St. Nikolaus Köln, Cornelia Coenen-Marx
1. Macht hoch die Tür!
Zu den Erinnerungen an meine Kindheit gehört das kleine Adventshäuschen. Ich mochte es sehr- es glich dem Fachwerkhaus, in dem wir damals wohnten. Hinter den Fenstern mit den grünen Schlagläden standen auf rotem Transparentpapier Bibelsprüche und Adventsverse. Am 1. Advent: „Macht hoch die Tür“. Zu Weihnachten konnte man endlich die große Haustür öffnen, hinter der die Krippe erschien.
Die Türen öffnen – endlich wieder teilnehmen am Leben da draußen, wie oft haben wir uns das gewünscht in den letzten zwei Jahren. „Ich habe vermisst, dass jemand mich umarmt oder die Hand gibt. Die ‚Kinderfamilien‘ leben verstreut in Zürich, Berlin, Recklinghausen. Mit neuen Formen wie ‚Facetime‘ halten wir sicht- und hörbaren Kontakt, aber es bleibt Ersatz. Um Gemeinschaft zu erfahren, muss ich selbst aktiv sein und bleiben: Einladen auf eine Tasse Kaffee auf dem Balkon. Telefonieren, mailen, Briefe schreiben, Nachbarschaft pflegen. Aber manchmal bin ich einfach nur müde und erschöpft. Es müsste ein Gemeinschaftshaus geben, wo man einfach hingeht und jemanden trifft“, schrieb eine ältere Freundin im Lockdown. Und jetzt soll das alles wieder von neuem beginnen? Kontaktbeschränkungen auch zu Weihnachten?
Wieviel Einsamkeit es in unserer Gesellschaft gibt, das ist uns während der Pandemie bewusst geworden. Nach einer Studie aus dem Jahr 2018 leben es in Deutschland 16,8 Millionen Singles zwischen 18 und 65 Jahren – das sind immerhin 30 Prozent der Frauen und Männer im mittleren Alter. Bei den Über-70-jähirgen leben sogar mehr als 40 Prozent allein Dis-embedding ist eine Schlüsselkategorie der Moderne. Die allermeisten Menschen wohnen nicht mehr an dem Platz, an dem sie arbeiten, ja- sie wechseln Wohnort und Arbeitsplatz und auch Familienkonstellation und Lebensform oft mehrfach im Leben. Immer neue Beziehungen, wenig dauerhafte Bindungen. Unsere Arbeitswelt belohnt das Alleinleben. Die Wirtschaft braucht dauernde Verfügbarkeit und Bereitschaft zur Veränderung- und die Digitalisierung unterstützt uns dabei.
Gleichzeitig sehnen sich die meisten nach stabilen Beziehungen, nach Freundschaft, Anerkennung und wechselseitiger Fürsorge. Das gilt gerade auch für die jungen Leute, wie die Shell-Jugendstudie von 2019 zeigt: Gute Freunde, die einen anerkennen (97 Prozent), ein*e Partner*in, dem*der man vertrauen kann (94 Prozent) und ein gutes Familienleben (90 Prozent) stehen bei den 12–25-Jährigen ganz oben auf der Werteskala. [1] Wie wesentlich das Miteinander ist, das konnte man während der Krise in vielen Gesprächen und Talkshows hören. Immer wieder war von „ den wichtigsten Menschen in meinem Leben“ die Rede. Aber plötzlich fehlten die Großeltern, die sonst einspringen, wenn das labile Gleichgewicht des Alltags aus dem Tritt gerät. Oder die pflege- und hilfebedürftigen Eltern waren zu weit weg, um unter Corona-Bedingungen kurz nach ihnen zu schauen.
