Menschsein lebt von In-Carnation

1. Träume über den Wolken

„Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein…“, sang Reinhard Mey. Trotz Massentourismus im Flugverkehr sorgt der Traum vom Fliegen noch immer für Stimmung auf vielen Partys. Über den Wolken spazieren gehen kann man jetzt in Karlsruhe im Zentrum für Kultur und Medien. In der Ausstellung „Globale“ ist eine Wolke in einer riesigen Halle eingefangen. Wer auf die Emporen steigt, kann durch die Wolke hindurch in den lichten Raum darüber gelangen. Ein kleines Gipfelerlebnis, das allerdings von Schwefelgeruch begleitet ist. Denn die Wolke wird künstlich aufgeblasen. Das Bild von Caspar David Friedrich, das am Eingang der Halle zu sehen ist, erinnert an die Faszination der Wolken an der Küste – der Text daneben aber macht deutlich, dass wir längst in einer Natur leben, die von Menschen gemacht ist. Wir sind es, die die Welt erschaffen – die Ökosphäre und die Infosphäre, in der wir leben. In anderen Ausstellungsräumen kann man es körperlich erleben: Datenflüsse umgeben den Besucher wie anderswo Ströme von Wasser oder Windböen.

Angesichts des Bevölkerungswachstums, der Abholzung des Regenwalds, des Anstiegs der Treibhausgase wird die Menschheit auf Jahrtausende hin einen maßgeblichen ökologischen Faktor darstellen. Geoengeneering und Optimierung des Klimas beschäftigen Wissenschaftler genauso wie auf der medizinischen Ebene Biotechnologie und Gentherapie. Die naturwissenschaftlichen Entdeckungen und technologischen Entwicklungen, mit denen der Mensch Natur und Umwelt bis hin zum eigenen Körper verändert, haben sich in der Moderne so rasant beschleunigt, dass eine ganze Gruppe von Wissenschaftlern inzwischen vom „Anthropozän“ spricht, vom Erd-Zeitalter des Menschen. Unsere Umwelt werde zur „Unswelt“. Diese Antropoisierung der Welt, die Aneignung der Welt durch den Menschen, biete die großartige Chance, die Erde zu „humanisieren“, meint Christoph Schwägerl in seinem Buch „Menschenzeit“.[1]

Wer die Gefahren des Umgangs mit der sauberen Atomenergie im Kopf hat, wer die Experimente mit der Umleitung von Flüssen kennt, die aus Wüsten blühende Landschaften machen sollen, wird sich fragen, ob solche Vorstellungen nicht das Offensichtliche ausblenden, dass es Effekte des medizinischen und technischen Fortschritts gibt, die sich im Nachhinein als Rückschritt entpuppen können. Die These vom Zeitalter des „Anthropozäns“ unterstelle, dass der Mensch nicht nur die Erde verändere, sondern dass er auch verstanden habe, wie er sie verändere und nach welchen Gesetzmäßigkeiten sie funktioniere, schreibt der Hannoveraner Philosoph Jürgen Manemann[2]. Das aber sei keinesfalls der Fall. Das Problem sei vielmehr, „dass wir, wenn wir die Erde als Apfel betrachten, mit unserem Wissen gerade erst die Schale durchdrungen haben, mit unserem Verhalten aber bereits den Kern verändern“, sagt Manemann. [3]Deshalb gehe es heute in den Krisen von Technik und Wachstum gerade darum, bei aller Begeisterung für Forschung und Veränderung eben auch unser Nichtwissen zu reflektieren.

 

