Glaube – Kirche – Sexualität

aej information 2/2016

„Kann denn Liebe Sünde sein?“ – Jahrhundertelang kam jeder und jedem das siebte Gebot in den Sinn, wenn das Wort „Sünde“ fiel: „Du sollst nicht ehebrechen“. Sex und Sünde waren eng verflochten; ja – es gab die Tendenz, sogar die Sexualität als solche als Teil der sündigen Natur des Menschen zu begreifen. Dabei hat vor allem Augustins Erbsündenlehre eine Rolle gespielt. Seiner Überzeugung nach hat Adams Sündenfall die menschliche Verfassung insgesamt geschwächt; die sexuelle Begierde behindere die Suche nach einem guten Leben. Seine eigene, späte Entscheidung zu einem Leben in Keuschheit kann sich auch auf Paulus berufen, der angesichts des in Kürze erwarteten Weltendes alles zurückstellte, was ihn von seiner Mission ablenken könnte. Auch Liebe und Ehe. Die Abwertung des Leibes, die in der Sexualethik des Augustinus zum Ausdruck kommt, wurzelte aber eher in Platons Denken, der den Körper als Gefängnis der Seele sah; mit Leben und Haltung Jesu, mit der biblischen Vorstellung des beseelten Leibes hatte sie wenig zu tun.

Es hat lange gebraucht, die Schattenseiten dieser Tradition aufzuarbeiten. In den letzten Jahrzehnten hat die feministische Theologie wesentlich dazu beigetragen. Denn die Verachtung des Leibes war in besonderer Weise mit Frauenverachtung gekoppelt: in der patriarchalen Auslegung des ersten Schöpfungsberichts galt Eva, die Frau, als gefährliche Verführerin. Erst die reine, „unschuldige“ Mutterschaft der Maria und der Weg in die Ehe eröffnete Frauen ein geachtetes Leben. Nicht einmal die Berichte der Evangelien über den offenen Umgang Jesu mit Frauen – mit kranken, unberührbaren, verachteten Frauen und eben auch mit der Ehebrecherin – hatten daran etwas ändern können. Die Bilder, die diese Szenen nachzeichnen, scheinen das Bild der Verführerin eher zu festigen. Auf dieser Linie ist klar: nur Keuschheit und Gehorsam können die Gefahr bannen – Gehorsam auch gegenüber dem Mann, der „des Weibes Haupt ist“, wie wir bei Paulus lesen. Es ist noch keine 50 Jahre her, dass verheiratete Frauen ohne Zustimmung ihres Mannes nichts berufstätig sein konnten – und dass Theologinnen in der evangelischen Kirche nicht die gleichen Rechte bekamen wie ihre Kollegen. Bis dahin galt in Schule und Kirche die Erwartung, dass Pfarrerinnen oder Lehrerinnen zölibatär leben sollten wie Priester oder Nonnen. Das katholische Kirchenrecht kennt ja bis heute die Höherwertigkeit des Zölibats vor der Ehe, das Verbot vorehelicher Sexualität und der Ablehnung einer sexuellen Praxis, die nicht auf Nachkommen, sondern nur auf Lustgewinn zielt. Wenn Sex und Sünde gekoppelt sind, scheint es unmöglich, Gottesliebe und Partnerliebe, geistliche und körperlich-sinnliche Liebe zu vereinbaren. Der uralte Kampf gegen die Kulte mit ihrer Tempelprostitution, der in der hebräischen Bibel wie der neutestamentlichen Antike eine Rolle spielt, lauert im Hintergrund. Der zornige Jahwe gegen die tanzende Astarte, die junge Gemeinde gegen den Tempel der Diana in Ephesus.

Heute ist uns bewusst, wie Leibfeindlichkeit, Sexualangst und Frauenverachtung zusammen hängen, welche Bedeutung das für die Geschlechterhierarchie hat und wie dafür biblische Texte in Anspruch genommen und zum Teil auch missbraucht wurden. Das ermöglicht zu verstehen, was Sünde wirklich ist: Menschenverachtung, Ungerechtigkeit und Sexismus sind selbst Zeichen der Gottesferne. Wir haben endlich begriffen – und es war ein langer Weg dahin – dass alle Menschen, Frauen wie Männer, ganz unabhängig von Sex und Gender, Gottes Ebenbild sind. Der Zuspruch der Gottesebenbildlichkeit wie das Angewiesensein auf ein Gegenüber gehören zum Kern der Schöpfungsberichte. Für Dietrich Bonhoeffer liegt die Gottesebenbildlichkeit des Menschen gerade darin, dass er wie sein Schöpfer frei und zugleich auf den anderen bezogen ist. Nicht zuletzt im Kontext des Reformationsjubiläums wurde neu bewusst, mit welcher Klarheit die Reformatoren die Leibfeindlichkeit hinter sich gelassen haben. Isolde Karle[1] beschreibt die „Weltoffenheit und demonstrative Sinnlichkeit des neuen Glaubens“, die neue Wertschätzung von Liebe und Ehe gegenüber dem Zölibat und in der Folge die Auflösung der Klöster und die wachsende Gleichwertigkeit der Geschlechter.