Dass Familien über mehrere Generationen an einem Ort wohnen, ist längst keine Selbstverständlichkeit mehr. Junge Leute ziehen in die prosperierenden Regionen; zurück bleiben die Älteren, weniger mobilen. Nur noch ein Viertel von ihnen lebt mit den erwachsenen Kindern an einem Ort. Pflegebedürftige Menschen, aber auch Alleinerziehende mit kleinen Kindern geraten bei der Bewältigung des Alltags enorm unter Druck, wenn sie nicht auf die Hilfe von Angehörigen zählen können. Wie gut, wenn dann die Nachbarschaft funktioniert. Wenn einer nach dem anderen schaut, wie bei den Telefonketten und Einkaufshilfen, die in der Pandemiezeit entstanden sind. „Dich schickt der Himmel, hieß eine dieser Aktionen in Hessen – verantwortet von evangelischer Gemeinde, katholischen Pfadfindern und der Stadt. Mir ist aufgefallen, wie viele Nachbarschaftsaktionen an Engel erinnern. „Heute ein Engel“ heißt eine digitale Aktion. Und im Norden ist man auf der Suche nach Quartiersengeln. Immer geht es um Begegnung – um die kleinen Türöffner, die aus der Einsamkeit heraushelfen. Ein Anruf, ein Mitbringsel, ein Brief.
Aber die Nachbarschaften verändern sich auch, weil Menschen von anderswoher zuziehen – als Arbeitssuchende, Migranten oder Geflüchtete. Manche, wie die Einwanderer der 1960er Jahre aus Südeuropa oder aus der Türkei, gehören mit ihren Familien seit Generationen dazu; und dennoch hat sich noch nicht überall ein echtes Miteinander entwickelt. Wo viele leben, die von Transfereinkommen abhängen, wächst die Angst vor dem Verlust des „Eigenen“ – des eigenen Arbeitsplatzes, der gewohnten Nachbarschaft, der eigenen Kultur. Zugleich wird spürbar, was Heimat eigentlich bedeutet: sich auskennen, gebraucht werden, dazugehören. Im Duisburger Norden, in Chorweiler oder Höhenberg-Vingst leben Menschen zusammen, die sich alle auf ihre Weise ausgeschlossen fühlen – als Hartz-IV-Empfänger, Pflegebedürftige, Alleinerziehende, Migrantinnen, kinderreiche Familien. Viele sind überzeugt, auf sie käme es nicht mehr an. Und die meisten Kinder haben nie etwas anderes kennengelernt als Armut und Chancenlosigkeit. Für viele ist schon eine Woche Urlaub im Jahr totaler Luxus. In ihrem Buch „Drei Kameradinnen“ hat Shida Bazyars gezeigt, was es heißt, aufgrund der eigenen Herkunft immer und überall infrage gestellt zu werden. Sie erzählt von Hass, Hetze und Gewalt – aber auch von ganz unerwarteter Solidarität. Und die kann auch eine Kirchengemeinde zeigen, wenn sie den Advent auf die Straße bringt.
Erfahrungen von Entwurzelung und Identitätsverlust gehörten schon im 19. Jahrhundert zu den Schattenseiten der großen Transformation. So bezeichnete der österreich-ungarische Wirtschaftssoziologe Karl Polanyi 1944 den Wandel der westlichen Gesellschaftsordnung in der Zeit der Industrialisierung. Damals kam es zu tiefgreifenden sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen – Marktwirtschaften und Nationalstaaten bildeten sich heraus. Zugleich aber zerbrachen für viele Menschen die sozialen Zusammenhänge, die sie getragen hatten. Die Schattenseite der neuen Produktivität waren Arbeitslosigkeit, Armut und Wohnungsnot, allein gelassene und verwahrloste Kinder und Kranke. Christinnen und Christen wie Theodor und Friederike Fliedner in Kaiserswerth oder Adolph Kolping hier in Köln suchten Antworten auf die neuen Herausforderungen. Sie reisten durch Europa, um die Auswirkungen der Krise zu studieren. Denn die damalige Transformation war überall zu beobachten. Zu den Hauptproblemen gehörten die Überforderung der Familien, Nachbarschaften und Kommunen – die Institutionen, die Halt gaben, trugen nicht mehr, weil die Welt durchgeschüttelt wurde. Auch die Kirche war an den Rand geraten.
