkstatt für himmlische Gesellschaft“; heißt es auf der Berliner Homepage. Eine Werkstatt für himmlische Gesellschaft – und ganz offensichtlich ein Gegenbild zu der irdischen, die wir kennen.
„Solange Deutsche zur Tafel gehen müssen, haben Flüchtlinge da nichts zu suchen.“ Das Zitat eines erzürnten Tafelbesuchers ist keine Einzelmeinung; Wohlfahrtsverbände und Presse haben sich im letzten Jahr immer wieder mit der Frage auseinandergesetzt, wie sich die gefühlte Ungerechtigkeit in ein faires Miteinander wandeln lässt. Es geht ganz offensichtlich um eine doppelte Benachteiligungserfahrung: Um den eigenen gesellschaftlichen Abstieg und mangelnde Verteilungsgerechtigkeit im Sozialstaat, zugleich aber um die Sorge, angesichts neuer, globaler Herausforderungen und zunehmender Arbeitsmigration nun erst recht zu kurz zu kommen. Diese Angst bestimmt inzwischen auch Wahlen, wie wir nicht nur in den USA sehen. Ausgrenzungserfahrungen, die Hartz-IV-Empfänger und Geflüchtete verbinden könnten, trennen: Die Angst vor Verlusten und der Wunsch nach Zugehörigkeit lässt die einen gegenüber den anderen auf älteren Rechten beharren. „Die pluralistische Gesellschaft ist in Gefahr, eine fragmentierte Gesellschaft zu werden“, konstatierte Udo di Fabio schon 2012. Die sogenannte Flüchtlingskrise hat die Brüche und Trennlinien für alle erkennbar gemacht.
2. Caring Communities – zur Konjunktur eines Begriffs
Der Begriff der „Caring Community“ hat seit einigen Jahren Konjunktur. Und das Sharehouse ist ein gutes Beispiel für die Haltung und das Menschenbild, das dahinter steht. Es geht um ein neues Miteinander über Lebensalter oder Herkunft hinweg. Um Begegnungen auf Augenhöhe, wechselseitige Unterstützung und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen – für sich selbst, für andere und auch für die gesellschaftliche Entwicklung. Die „Caring Community“ ist zu einem internationalen Leitbegriff geworden, um auf regionaler und lokaler Ebene Verantwortungsstrukturen neu zu beleben und zu gestalten. In Deutschland ist von „Sorgenden Gemeinschaften“, von „Sorgenden Gemeinden“ oder auch von „Verantwortungsgemeinschaften“ die Rede. Nicht nur Kommunen, auch Kirchengemeinden, Schulen und Unternehmen sind gefragt und greifen das Thema auf. Dabei sind die Handlungs- und Themenfelder, in denen sich eine Sorgende Gemeinschaft entfalten kann, ganz verschieden: Es geht um Kinder, um Menschen mit Behinderung, um Ältere und Geflüchtete, es geht um eine nachhaltige Wirtshaft, aber auch um Sterbende und Trauernde. In diesem Zusammenhang spricht man übrigens auch von „Compassionate Communities“, die vor allem die Palliative Care Diskussion aufnehmen.[1]
Zuletzt hat der Siebte Altenbericht, der in diesem Herbst endlich erschienen ist, den Begriff und die dahinter stehende Bewegung populär gemacht – zumindest in der Fachszene. Im Sorgenbarometer[2] der Bürgerinnen und Bürger steht die Frage nach der Versorgung im Alter oben. Bei den Jüngeren nimmt das Vertrauen in die Stabilität und Nachhaltigkeit der Sozialen Sicherungssysteme ab. Insbesondere für Frauen und Menschen im Niedriglohnbereich wird Altersarmut vorausgesagt. Wie wir zukünftig für uns selbst und füreinander sorgen, das beschäftigt also viele Menschen – individuell, kollektiv und auch politisch. Die Fragen der Generationensolidarität, die Zukunft der Pflege und die Sorge um ein Sterben in Würde stehen auch ganz oben auf der politischen Agenda. Der hohe Anteil der Bürgerinnen und Bürger, die den assistierten Suizid befürworten, zeigt in aller Schärfe die Herausforderung: Die Befragten bezweifeln, dass für sie gesorgt sein wird, wenn sie allein nicht mehr zurechtkommen. Das Sterben in Pflegeheimen oder im Krankenhaus wurde für viele zum Schreckgespenst. Nur ein Prozent wünscht sich, in einem Krankenhaus zu sterben – aber 80 Prozent sterben in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen. Am Ende hilflos und existenziell auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein, ist zudem für moderne Menschen eine Kränkung – es stellt unsere Autonomie in Frage.
„Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ – das war der auch Titel der EKD-Orientierungshilfe zur Familienpolitik. In dem innerkirchlich heiß diskutierten Papier, das 2013 erschien, ging es zum einen darum, die Vielfalt der Familienformen sichtbar zu machen und kirchlich anzuerkennen. Zum anderen ging es aber auch hier um Fragen der Sorge. Denn die Verteilung von Sorgeaufgaben ist weiterhin einem vormodernen Rollenmuster verhaftet – das gilt für Haushalt, Erziehung und Pflege gleichermaßen. Und auch der jüngste Alterssurvey der Bundesregierung zeigt, dass selbst bei gleicher Belastung mit Erwerbsarbeit noch immer der größere Teil der Haus- und Familienarbeit von Frauen geleistet wird – angesichts des demographischen Wandels, der zukünftigen Pflegeaufgaben und zunehmenden Erwerbsbeteiligung von Frauen ist das ein wachsendes Problem. Hinzu kommt, dass die sozialen Sicherungssysteme, insbesondere die Pflegeversicherung auf diesem Rollenmuster beruhen – sie sind im Blick auf eine männliche Vollzeiterwerbstätigkeit und weibliche, private Sorge hin kalkuliert. Neue, unterbrochene Erwerbsverläufe, aber auch abnehmende private Zeit für Care-Aufgaben werden deshalb zum Problem. Das betrifft auch das soziale Ehrenamt.
„Die kulturelle Herausforderung des demografischen und sozialen Wandels“, schreibt Thomas Klie, „liegt deshalb in einer fairen und intelligenten Neuverteilung von Sorgeaufgaben im Gender- und im Generationenverhältnis; ohne Rückgriff auf einen familialen Revisionismus.“ „Sorgende Gemeinschaften“ könnten also ein spannender Auftakt sein, um die Fragen von sozialer Verantwortung und sozialer Sicherheit neu zu verhandeln, sagt er. Sie dürften aber nicht missbraucht werden, um die Probleme lediglich abzufedern und von den notwendigen Reformen abzulenken.
Wenn der siebte Altersbericht von „Sorgenden Gemeinschaften“ spricht, dann nimmt er aber auch eine gesellschaftliche Wirklichkeit auf: Millionen von Älteren engagieren sich in ihren Familien – mit Geld wie mit Hilfeleistungen -, aber auch in Nachbarschaften und Gemeinden. Mit Wohngemeinschaften, Telefon- und Serviceketten in der eigenen Generation, mit Besuchsdiensten bis hin zur Hilfe bei der Pflege. Aber auch als Begleiterinnen und Begleiter den nächsten Generationen- als Lesepaten, Leih-Omas, Stadtteilmütter, Ausbildungsmentoren. In Mehrgenerationenhäusern und Stadtteilcafés, in Quartiersprojekten und bei Tafeln oder zuletzt in Willkommensgruppen für Flüchtlinge sind Sorgende Gemeinschaften entstanden. Das meiste davon geschieht ehrenamtlich. Die Freiwilligensurveys der letzten Jahre zeigen: Die Bereitschaft und das Interesse, die Gesellschaft im Kleinen mit zu gestalten, gehören über alle Generationengruppen hinweg zu den ganz wesentlichen Motiven bürgerschaftlichen Engagements. Dabei geht es keinesfalls um selbstvergessenen Altruismus. Denn wer sich engagiert, gewinnt zugleich neue Beziehungen und eigene Netzwerke, Lebensvertiefung und soziale Kompetenzen. Betont werden muss allerdings, dass dazu auch soziale Netzwerke und finanzielle Ressourcen notwendig sind.