3. Die Antiquiertheit des Menschen

Das liegt insbesondere bei weitreichenden politischen Zukunftsentscheidungen auf der Hand. Hier müssen auch Argumente einfließen, die jenseits der Frage nach der „Machbarkeit“ liegen – Fragen nach dem Nutzen einer neuen Technologie, nach ihrer sozialen Wünschbarkeit wie nach möglichen Alternativen. Dass wir nicht alles machen dürfen, was wir können, ist für viele Bürgerinnen und Bürger inzwischen eine selbstverständliche Vorstellung geworden. Das Problem dabei ist, dass uns oft die sinnliche Anschauung über die Konsequenzen unserer Entscheidungen fehlt – dass unsere Vorstellungskraft mit den technischen Möglichkeiten nicht Schritt halten kann. Wir sehen, wie der Wasserspiegel steigt und ganze Inselgruppen im Pazifik für immer von der Landkarte tilgen wird, wir erleben, wie die ersten Klimaflüchtlinge sich in andere Kontinente aufmachen und tun uns trotzdem schwer, diese Entwicklung als Folge unseres Lebensstils zu begreifen und globale politische Konsequenzen daraus zu ziehen. Wir können uns ausrechnen, welche Konsequenzen der Klimawandel noch zu Lebzeiten der nächsten Generation haben wird, und tun uns trotzdem schwer, unsere Vorstellungen von Fortschritt und Wachstum, Ressourcenausbeutung und globaler Verantwortung zu überdenken. Günther Anders hat deshalb von der „Antiquiertheit des Menschen“ und der Unfähigkeit zur Angst gesprochen – parallel zur Unfähigkeit zu trauern, die Alexander und Margarete Mitscherlichs in der Nachkriegszeit in Deutschland diagnostizierten. In beiden Fällen ging und geht es um den Aufruf, uns selbst und unser Leben in Frage stellen zu lassen und von falschen Wegen umzukehren. Mit der Schrift „Wie ein Riss in einer hohen Mauer“ hat die Evangelische Kirche in Deutschland im Sommer 2009 beschrieben, dass genau diese Haltung es ist, die Krisen – wie damals die Finanz- und Wirtschaftskrise – erst auslöst. Wer den Riss in der Mauer, die ersten Anzeichen der drohenden Katastrophe übersieht, versäumt es, rechtzeitig umzusteuern.

Der Prophet Jesaja, auf den der Gedanke vom Riss in der Mauer zurück geht[4], sieht den Grund für die Fehleinschätzung darin, dass Menschen sich von Gottes Weg und Gebot entfernt haben und gerade deshalb nicht „menschengemäß“ leben. Wie groß die Differenz zwischen unserem Denken, Forschen und Entwickeln auf der einen Seite und unserer menschlichen Lebenswirklichkeit auf der anderen ist, erleben wir heute vielleicht am deutlichsten in der zunehmenden Beschleunigung von Arbeitsprozessen, aber auch von Entscheidungen. Viele sind kaum noch in der Lage, ihre dienstlichen Mails in angemessener Zeit zu beantworten, während global agierende Unternehmen gleichzeitig fordern, dass die Antwort möglichst „zeitnah“ rund um die Uhr erfolgen soll. Und die Geschwindigkeit, mit der Computer an den Finanzmärkten in Millisekunden über die besten Anlagemöglichkeiten entscheiden, ist für unsere Gehirne nicht mehr nachvollziehbar. Die Geschwindigkeit, in der heute im Netz ein „Shitstorm“ entsteht und auch wieder abebbt und die Skandalisierung eines Ereignisses in den Medien sind umgekehrt proportional zu der Fähigkeit, Probleme, deren Symptome wir wahrnehmen und beklagen, politisch zu lösen – vor allem dann, wenn die Fragen und Lösungen über eine Legislaturperiode oder gar über eine Generation hinaus gehen. Nachhaltigkeit wird zwar überall gefordert und thematisiert, tatsächlich aber fehlt oft der Wille, die notwendigen und sicherlich streitigen demokratischen Prozesse einzuleiten.

 

4. Beschleunigung, Optimierung und Resonanzverlust

Der Soziologe Hartmut Rosa sieht in diesen Beschleunigungsprozessen die Ursache für eine wachsende Entfremdung und damit einen „Resonanzverlust“,[5] was Politik, aber auch Arbeit und Beziehungen angeht. Wer die Prozesse, die mit dem eigenen Leben verbunden sind, nicht mehr wirklich verfolgen und nachvollziehen kann, wer keinen Ansatz zur Teilhabe und Beteiligung mehr findet, findet sich in Einsamkeit und Ohnmacht wieder. Und tatsächlich erleben wir ja, welche sozialen Auswirkungen die Erwartungen von Mobilität und Flexibilität in der Arbeitswelt auf unsere Beziehungen haben: die Sehnsucht nach stabilen Familienverhältnissen wächst genauso wie die nach „Heimat“ – in einer Situation, in der es immer schwieriger wird, als Familien zusammen zu leben. Auch die viel gescholtene Politikverdrossenheit hat wohl mit den Lebensbedingungen der beschleunigten Moderne zu tun. Auch der Philosoph Hartmut Böhme macht deutlich, dass die Frage nach „Entschleunigung“ eine Schlüsselfrage unserer Zeit geworden ist[6]. Er erinnert daran, dass sich viele leiblich – seelische Prozesse nicht beschleunigen lassen: Das gilt für Schwangerschaften und die Entwicklung von Kindern genauso wie für unser Schlafbedürfnis oder für Heilungsprozesse. Die viel gepriesene Zeitökonomie und die gesetzten Rhythmen unseres Lebens stehen in Spannung zueinander – auch deshalb hat die Ökonomisierung aller Lebensbereiche über Arbeit und Wirtschaft bis hin zu Bildung und Gesundheitswesen ihre Grenzen. Ganz wie Natur und Umwelt unterliegt ist auch unsere eigene leib-seelische Wirklichkeit nur begrenzt planbar; ja, wer das eigene Leben dem Diktat von Zielsetzungen unterwirft, versäumt es am Ende, so wie es das Gleichnis vom reichen Kornbauern erzählt.