Es hat lange gedauert, bis am Ende des Jahrhunderts nationale Sicherungssysteme entstanden, die unseren Sozialstaat heute noch konturieren. Vom Vormärz bis zu Bismarck gab es heftige gesellschaftliche und politische Auseinandersetzungen. Aber Gott sei Dank gab es diese Bürgerinnen und Bürger, die aus ihrem Glauben heraus neue Initiativen entwickelten. Sie gründeten christliche Vereine neben den Kirchen, schufen Genossenschaften und caritative Gemeinschaften, gründeten Kindergärten und Pflegeeinrichtungen, Gesellenheime und Bahnhofsmissionen, konzipierten neue Ausbildungen in Erziehung, Pflege, Sozialer Arbeit und entwickelten Quartierskonzepte für die Städte. Ihre Offenheit für neue Ideen, ihre Überzeugung, von Gott gebraucht zu werden, ihre Bereitschaft, breite Bündnisse zu schließen, haben mich immer begeistert. In Innerer Mission und Caritas entstanden neue Netzwerke, auf denen auch die Politik weiter aufbauen konnte. Wenn ich auf die Herausforderungen schaue, die wir gerade erleben- von der akuten Pflegekrise bis zu den Migrationsprobleme in Belarus und Polen – dann macht diese Geschichte mir Mut.
Resonanzen
Gott erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht / über alle, die ihn fürchten. 52 er stürzt die Mächtigen vom Thron / und erhöht die Niedrigen. 53 Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben / und lässt die Reichen leer ausgehen“, so betet Maria, die junge Frau aus einfachen Verhältnissen. Auch sie braucht eine Menge Mut. Und auch sie hat eine Engelbegegnung in diesen Tagen: Ihr wird eine Zukunft eröffnet, die sie vollkommen überrumpelt. Ihr wird etwas zugemutet- aber eben auch zugetraut. Den lebendigen Gott in die Welt tragen. Die Adventsgeschichte erzählt, wie sie ihr Haus verlässt- aufgewühlt, verunsichert, glücklich, ängstlich zugleich. Sie macht sich auf den Weg zu Elisabeth, der älteren Freundin- von ihr erhofft sie sich Klarheit. Dabei ist die selbst schwanger und wohl auch zutiefst irritiert – niemand konnte damit rechnen, dass sie in ihrem Alter noch ein Kind bekommt.
Die Bibel voll von solchen Geschichten –in denen das Unmögliche möglich wird. Wo Menschen der Boden unter den Füßen entzogen wird, die alten Gewissheiten schwinden. Wo sie Grenzen überschreiten, ja- sich selbst überschreiten und ein neues Leben anfangen– auch im Alter. Wie Abraham und Sara, auch sie Kinderlos, denen nachts unter dem Sternenhimmel eine reiche Nachkommenschaft verheißen wird – wenn sie aufbrechen in das Land, das Gott ihnen verheißt. Aufbrüche, mit denen keiner mehr gerechnet hätte. Leichte Wege sind es nicht. Abraham und Sara müssen durch die Wüste – äußerlich und auch innerlich: Es gibt Missverständnisse, Verrat und Traurigkeiten. Maria geht über das Gebirge- Adventslieder erzählen von den Dornen, die Rosen tragen. Aber als Maria und Elisabeth einander begegneten, hüpft das Kind in Elisabeths Leib, heißt es im Evangelium.
Der Philosoph Hartmut Rosa spricht in diesem Zusammenhang von Resonanzerfahrungen: Das Universum ist nicht leer und stumm, sagt er, es klingt, es ruft mich, es antwortet mir. Ich fühle mich angerufen, gemeint, angesprochen. Und zugleich kenne ich diese Lebensphasen, in der ich keinen Boden mehr unter den Füßen hatte – Momente tiefer Irritation und Entfremdung. Ohne Entfremdungserfahrungen entwickelt man keine individuellen Resonanzachsen: Was spricht eigentlich zu mir? Auf welcher Frequenz bin ich empfänglich? Um etwas zu empfangen, müssen Sie eine Phase haben, in der die Welt still wird. In der sie nicht mehr mit ihr zurechtkommen, sagt Rosa in einem Interview[2].
Manche haben den Lockdown so erlebt, erleben die Pandemie noch immer so. Gewohnte Routinen fielen aus. Auch die kirchlichen. „Weihnachten auf dem Kirchplatz – das war ja noch schön“, sagte mir jemand. Aber Ostern? Ostern ohne Gottesdienst? Das war eigentlich unvorstellbar. Papst Franziskus im Regen auf dem leeren Petersplatz – war das vielleicht nur ein Vorzeichen? Wird der Tag kommen, an dem unsere Kirchen für immer leer bleiben? Die Klage über das Schweigen der Kirche und die Frage nach ihrer Systemrelevanz sind ja verräterisch.