Darüber hinaus hat die sozialwissenschaftliche Forschung gezeigt:[3] Menschen, die sich in Gruppen engagieren, entwickeln ein überdurchschnittlich hohes Vertrauen, eine positive Grundeinstellung in der Begegnung mit anderen – auch gegenüber Fremden und Menschen aus anderen gesellschaftlichen Schichten und Milieus. Engagement ist Teilhabe und stärkt Teilhabe. Und Quartiersläden, Freiwilligenzentren oder Mehrgenerationenhäuser verankern diese Mitverantwortlichkeit in Strukturen. In der Zivilgesellschaftsbewegung sprechen wir deshalb auch von einem „Recht auf Engagement“ – auch für Menschen mit Behinderung, Hartz-4-Empfänger, Geflüchtete oder Obdachlose.[4] Ich denke an „Kunden“ oder Gäste der Tafel, die zum Teil des Teams werden, oder an ein Team von Menschen mit Behinderung in Essen, aber auch an Geflüchtete in Berlin, die zu Museumsführern ausgebildet wurden, und an Obdachlose als Stadtführer oder Autoren.
Hannah Arendts Begriff der Mitverantwortung[5] stellt den Zusammenhang zwischen Selbstsorge und Fürsorge her: Unsere eigene Lebensgestaltung ist eingebettet in von Verantwortung geprägte Beziehungen – das beginnt in den Familien und wird in Alter und Pflegebedürftigkeit noch einmal deutlich erkennbar. Mitverantwortlichkeit nimmt die Angewiesenheit des Menschen ernst und sucht das Glück des Lebens nicht nur in sich selbst – sie bleibt auf Andere und den öffentlichen Raum ausgerichtet und ist insofern immer auch politisch.
3. Sorge- Fürsorge- Care: Zur politischen Bedeutung der Begriffe
Der neue Begriff der Caring Communities hat bereits jetzt Wichtiges geleistet: Er hat die vielfältigen Formen der Sorge sichtbar gemacht und gibt Anreiz, ihre Voraussetzungen und Bedeutungen zu reflektieren. Dazu gehören auch die kritischen Beobachtungen. Manche sehen in der Idee der „Sorgenden Gemeinschaften“ das Signal für einen weiteren Rückzug des Staates und die Ausbeutung ehrenamtlicher Ressourcen oder schlicht ein Sparprogramm. Angesichts der leerer werdenden öffentlichen Kassen ist der Einsatz von Ehrenamtlichen etwa in der Tafel-, Hospiz- und Flüchtlingsarbeit gesellschaftlich hoch willkommen. Gerade in der so genannten Flüchtlingskrise ist aber auch deutlich geworden, wie problematisch die Ausdünnung von Sozialverwaltungen und Polizeidienststellen oder auch die Privatisierung des ehemals öffentlichen Wohnraums tatsächlich sind. Ehrenamtlich Engagierte, die auf 450-Euro-Basis z.B. die Koordination von Flüchtlingsunterkünften übernahmen, weil Stadtverwaltungen personell überfordert waren, haben sich dazu entsprechend kritisch öffentlich geäußert. Damit ist aber für die Mehrheit deutlich geworden, dass bürgerschaftliches Engagement auf staatliche Strukturen, Ehrenamt auf Hauptamt und Sorgende Gemeinschaften auf Sorgestrukturen angewiesen sind. Der siebte Altenbericht nimmt genau diesen Gedanken auf und macht deutlich, dass Seniorennetzwerke und Sorgende Gemeinschaften für Menschen mit Alzheimererkrankungen oder in der häuslichen Pflege auf eine gut ausgebaute Infrastruktur angewiesen sind – auf Räume wie auf Hauptamtliche, auf Beratung wie auf Öffentlichkeitsarbeit. Denn wenn sich der Staat seiner Verantwortung entzieht, schreibt Thomas Klie, „werden klassische Frauenrollen“- und ich ergänze: klassische Großelternrollen – „reaktiviert[6]. Dann gibt es einen „Rückschritt“ in Richtung Deprofessionalisierung und Romantisierung gegenseitiger Solidarität.“ Und auch das Engagement der jungen Alten, die im Augenblick einen großen Teil des sozialen Ehrenamts leisten, erfährt oft zu wenig Unterstützung. Das gilt vor allem für diejenigen, die eine geringe Altersrente haben und es sich eigentlich nicht leisten können, nur für die Ehre zu arbeiten.