„Die heutigen Versuche zur biologischen Optimierung des Menschen, aber auch die Programme zur Fitness-Steigerung gehören zu dem Megatrend, ein posthumanes Zeitalter zu kreieren. Denn der Organismus scheint zu träge, zu langsam, zu widerständig und auch zu grob für die hypertechnischen Welten der Zukunft“, schreibt Hartmut Böhme. Längst „rüsten wir nach“ – mit Medikamenten, die das Gehirn je nach Bedarf beruhigen oder antreiben, aber auch mit den technischen Möglichkeiten des Computerzeitalters, mit denen wir inzwischen auch körperliche Handicaps ausgleichen können. Und wer wollte schon auf den Sprachcomputer für Sehbehinderte oder auf Prothesen für Sportler mit Körperbehinderungen, wer auf künstliche Hüftgelenke oder eine Herzklappe verzichten? Medizin und Technik werden als Erweiterung unserer Möglichkeiten wahrgenommen und auch das Handy in unserer Tasche oder das Navi im Auto sind ausgelagerte Teile unseres Gedächtnisses geworden. Das alles kann aber nicht darüber hinweg täuschen, dass wir am Ende mit der Endlichkeit unserer Lebenszeit und der Begrenztheit unserer Ressourcen werden leben müssen. Oder sollen wir uns wirklich in eine postbiologische Zukunft wünschen, die das Wesen unserer Sterblichkeit verändert, so wie es der Computerspezialist Ray Kurzweil imaginiert? Er meint, im 21. Jahrhundert werde eine Form der Intelligenz entstehen, die vom Leib des Menschen unabhängig sei; so könne der Inhalt eines menschlichen Gehirns ohne chirurgischen Eingriff gescannt und auf einen PC kopiert werden, der hinfort als „Maschinenmensch“ weiter agiere. [7] In Zukunft also könnten wir unseren Körper wechseln wie ein Kleidungsstück.

Menschen haben aber nicht nur einen Körper, sie sind ihr Leib. Der Körperleib des Menschen ist von seiner seelischen Entwicklung eben nicht zu trennen. In unserer Leiblichkeit sind wir grundsätzlich mit der Erfahrung von Verletzlichkeit und Endlichkeit verbunden – im Blick auf uns selbst und auch im Blick auf andere. Die Erfahrung der eigenen Verletzlichkeit lässt uns empathisch auf die Leiden anderer reagieren und ermöglicht auf diese Weise Beziehung und Solidarität. Auch die Erfahrungen der Liebe und des Miteinanders sind in unser Körpergedächtnis eingeschrieben. Sich ganz auf das Menschsein einzulassen, ganz und gar menschlich zu handeln, hat deshalb immer auch mit Leiblichkeit zu tun. Nirgendwo wird das deutlicher als in der Menschwerdung Gottes, der Incarnation. Der „Kampf gegen den verwundbaren Körperleib mündet in die Entnaturalisierung des Menschen und führt schließlich zur Verhärtung, zur Abschottung gegen Leiden und Mitleiden“, schreibt Jürgen Manemann.[8] Denn er ziele auf die Aufhebung der Kontingenz in Zeugung und Geburt, die die conditio sine qua non jeder Individualität sei.

 

5. Geschöpflichkeit, Achtsamkeit und Respekt

Die aktuellen ethischen Auseinandersetzung um Sterbehilfe und Fruchtbarkeitsmedizin bzw. Präimplantationsdiagnostik spiegeln den alten Wunsch, Herr des eigene Lebens zu sein und „schicksalhafte“ Probleme zu „beseitigen“ und lassen zugleich ahnen, was der Preis sein könnte: Verluste an Vielfalt, Beziehungsfähigkeit und achtsamem Respekt vor dem Leben. „Wie wird es um das Kind stehen, das mit einer „Behinderung“ geboren ist?“ fragt John Rifkin. „Künftige Generationen könnten viel weniger tolerant gegenüber Menschen werden, die nicht technisch reproduziert sind und von den genetischen Standards und Normen des bioindustriellen Marktes mit seinen „optimalen Praktiken“ abweichen. Wenn dies geschähe, könnten wir das kostbarste Geschenk überhaupt verlieren: die Fähigkeit des Menschen zur Empathie“[9].