Es hat Menschen gegeben, für die der erste Lockdown wie eine Offenbarung war. Im März war der Himmel blau- ohne einzigen Kondensstreifen. Wir haben uns eine App gekauft, mit der man die Vögel bestimmen konnte. Die Natur nahm sich den Raum und manche begannen, davon zu träumen, wie es wäre, wenn wir wirklich weniger Auto führen und weniger flögen… Sollte es nicht möglich sein, die Wunden zu heilen, die wir der Schöpfung geschlagen haben?
„Ist uns jetzt wirklich gewahr, dass wir nicht mehr auf Zeit spielen können und dass jeder von uns gehörige Veränderungen und ein fundamentales Umdenken in Kauf nehmen muss, wenn wir in der Klimaveränderung auf den allerletzten Metern noch einen Richtungswechsel vollziehen wollen?“, fragte Herbert Grönemeyer dieses Jahr in einem Podcast zur Bundestagswahl. „Und haben wir den Mut einer frischen, jüngeren Generation zuzuhören, Verantwortung zu übertragen, sie zu stärken und zu unterstützen, Neues zu wagen, uns wieder zum Mitmachen zu motivieren, zu überzeugen und gemeinsam mit ihnen zu lernen?“
Ich denke an Maria und Elisabeth, wie die Ältere sich über die Jüngere freut. An Hartmut Rosas Worte über die Resonanz. Und an Franz Kafkas Parabel vom „Aufbruch“: Ich befahl mein Pferd aus dem Stall zu holen. Der Diener verstand mich nicht. Ich ging selbst in den Stall, sattelte mein Pferd und bestieg es. In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen, ich fragte ihn, was das bedeute. Er wusste nichts und hatte nichts gehört.“ So beginnt die kleine Geschichte. Nicht jeder empfängt die Resonanzen. Und auch der Erzähler weiß noch nicht, wohin er reiten wird. Er weiß nur, dass er aufbrechen muss. Und dass die Welt nicht bleiben kann, wie sie ist.
Wie wird die Welt aussehen, wenn die Pandemie unter Kontrolle ist? Manche hoffen auf mehr Solidarität und Gemeinschaft, auf einen einfacheren Lebensstil, auf den 1,5 Grad-Pfad. Andere wollen so schnell wie möglich zurück auf den Wachstumspfad. Denn eins ist klar: der Weg in eine neue Gesellschaft, hin zu einem klimaneutralen Lebensstil wird nicht einfach. Das wusste auch Franz Kafka: Es ist eine wahrhaft ungeheure Reise, heißt es in dem Text. Es ist ein Weg übers Gebirge.
Wie wird die Kirche aussehen nach der Pandemie? Es ist jetzt fast 30 Jahre her, da stand ich im Osten Londons, in einem herunter gekommenen Hafenviertel, vor einer verrammelten Kirche. Eine Gruppe rheinischer Theologinnen und Theologen auf der Suche nach Impulsen für die Kirche der Zukunft – auf Erkundungsreise, wie vor uns schon Fliedner und andere. Was damals in der Church of England geschah, ist inzwischen Alltag auch hier: Kirchen werden geschlossen, aufgegeben und verkauft. Und manche werden umgewidmet – sie werden zu Synagogen, zu Moscheen oder zu Gemeinschaftshäusern. Unsere Gruppe traf sich mit einer Bürgerinitiative, die um den Erhalt der verschlossenen Kirche kämpfte. Mitten in einem globalisierten Viertel mit Menschen aller Hautfarben und Religionen, in dem die Armut offensichtlich groß war. Es war verständlich, dass der Bischof von London zur Überzeugung gekommen war, diese Kirche werde nicht mehr gebraucht und sei auch nicht mehr zu finanzieren. Aber die Menschen, die wir trafen, waren ganz anderer Auffassung. Diese Kirche war der Ort, wo sie getauft und getraut worden waren, wo sie auch ihre Kinder hatten taufen lassen. Hier waren sie gesegnet worden, hatten dazu gehört. Hier war ihre Heimat. So etwas gibt man nicht einfach auf.