Wo immer ich in der letzten Zeit über den Sorgebegriff diskutiert habe, gab es Irritation schon wegen der Begrifflichkeit selbst. (Das erlebe ich übrigens auch im Blick auf meine kleine Firma „Seele und Sorge“- die für mich eigentlich nur ein Hinweis auf die notwendige Verbindung von Kirche und Diakonie ist.) Der Begriff Sorge ist dabei nichts anderes als eine Übersetzung von Care – das im englischen für alle Beziehungs- und Zuwendungsarbeit privater wie professioneller Natur steht. Die feministische Theorie hat den Begriff neu entdeckt und problematisiert damit die Dominanz einer ökonomisierten Sichtweise im Sozial- und Gesundheitswesen, die den Menschen zum bloßen Kunden und Empfänger von Dienstleistungen macht. Nun ist allerdings der Sorgebegriff in Deutschland traditionell mit einem patriarchalen und autoritären Fürsorgeverständnis gekoppelt, das bis Ende der 60er Jahre prägend war, als die Angehörigen- und Quartiersbewegung mit der Öffnung der stationären Einrichtungen begann. Heute ist es wesentlich, das Gegenüber von kontrollierender staatlicher Fürsorge und kostenloser Wohlfahrtsproduktion von Frauen und Ehrenamtlichen kritisch zu befragen. Klar ist: Care-Arbeit in Familien, Sorgenden Gemeinschaften wie im Bürgerschaftlichen Engagement kann nur nachhaltig sein, wenn die finanziellen Ressourcen gegeben sind – eine sichere Rente zum Beispiel und eine tragfähige Infrastruktur.
Es geht also um das produktive Zusammenwirken von Staat, marktorientierten Dienstleistern und Nachbarschaften in „geteilter Verantwortung“ im Sinne eines Wohlfahrtsmix. Gemeinschaft bedeutet aber mehr – sie sind geprägt durch Zugehörigkeit, gemeinsame Werte und Verantwortungsbeziehungen, wie wir sie aus Familien, Nachbarschaften, Freundeskreisen oder Wohngemeinschaften kennen – und nicht zuletzt aus Glaubensgemeinschaften mit ihrer spirituellen Qualität.
4. Träger, Orte, Kommunen: Entwicklung einer Verantwortungsgesellschaft
Die Mitverantwortung, die Hannah Arendt beschreibt, ist auf den öffentlichen Raum ausgerichtet. Quartier, Gemeinde und Kommune bilden den räumlichen Zusammenhang, in dem soziales Miteinander eingeübt und gelebt wird. Sorgende Gemeinschaften haben einen Ort in Kirchengemeinden oder Mehrgenerationenhäusern, in Familienzentren und Quartiersbüros. Solange wir einigermaßen mobil sind – körperlich, aber auch geistig und sozial – können wir wählen, wo wir uns besonders zugehörig fühlen, können alte Bindungen lösen und neue begründen. An die Stelle von Familien können Wahlfamilien treten, wir können umziehen und neue Nachbarschaften suchen, uns einer Kirchengemeinde anschließen oder sie verlassen. Wir können mobil leben, selbst in unserer Arbeit dauernd unterwegs wie moderne Nomaden – mit dem Risiko allerdings, dass unsere verlässliche Freundschaft oder Wahlverwandtschaft auf einige wenige Menschen schrumpft. Wenn Menschen aber hilfe- oder pflegebedürftig in einem Heim leben – und das gilt auch für ältere Wohnungslose – dann sind die Wahlmöglichkeiten geringer, auch was die Zugehörigkeit angeht. Bindungen aufzubauen und aufrecht zu erhalten, gehört aber trotzdem zentral zu unserem Menschensein. Wir brauchen das grundlegende Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, um uns in ihrem Schutz öffnen zu können. Martha Nussbaum hat das sehr deutlich gemacht; sie zeigt aber auch, welchen Paradigmenwechsel es bedeutet, Bewohnerinnen und Bewohner als Gegenüber in ihrer Würde und als Teil der Gemeinschaft ernst zu nehmen und ihre Freiheit, ihre Selbstbestimmung und ihre Erfahrungen zu respektieren. Projekte wie das Sharehouse in Berlin zeigen, wie die gemeinsame partnerschaftliche Sorge eine Gemeinschaft konstituieren kann. Damit das gelingt, braucht es eine grundlegende Offenheit der Gemeinschaft: das gilt für eine stationäre Wohngruppe genauso wie für eine Nachbarschaft oder eine Kirchengemeinde. Quartierscafés und auch Kooperationen mit Schulen und Jugendgruppen in Altenzentren zeigen die Richtung.