Der Respekt vor dem Anderssein der Anderen und die Achtung vor sich selbst in hängen aber eng zusammen. Es geht nicht zuletzt um die Überzeugung, dass jeder Mensch in seinem Sosein Gottes Ebenbild ist und damit auch die Möglichkeit hat, mit anderen gemeinsam Zukunft zu gestalten. Diese Haltung gibt Gelassenheit auch in Krisen, aber auch die Kraft der Hoffnung, aus der sich Ideen für neue Wege entwickeln. Zivilgesellschaftliche Bewegungen für Inklusion, Gastfreundschaft oder eine nachhaltige, ökologische Kultur zeigen uns die Richtung. Das Neue entsteht, wo Menschen tatsächlich den Menschen in den Mittelpunkt der Entwicklung rücken – nicht den „neuen Menschen“, der sich die Welt formt, sondern den von Gott geliebten Menschen, der die Schöpfung als Teil des Ganzen achtsam hütet und bewahrt – und auch die eigene Geschöpflichkeit ernst nimmt. Damit das gelingt, braucht es tatsächlich einen neuen Lebensstil, zu dem auch Zeiten der Entschleunigung gehören: zum „Durchatmen“ und zum Austausch mit Freunden, zum Hören auf die innere Stimme, zur Erinnerung an das, was uns trägt. Die zehn Gebote, auf dem Weg durch die Wüste in die Zukunft zum ersten Mal aufgeschrieben, sind vielleicht aktueller als je : Wir sollen den Alltag unterbrechen, Abstand nehmen, den Sabbat halten, uns von den oberflächlichen (Wunsch)Bildern lösen, immer wieder prüfen, worauf wir wirklich vertrauen, und letztlich, bei allem Bedenken und Planen der eigenen Wege, auf Gottes Weisungen hören.

Und dennoch werden Gebote von vielen als Einengungen empfunden, Beziehungen aus Fesselungen, Entscheidungen als Festlegungen, die unfrei machen.[10] Tatsächlich sind unsere Optionen ins Unendliche gewachsen, mit ihnen aber auch die Entscheidungszwänge und die Gefahr, sich in den eigenen Entscheidungen selbst zu verfehlen. In der Fülle von Daten und Texten in der Infosphäre, die uns umgibt, geht vielen das Gerüst verloren, das nötig ist, um Wissen von Meinung zu unterscheiden und Erfahrungen in ihre Kontexte einzuordnen. So wird alles gleich-gültig. Auf diesem Hintergrund wächst nun die Frage nach Werten, nach Kultur und Religion. Aber Werte sind nicht im Netz abrufbar; sie sind nicht beliebig wählbar, sondern sie wachsen in Erfahrungen und werden an Vorbildern gelernt. Es braucht darum Zeit, die eigene Orientierung zu entwickeln, zu begreifen und miteinander zu teilen – und das geschieht noch immer überwiegend „face to face“, von Angesicht zu Angesicht, wo Menschen einander in die Augen sehen und sich aufeinander einlassen. Unter diesem Blick des Anderen werden wir erst zum Ich, da entsteht Individualität und mit ihr Verantwortung als die Kraft, Entscheidungen auch für das eigene Leben zu treffen. Diese Voraussetzung unseres Menschseins, die schon mit der biblischen Schöpfungsgeschichte erzählt wird, ist nur um den Preis der Selbstverfehlung zu überholen. Der „neue Mensch“, wie ihn die Bibel sieht, ist in Jesus Christus erkennbar: ganz hörend auf die Stimme des Vaters, der – auch wenn wir selbst nun Wolken in die Welt setzen, Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn – verletzlich und dabei voll heilender Liebe. Zu ihm und mit ihm sind wir unterwegs zu einer humanen Welt.

 

[1] C. Schwägerl: Menschenzeit. Zerstören oder Gestalten? Wie wir heute die Welt von morgen erschaffen, München 2012
[2] J. Manemann, Kritik des Anthropozäns, Plädyer für eine neue Humanökologie, Bielefeld 2014
[3] A.a.O. S. 36
[4] Jesaja 30, 8 – 15
[5] Hartmut Rosa, Beschleunigung und Entfremdung, 2005
[6] Hartmut Böhme; Wollen wir in einem posthumanen Zeitalter leben? Geschwindigkeit und Verlangsamung in unserer Kultur, Berlin 2014
[7] Ray Kurzweil, Homo s@piens. Leben im 21. Jahrhundert- Was bleibt vom Menschen? Köln 2001
[8] A.a.O S. 104
[9] J. Rifikin, Der embrynoale Marktplatz. Was ist der Mensch: Die Ethik der Genetik, in SZ, 14./15./16. 4.2001
[10] Vgl. F. Konersmann, Die Unruhe der Welt, 2015