Aber mit der zunehmenden Individualisierung, der Veränderung von Familien, der wachsenden Mobilität erodieren auch die alten Rituale wie Trauung, Taufe und Beerdigung oder sie wandeln sich – denken wir nur an die Trauung gleichgeschlechtlicher Paare, die wachsende Zahl der Einäscherungen, der anonymen Bestattungen. Dabei verändert der soziale Wandel nicht nur die Rituale; umgekehrt schwächen fehlende Rituale den sozialen Zusammenhalt. In der erzwungenen Isolation der Corona-Zeit haben viele gespürt, was das bedeutet: Taufen, Trauungen und sogar Beerdigungen mussten verschoben werden. Abschlussfeiern an den Schulen fielen genauso aus wie die Begrüßung neuer Mitarbeiter oder die Feiern zum Einzug. Das sind die Augenblicke, wo Menschen Segen und Gemeinschaft erfahren, wo wir festen Boden unter den Füßen spüren. Es ist schwer, in eine offene Zukunft zu gehen, wenn all das wegfällt.
Was gibt Halt in einer Welt voller Zerreißproben? Jetzt im Advent schauen viele gern zurück in die Kindheit – auf die Kirche ihrer Kindheit, volle Gottesdienste, Kinder an der Krippe – das Adventshäuschen, das bald von innen leuchten wird. Was gibt uns Heimat im Wandel?
Ich glaube, wir brauchen eine Kultur der Freundschaft. Wo der Kontakt zu Angehörigen sich lockert, nehmen Freundeskreise an Bedeutung zu. Für viele Singles sind sie längst zur Wahlfamilie geworden. Die ersten Christen, die oft ihre Familien um des Glaubens willen verlassen hatten, bildeten Wahlfamilien. Sie wurden den neu hinzukommenden Paten und geistliche Väter und Mütter, sie nannten sich Brüder und Schwestern- und zwar quer über die unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten, ja über Geschlechterschranken hinweg. Sie lebten wie wir in einer multireligiösen und pluralistischen Weltgesellschaft, sie trafen sich in Wohnzimmern wie im Tempel. Was für eine Tradition- und was für eine Vision, wenn es darum geht, Brücken zu bauen zwischen den Parallelgesellschaften und die Blasen platzen zu lassen, in denen wir uns bewegen! Leider sind aber auch Gemeinden oft eher geschlossene Gesellschaften. Man kennt sich, kommt aus ähnlichen Milieus, fühlt sich wohl im Miteinander, als sei die Kirche ein Verein oder ein Club. Das WIR der Freundschaft ist größer und bunter, es lebt von der Verschiedenheit und lässt den anderen anders sein – da wird niemand vereinnahmt, da muss sich niemand anpassen.
Jahrhundertelang wuchs man hierzulande hinein in eine kirchliche Tradition, wurde getauft, konfirmiert, gefirmt, ging einen vorgeprägten Weg im Schatten des Doms. Heute arbeiten in Pflegeeinrichtungen wie der Kaiserswerther Diakonie Menschen aus mehr als 60 verschiedenen Herkunftsländern – jeder und jede auf einem eigenen Weg mit dem Leid der Pflegebedürftigen, ihren Familien, der christlichen Einrichtung. Und fast alle auf der Suche nach Heimat, Gemeinschaft und Sinn. In einer Welt, in der das Unterwegssein für viele zur Selbstverständlichkeit geworden ist, brauchen wir Herbergen am Weg. Noch immer laden die großen Kathedralen zum Innehalten ein. Aber wir brauchen auch die kleinen Gasthäuser, wo Menschen einander begegnen, ihre Geschichten teilen, sich füreinander einsetzen und einander auf diese Weise ein Stück Heimat geben. Für die, die von nah und fern zuziehen. Und auch für alle, die bisher nicht viel mit der Kirche anfangen konnten. Für alle, die schon lange schon auf der Suche sind – auf Weltreisen und Pilgerwegen. „We serve the local community“ steht an den Kirchen in Wales. Kirche ist da nicht der Verein, der sich um die eigene Zukunft sorgt; sie ist Instrument für die Gemeinschaft vor Ort.