Wenn wir von „sorgenden Gemeinschaften“ reden, geht es immer auch um Orte und Träger der Verantwortung. Um Wohlfahrtsverbände und Kirchengemeinden, um Wohnungsbaugesellschaften, Sportvereine und Kommunen, um Krankenhäuser oder stationäre Einrichtungen. Ohne Frage ist es vor allem in stationären Einrichtungen nicht einfach, wirklich eine geteilte Verantwortung zwischen Organisation und Sorgender Gemeinschaft zu organisieren. Mir ist das am Beispiel der Grünen Damen im Krankenhaus oder der Ehrenamtlichen in Altenhilfeeinrichtungen deutlich geworden. Entscheidend ist, dass sie sich nicht nur als Helferinnen und Helfer empfinden, sondern sich an der Organisationsentwicklung und den notwendigen Entscheidungen beteiligen können. Erfolgreiche Alten- und Pflegezentren in den Niederlanden zeigen den Weg: die meisten Ehrenamtlichen engagieren sich, wenn Bewohner wie Ehrenamtliche über alle Ebenen im Trialog mit den Hauptamtlichen zusammenarbeiten – in Projekten, Stationsleitungen und auch in der Leitung der Einrichtung.
Und auch die Verantwortung der Kommunen muss im Blick sein. Denn wenn wir Kommunen nicht nur als Wirtschaftsstandorte, sondern als Ort des guten Lebens begreifen wollen – wenn es um soziales Wohnen, Inklusion und Engagementförderung geht – dann sind sie auf soziale Investitionen angewiesen. Der Streit um die kommunale Refinanzierung hat übrigens auch dafür gesorgt, dass der Siebte Altenbericht erst einige Monate später veröffentlicht wurde als erwartet.
In der Enzyklika „Laudato si“, die sich mit der Entwurzelung in den Städten beschäftigt, fordert Franziskus, die urbanen Bezugspunkte und die öffentlichen Orte zu pflegen, die Parks, die Plätze und die Flussufer. Und eine öffentliche Infrastruktur bereit zu stellen, damit Menschen sich frei in der Stadt bewegen und Anlaufstellen für ihre wichtigsten Bedarfe finden können. Mit einem solchen Verständnis gehen eine ganze Reihe von Herausforderungen einher. Dazu gehören
- die Überwindung einer Logik der Ökonomisierung aller Lebensbereiche,
- die Überwindung eines anachronistisch-romantischen Familialismus,
- die Praxis einer neuen Gastfreundschaft
- die Offenheit für genossenschaftliche Antworten.
Die Förderung „Sorgender Gemeinschaften“ muss also eingebettet sein in ein breit angelegtes Kommunalentwicklungsprogramm in Richtung Bürgerkommune[7]. Auch das Programm soziale Stadt unterstützt seit langem Innovationskulturen in vielen Quartieren: „das Ineinandergreifen von bundespolitischen Anreizstrukturen mit örtlichen Entwicklungspotenzialen wird zum wesentlichen Erfolgsindikator für eine Politik, die sich dem Leitbild „Sorgender Gesellschaft“ verschreibt“, schreibt Thomas Klie.