„Männlich und weiblich schuf er sie“, lesen wir im zweiten Schöpfungsbericht. Von Anfang an vielfältig, spannungsvoll-beziehungsreich. Wer daraus vor allem Geschlechterpolarität und hierarchische Ordnung herausliest, verkürzt die Botschaft – und wird auch Homosexualität oder Transsexualität als Abweichung von dieser „Norm“ betrachten. Die innerkirchlichen Kämpfe um die Trauung homosexuell Liebender zeigen, dass das Ringen um die richtige Auslegung, um gleichberechtigte Vielfalt und einen angstfreien Umgang mit Sexualität noch nicht vorüber ist. Der Verweis theologisch konservativer Gruppen auf die biblische Ablehnung der Homosexualität übersieht den zeitgeschichtlichen Kontext. Sowenig wir heute alles gut heißen und leben, was in der Bibel beschrieben wird – von der Polygamie bis zum Umgang mit Sklavinnen – so wenig müssen wir unser Nachdenken über Homosexualität von den wenigen (Lev. 18, 22 und 20, 12) einschlägigen Stellen bestimmen lassen. In der Antike galt homosexuelles Verhalten – als Mann bei einem anderen „wie bei einer Frau zu liegen“ – als entehrend, während weibliche (Homo)sexualität über lange Zeit gar nicht als solche wahrgenommen wurde. Erst mit der Erforschung genetischer und hormoneller Faktoren wurde auch die tatsächliche Vielfalt sexueller Orientierung entdeckt, die sich an allen Schablonen und sozialen Zwängen reibt.

Hinter dem kirchlichen Streit um die Trauung gleichgeschlechtlich Liebender wird das gesellschaftspolitische Ringen um die vollständige Gleichberechtigung von Lebenspartnerschaften mit Ehen – auch im Blick auf die Adoption von Kindern – sichtbar. Und die Debatte geht weiter und dreht sich auch um die Frage, ob ein Kind – z.B. nach einer Samenspende für eine lesbische Partnerschaft – auch drei Eltern haben könnte. Nimmt man darüber hinaus Kinderehen von Migrantinnen und Migranten oder die Polygamie in den Blick, die mit den Geflüchteten in unserer Gesellschaft zum Thema geworden sind, wird die Verunsicherung verständlich, die viele bewegt. Schließlich hat auch die Wahrnehmung und kritische Aufarbeitung von Erfahrungen sexualisierter Gewalt und sexuellen Missbrauchs selbst in Kirche und Diakonie die Frage nach den Grenzen der Liberalisierung und Pluralisierung zum Thema gemacht. Hat das Evangelium jenseits erodierender Traditionen und überholter Ordnungen hilfreiche Kriterien für den Umgang mit Sexualität? Sie müssten die selbstbestimmte Entwicklung der eigenen Identität, aber auch Beziehungsfähigkeit und Verantwortlichkeit im Blick haben – Autonomie und Angewiesenheit also, wie es im Titel der EKD-Orientierungshilfe zur Familienpolitik heißt.[2]

Peter Dabrock, Renate Augstein und andere haben mit der Arbeit an ihrem Buch „Unverschämt-schön“ an solchen Kriterien für eine lebensnahe und lebensdienliche evangelische Sozialethik gearbeitet.[3] Die insgesamt fünf HerausgeberInnen aus Pädagogik, Soziologie, Theologie und Rechtswissenschaften, aus Kirche und Politik waren der Kern einer Ad-hoc-Kommission, die die EKD eingesetzt hatte, um eine aktuelle Orientierungshilfe zur Sexualethik zu erarbeiten. Die letzte entstand 1971 in der Zeit der großen gesellschaftlichen und theologischen Umbrüche – sie bindet Sexualität an die Ehe und zeigt sich, noch gab es den Par. 175 StGB, defensiv in Sachen Homosexualität. Nicht zuletzt auf dem Hintergrund der erregten Debatte um den „Familientext“ der EKD kam es jedoch nicht zum Abschluss der gemeinsamen Arbeit – erst Recht nicht zur Veröffentlichung eines in den Leitungsgremien abgestimmten Textes. Lebensdienlichkeit, Lebenszufriedenheit und der Schutz der Beteiligten gerade in den verletzlichen Momenten einer intimen Beziehung gehören für das Autorenteam um Peter Dabrock und Stefanie Schardien zu den zentralen ethischen Kriterien einer Partnerschaft – gleich, ob es sich um eine kurzfristige Beziehung oder eine Ehe oder Lebenspartnerschaft geht. Fehlt das freie und selbstbestimmte Einverständnis wie im Fall des sexuellen Missbrauchs oder der Zwangsprostitution, wird Sexualität eben nicht als lebensdienlich, sondern als seelisch zerstörerisch erlebt. Umgekehrt wird der Respekt vor der Einzigartigkeit und Andersheit des Partners oder der Partnerin dem oder der anderen gleiche Verwirklichungschancen einräumen – im sexuellen Glück wie in der Persönlichkeitsentwicklung. Die genannten Kriterien gelten schließlich auch für diejenigen, deren sexuelle Rechte lange Zeit strittig waren: zum Beispiel für Menschen mit geistigen Behinderungen oder für psychisch kranke oder ältere Menschen, die in Heimen leben.