Auch unsere Gesellschaft braucht Begegnungsorte. Am besten solche, in denen sich die Verschiedenen ohne Hierarchien begegnen und ihre Anliegen aushandeln können. Offen, niedrigschwellig, für jeden zugänglich – wo sich niemand wie ein Fremder fühlen muss. Dorfläden, Stadtteilbüchereien, Quartierscafés können diese Funktion erfüllen. Und manchmal auch Kirchen und Gemeindehäuser. Ich denke an die vielen Räume, wo in den letzten Jahren Mittagstische entstanden sind, damit niemand mehr für sich allein kochen muss. Einer davon steht in meiner Nachbarschaft in den interkulturellen Gärten – dort wird einmal in der Woche nach ganz unterschiedlichen Rezepten gekocht: türkisch, hessisch, syrisch, alemannisch und natürlich auch „Himmel und Ärd“.
Mazzen und Lebkuchen
Apropos Essen. Jetzt beginnt die Zeit der Weihnachtsplätzchen und der Oblaten. Manchmal nehme ich eine solche Dose mit, wenn ich unterwegs bin – das stärkt. Auch der Diener in der Geschichte sagt besorgt: Du hast ja gar keinen Proviant mit. Ich brauche keinen Proviant, ist die Antwort – es ist ja eine wahrhaft ungeheure Reise. Mich erinnert das an den ganz großen Aufbruch, von dem die Bibel erzählt – dem Auszug des Volkes Israel aus Ägypten. Als sie aufbrachen, nahmen sie Mazzen mit – ungesäuerte Brote. Aber das half nicht weit. Bald schon waren sie angewiesen auf das, was Himmel und Erde ihnen schenkten. Manna. Wachteln und Beeren, Wasser, das aus dem Felsen sprang.
Aber trotz aller Wunder: so eine Wüstenwanderung ist kein Vergnügen. Und es hat nicht lange gedauert, bis sich die meisten fragten, warum sie überhaupt aufgebrochen waren. So schlecht war es ja nun auch wieder nicht in Ägypten. Sie hatten Arbeit, sie hatten Essen, sie hatten ihre Routinen. Ja, sie waren nur Arbeitssklaven, aber sie kannten sich aus. Vergessen waren die Demütigungen, die Schläge, die Klagen. Vergessen der Durchzug durchs rote Meer – die Erfahrung geschützt zu sein auch gegen die Angst. „Wer das vergisst, was gut war, wird böse – wer das vergisst, was schlecht war, wird dumm“, sagt Erich Kästner.
In seinem Buch „Das Floß der Medusa“ zeigt Wolfgang Schmidtbauer, wie gefährlich es sein kann, wenn wir in einer Situation notwendiger Veränderungsprozesse sprichwörtlich den Kopf in den Sand stecken. Die gegenwärtige Häufung von Krisen – Klima, Energie, Geldwirtschaft, Terror und Flüchtlingselend- sei ohne Vorbild in der Geschichte, schreibt Schmidtbauer, und er ist sich sicher, die Menschen müssten Gruppen bilden, gemeinsam lernen, das Gemeinwesen neu organisieren und verschüttete Begabungen freilegen.
Das Buch dreht sich um eine Schiffskatastrophe – um den Untergang der französischen Fregatte „Medusa“, 100 Jahre vor der Titanic. Die Berichte der wenigen Überlebenden zeigen: Grund für die Katastrophe war eine Führung, die Angst hatte vor dem Verlust der Schiffsladung, und ein unsachgemäßes Festhalten an Status und Macht. Wer sich angesichts kommender Herausforderungen in Machtkämpfe verstrickt, auf Positionen beharrt, um seinen Besitz fürchtet, kann die Zukunft nicht gewinnen. „ Es gelang der Führung nicht, die Menschen an Bord dabei zu unterstützen, ihre Fähigkeiten für eine Rettungsaktion zu koordinieren und Flösse zu bauen.“, schreibt Schmidtbauer.