Sorgende Gemeinschaften brauchen Orte. Das gilt auch und erst Recht im Blick auf die, die tatsächlich an keinem Ort (mehr) zu Hause und oft nicht willkommen sind. Die traditionellen Herbergen zur Heimat, die Bahnhofsmissionen und landwirtschaftlichen Betriebe, aber auch eine stationäre Einrichtung wie der Schäferhof können solche Orte sein, an denen Gemeinschaften auf Zeit entstehen können, wenn Hauptamtliche, Ehrenamtliche und Betroffene gut zusammenarbeiten.
Dabei denke ich noch einmal an das Refugio in Berlin, in dem eine Sorgende Gemeinschaft entstanden ist. Der Begriff Refugio an den Namen der alten Pilgerherbergen auf dem spanischen Jakobsweg. Diese Pilgerherbergen sind eine christliche Tradition, die weit hinter die Pilgerreise nach Santiago de Compostella zurückgeht. Sie stammen aus der gleichen Wurzel wie die Hospize, in denen schon in der frühen Kirche Pilger wie Arme und Fremde in gleicher Weise Gastfreundschaft erfahren. Kein Fremder sollte draußen zur Nacht bleiben. Das hebräische Wort guer für Fremder bedeutet wörtlich: „Der gekommen ist, (mit Euch) zu leben.“
Einmal im Jahr, am Gründonnerstag, macht Papst Franziskus mit einer biblischen Geste deutlich, was sein Motto und Programm ist: Er steht für eine Kirche, die an die Ränder geht. Eine Kirche, die die Vergessenen wahrnimmt. Er zelebriert die Fußwaschung, das zentrale Symbol des Gründonnerstags, nicht mit den Kardinälen im Vatikan, sondern in Flüchtlingsheimen mit Menschen, die sich um Asyl bewerben. Und er geht auch zu Inhaftierten in Gefängnissen – und schließt dabei auch Musliminnen und Muslime ein.
Im Jahr der Barmherzigkeit hat Franziskus eine der „Heiligen Pforten“ im Hauptbahnhof von Rom geöffnet; es war die Tür zu einer Notunterkunft. Am Vatikan ließ er Duschen für Obdachlose aufstellen. Die Gastgeschenke, die er auf seinen Reisen erhält, werden im Internet für die Arbeit mit Wohnungslosen versteigert und seine erste Dienstreise führte gleich zu Beginn der Flüchtlingskrise nach Lampedusa. Nur auf diesem Hintergrund kann er es wagen, ohne Zynismus, aber voll Bitterkeit und Klage davon zu sprechen, dass die Globalisierungs- und auch Rationalisierungsverlierer zum „Müll“ unserer Zeit geworden sind. Und man sieht sie vor sich, die Menschen, sich aus den Mülltonnen ernähren. Papst Franziskus sorgt mit seiner Gegenwart bewusst dafür, dass das Licht der Fernsehteams auf diese Menschen fällt. Und er tut es in dieser Woche wieder mit der Pilgerreise für Obdachlose, an denen auch Menschen aus unseren Einrichtungen, Diensten und Kirchengemeinden teilnehmen. Sonst sind es ja immer nur die aktuelle Notlagen, die unseren Blick auf die Stigmatisierten richten. Ein Obdachloser erfriert im Winter, weil die Notunterkünfte überfüllt sind. Die Tafeln haben immer mehr „Kunden“ zu versorgen. Entscheidend ist natürlich, dass diese Orte der Verantwortlichkeit auch sichtbar und damit politisch werden. Denn der gesellschaftliche Druck, der Standortwettbewerb, vor allem der Ökonomisierungsdruck läuft ganz sicher in gegenläufiger Richtung zu Papst Franziskus – das Andere und Fremde soll unsichtbar gemacht werden, es sei denn, es wäre exotisch. Der Kampf um die Räumung der Domplatte in Köln wurde jüngst zum Symbol dafür. Deshalb sollte nicht nur der Papst, auch wir selbst sollten andere Signale setzen: vielleicht mit einem Schal gegen die Kälte im Winter, ganz ähnlich wie der Flüchtlingsschal. Oder so wie der Kölner, der kürzlich die Wohnbox erfand und verteilte und damit viel mediale Aufmerksamkeit gewann – allerdings auch Probleme mit der Bürokratie.