„Sexualität ist eine der schönsten und intensivsten Erfahrungen menschlichen Lebens, vor allem, wenn sie Ausdruck von Liebe ist“, heißt es in „Unverschämt-schön“. „Nur was einen so leidenschaftlich ergreifen kann, was eine solche Kraft entfesseln kann, kann auch die Verzweiflungen und Zerstörungen bewirken, die viele Menschen aus ihrem Liebes- und Geschlechtsleben kennen.“ Gleichwohl gilt: „Wenn in der Sexualität ein Stück Himmel erfahrbar ist, weil wir hier Erfahrungen des Angenommen-Seins und des Eins-seins leiblich erleben, dann kann man, selbst wenn Leidenschaft potenziell Leiden schaffen kann, als erstes sagen: Gott sei Dank dafür“[4]. Hier ist, wie übrigens schon bei Luther, die ganzheitliche, die spirituelle Seite sexueller Erfahrung angesprochen, die heute z.B. im tantrischen Yoga eine Rolle spielt. Sexualität wie Religion sprechen Menschen in der „Tiefe“ an, sie sind Lebensenergie und schenken Kraft und dürfen deshalb weder instrumentalisiert noch funktionalisiert werden. Manipulation, Missbrauch, Gewalterfahrungen zerstören das Vertrauen ins Leben.

Kinder und Jugendliche kennen beides – die spielerische Entdeckung von Sexualität und Erotik als Lebenskraft, das Glück, aber auch das Zerbrechen partnerschaftlicher Begegnungen und die Scham, als „anders“ gebrandmarkt und gemobbt zu werden. Beides in die eigene Persönlichkeit zu integrieren, kann eine schwierige Herausforderung sein. Zumeist ist Kirche nicht die erste Ansprechpartnerin, wenn es um sexuelle Selbstbestimmung und Sprachkompetenz geht – dazu hat die lange Zeit eher rigide Sexualmoral beigetragen. Erst die offene Jugend- und Freizeitarbeit der letzten Jahrzehnte hat eine Basis geschaffen, die es ermöglicht, die unterschiedlichsten Erfahrungen zur Sprache zu bringen. In der Mädchenarbeit ist die Kirche auch als Schutzraum neu in den Blick gekommen. Für die oft verwirrende Suche nach der eigenen sexuellen Identität – auch in der Partnerorientierung zwischen Hetero-, Homo-oder Transsexualität – sind solche geschützten Räume wesentlich. In einer vertrauensvollen Umgebung können auch Verletzungen und Konflikte angesprochen werden.

Die lebensbejahende Sinnlichkeit Jesu, der Kinder segnet, Unberührbare berührt, und sich mit „Sünder und Sünderinnen“ an den Tisch setzt, weist in eine ganz andere Richtung als die Körperfeindlichkeit und Frauenverachtung, die den christlichen Glauben über lange Zeit prägte. Dass Gott Mensch wurde, das Wort Fleisch wurde, wie es im Johannesevangelium heißt, muss spürbar werden. Wenn Religion nicht nur Kopfsache ist, sondern mit ganz elementaren Lebensvollzügen zu tun hat, dann muss es für die Kirche selbstverständlich sein, auch Sexualität zu thematisieren – nicht nur in Seelsorge und Beratung, sondern auch in der Öffentlichkeit. Im Blick auf Leiden, aber auch auf Rechte. Zugleich wird es in unserer durchaus sexualisierten Gesellschaft darauf ankommen, Sexualität weder zu überhöhen noch zu verdammen, wie es lange Zeit mit der Konzentration der zehn Gebote auf das siebte geschah. Die noch immer heftig geführten Auseinandersetzungen zwischen Liberalen und Konservativen um Homosexualität, Ehe und Lebensformen in der Kirche lassen sich dann aushalten, „wenn vergegenwärtigt wird, worin jede verantwortlich gelebte Sexualität letztlich gründet: in der Liebe Gottes zum Menschen, zu der auch das Geschenk der Sexualität gehört. Diese Liebe wird zum Maßstab für den Umgang mit Unverschämtem, für das Genießen des Schönen“, schreiben Dabrock und seine Ko-Autoren am Ende des zitierten Buches.

 

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[1] Isolde Karle, Liebe in der Moderne, Körperlichkeit, Sexualität und Ehe, Gütersloh 2014
[2] Evangelische Kirche in Deutschland, Zwischen Autonomie und Angewiesenheit, Familie als verlässliche Gemeinschaft gestalten, Gütersloh 2013
[3] Peter Dabrock, Renate Augstein, Cornelia Helferich, Stefanie Schardien, Uwe Sielert: Unverschämt-schön, Sexualethik: evangelisch und lebensnah, Gütersloh 2015
[4] A.a.O. S. 72