Wo es darum geht, Menschen zu retten, fühlen sich viele Menschen ganz unmittelbar angesprochen. Wir haben das gerade bei der Flutkatastrophe an der Ahr erlebt. Menschen kamen spontan, um zu helfen und blieben oft Wochen. Ließen den Alltag hinter sich und machten ganz neue Erfahrungen von Gemeinschaft. Ganz ähnlich war und ist es in der Flüchtlingsarbeit. Laut einer Allensbach – Untersuchung vom April 2017 arbeiteten 40 Prozent der Engagierten in Gruppen, die sich ausschließlich zu diesem Zweck gegründet haben – ohne Rechtsform, mit flachen Hierarchien und einem hohen Maß an Beteiligungsmöglichkeiten, 23 Prozent haben sich auf eigene Faust und außerhalb aller Institutionen engagiert. Meist junge Leute zwischen 20 und 30 – und sie organisierten sich nicht zuletzt über die neuen Medien. Wie zuvor schon Hospiz- und Tafelbewegung stellten sie die traditionellen Wohlfahrtsstrukturen in Frage. Auf die Kirchen ist ehrenamtliches Engagement schon lange nicht mehr angewiesen. Und auch der Begriff Ehrenamt steht längst in Frage. Er bezieht sich ja immer auf eine Institution oder Organisation.
In der Zivilgesellschaft von heute gehen Initiativen von Einzelnen und Gruppen aus. Kirchlich gesagt: das Volk Gottes ist das Subjekt. Ehe noch Programme und Strukturen entwickelt werden, ehe Hauptamtliche eingestellt werden, engagieren sich Menschen in ihrer Freizeit, wo es brennt. Kirchen können dabei Erprobungsräume sein. Flöße, auf denen Menschen für eine Weile ein neues Leben erproben, mit einem neuen Lebensstil experimentieren – in einem Freiwilligen Sozialen Jahr, bei einer Wüstenwanderung im Urlaub, im ehrenamtlichen Engagement für ein Hospiz. Die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen und die Zerreißproben zwischen Berufstätigkeit, Ehrenamt, Erziehung und Pflege werden es nötig machen, über eine andere Verankerung des Engagements in den Umbrüchen unseres Lebens nachzudenken. Zwischen Schule und Beruf, während der Elternzeit, beim Übergang in die dritte Lebensphase oder eben in einer Notlage, in einem Umbruch, der uns alle betrifft. Und welche Angebote, welche Anerkennungs- und Finanzierungsformen können die Schwelle senken, damit auch Hartz-IV-Empfänger oder Geflüchtete. An der Ahr waren einige ganz selbstverständlich mit ihren Initiativen dabei.
Der Weg aus der Einsamkeit, sagt Noreena Hertz, führt über wechselseitige Unterstützung. Maßgeblich ist, dass Menschen sich nicht nur umsorgt fühlen und umsorgt sind, sondern dass sie auch Gelegenheit haben, für andere zu sorgen. In Quartiersprojekten und Familienzentren, in Seniorenwohngemeinschaften, Mehrgenerationenhäusern und Stadtteilzentren entwickelt sich zurzeit eine neue Gestalt des Sozialen: die Sorgenden Gemeinschaften. Angehörige, Nachbarn, Freunde stehen auch in schwierigen Zeiten füreinander ein und entdecken ihre Sorgekräfte wieder, machen vertiefte Erfahrung von Begleitung und Nähe – auch von Gottes Nähe. Die Organisationen bieten dann den Rahmen für das, was Betroffene und Engagierte ins Leben rufen. So können Gemeinschaftsräume, ja auch Glaubensräume entstehen – mitten im Alltag. Lernräume, damit es nicht zu einem Schiffsunglück führt wie damals bei der Medusa.