5. „Seht der Mensch“: Netzwerke der Aufmerksamkeit
Die Amerikanerin Veronika Scott hat einen Mantelschlafsack erfunden, der Obdachlosen im Winter Wärme und auch ein Stück Würde gibt. Der Schlafsack ist wasserdicht und lässt sich im Sommer zu einer Umhängetasche zusammenfalten. Die 100 Dollar, die ein Mantel kostet, werden durch Spenden finanziert. 15.000 Mäntel konnten inzwischen hergestellt werden. Und die Produktion gibt wohnungslosen Frauen Jobs, damit sie sich eine Wohnung mieten und ihre Kinder wieder zur Schule schicken können. Veronika Scott weiß, was das bedeutet, sie lebte selbst eine Zeit lang mit ihrer Mutter auf der Straße. Sie kann sich erinnern, wie es sich anfühlt, kein Zuhause zu haben, und sie weiß auch: das kann schnell gehen, wenn man seinen Job verliert. Zumal in einem Land, in dem das Sozialsystem nicht so ausgebaut ist wie bei uns. Die alte Fabrik, in der die Mantelschlafsäcke produziert werden, ist inzwischen selbst eine sorgende Gemeinschaft – genauso wie die vielen Nähwerkstätten und Second-Handshops. Es sind Orte der Teilhabe.
Dass das auch und gerade das Leben der Sorgenden ändert, dafür gibt es gute Beispiele im Neuen Testament. Dort sagt Jesus, der Wanderprediger, er habe eigentlich keinen Platz in der Welt: „Die Füchse haben Gruben und die Vögel haben Nester, aber der Menschensohn hat nicht, wo er sein Haupt hinlege.“ Kein Zimmer für sich allein, nicht mal ein Dach über dem Kopf. Wie ein Obdachloser war er auf den öffentlichen Raum angewiesen, um zu ruhen, zu essen, zu sich selbst zu finden. Und darauf angewiesen, dass andere ihm Gastfreundschaft anboten und für ihn sorgten. So wie Maria und Martha. Oder wie Zachäus, der Zolleintreiber. Tatsächlich gab es eine solche Sorgende Gemeinschaft um Jesus, die für seinen Lebensunterhalt sorgte – und natürlich waren schon damals viele davon Frauen. Immerhin: die Bibel findet das einer Erwähnung wert. Und sie macht deutlich, wie diese Sorgegemeinschaften zu Glaubensgemeinschaften werden. Und umgekehrt: durch die Sorge bezeugen Menschen ihren Glauben. Bis hin zu Josef von Arimathia, der am Ende das Grab für Jesus kauft bzw. ihm sein eigenes Grab überlässt.
Eine Sorgende Gemeinschaft bis zum Tod ist auch die Bahnhofsmission in Berlin. Dieter Puhl nutzt dafür nicht zuletzt das Netz; da fragt er, ob jemand Lust hat für den Kältebus etwas zu kochen und zu backen. Und regelmäßig postet er, wenn einer, der auf der Straße gelebt hat, gestorben ist. Und erinnert an sein Leben und seine Persönlichkeit. Aber nicht nur im Netz, sondern auch in den Kommunen entstehen auf diese Weise Netzwerke der Sorge entstehen – von den Tafeln bis zu den Bistros, vom Kältebus über die Medizin und den Obdachlosenchor bis zu den stationären Einrichtungen und der Sorge um eine würdige Bestattung und Erinnerung. Alles Werke der Barmherzigkeit – von Speisen und Getränken bis zu aufsuchender Hilfe und menschenwürdiger Bestattung. Wenn sie neu verknüpft werden, können sie auch politisch erkennbar werden. Denn am Ende geht es nicht nur um die Soziale Stadt, sondern vor allem um das Einstehen für Menschenwürde.
[1] Kellehear, Allan (2005): Compassionate Cities: Public Health an End of Life Care London: Routledge.