Was uns ein-leuchtet: Große Weihnachtskugel
Auf in die neue Freiheit, heißt das kürzlich erschienen Buch von Christian Henneke aus Hildesheim. Er meint, wir müssten die kleinen Aufbrüche, die wir überall erleben, in einem neuen Licht sehen: Die Wohnzimmergottesdienste und die Pilgerwege in der Stadt, die Gottesdienste in der Eckkneipe und die Projektchöre vor Weihnachten seien mehr als kleine, neue Schösslinge in einem abgestorbenen Forst – sie seien der wachsende, neue Wald, den wir schützen müssten. Ich erinnere mich an einen Konzertabend in der Kaiserswerther Diakonie – ein Gospelchorsang und die alte Mutterhauskirche war voll. Das war die Kirche, in der ich immer wieder predigte – und doch kannte ich kaum jemanden. Aber sie sangen mit großer Begeisterung „This little light of mine“. Das hat mich wachgerüttelt. Wo Menschen ganz natürlich vom Evangelium ergriffen werden, wächst etwas Neues, entstehen auch neue Strukturen. Wir seien nicht bei einem Update, auch nicht bei einem Upgrate, sagt Hennike, sondern bei einem Wechsel des Betriebssystems. Und tatsächlich haben das viele von uns während des Lockdowns erlebt: Online-Meditationen und Osternächte über Zoom. Und Minutenandachten auf Whats-App. Von Jugendlichen, Frauen, „Laien“ – Zeugnis des Volkes Gottes. Konfirmationen im Garten, Taufen am Fluss.
Für die Kirchen, deren Agenda lange darin bestand, Ordnungen zu begründen und aufrecht zu erhalten, ist die Öffnung ins Ungewisse eine große Herausforderung. Schon bei der Auszugsgeschichte Israels zeigt sich: die Hoffnung auf eine neue Welt, trägt immer nur streckenweise durch die Wüstenerfahrungen. Darum wurde das goldene Kalb gegossen, darum wurde das Auto zum Wohlstands- und Mobilitätssymbol in Deutschland. Wenn wir nicht am Materiellen kleben bleiben, sondern Wege und Orte neu gestalten wollen, dann müssen wir darauf setzen, dass Zeichen Wege weisen, dass das Wort trägt. Es geht darum, wiederzuentdecken, wie sich das Heilige und Heilende in den Zerreißproben zeigt. Wir sind auf dem Weg durch die Wüste, aber hier und da ahnen wir schon die Zedern des Libanon und die Wasser des Jordans. Die Bibel erzählt, dass das Volk Israel Kundschafter ins gelobte Land schickten – sie sollten etwas mitbringen von dort, ein Zeichen des gelobten Landes – wie diese Kugel, die vom Weihnachtsparadies erzählt, von der neuen Welt.
Wie finden wir wirklich Zukunft und Glück? Und wie gehen wir um mit den Glücksversprechen der Warenwelt, die gerade jetzt überall leuchten? Wer durch das weihnachtliche Köln geht, vorbei am Weihnachtsmarkt und den erleuchteten Geschäften, begegnet unendlich vielen Glücksversprechen. Aber „Coping, Doping, Buying, Shopping“, wie Wolfgang Streeck[3] unseren westlichen Lebensstil nennt, können nur wenigen Erlösung bieten. „In der noch andauernden Pandemie wird einmal mehr deutlich, dass zum Menschsein nicht nur der Wunsch nach Unabhängigkeit und Eigenständigkeit gehört, sondern auch Verletzlichkeit und Angewiesenheit“, schreibt Barbara Thiessen.
Die Verheißungen des Evangeliums sehen auch diese Seite des Menschen. Unsere Verletzlichkeit, die Traurigkeiten, die Einsamkeiten. Trost wird versprochen für die die trauern und Gerechtigkeit für die Armen. Ansehen für uns alle: So wie wir sind, sind wir Gottes Kinder. Es geht darum, diese Zusage zu hören, es geht um die Erfahrung von Gemeinschaft angesichts unserer Verletzlichkeit und um den Mut, das Vergangene hinter uns zu lassen.
[1] Albert, Mathias/Hurrelmann, Klaus/Quenzel, Gudrun/Kantar (2019): Jugend 2019 – 18. Shell Jugendstudie. Eine Generation meldet sich zu Wort. S. 4. https://www.shell.de/ueber-uns/shell-jugendstudie/_jcr_content/par/toptasks.stream/1570810209742/9ff5b72cc4a915b9a6e7a7a7b6fdc653cebd4576/shell-youth-study-2019-flyer-de.pdf (Zugriff am 05.01.2021).
[2] Philosophie Magazin, 11/2021
[3] Wolfgang Streeck, „Gekaufte Zeit, die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus“, Frankfurt 2013