1. Mer lasse der Dom in Kölle
„Wenn ich einen Traum von der Kirche habe, so ist es der Traum von den offenen Türen gerade für die Fremden, die anders sprechen, essen, riechen. Mein Haus wünsche ich mir nicht als eine für andere unbetretbare Festung, sondern mit vielen Türen. Heimat, die wir nur für uns selbst besitzen, macht uns eng und muffig.“ (Dorothee Sölle)
20 Jahre ist es nun her, da standen wir im Osten Londons vor einer verrammelten Kirche. Eine Gruppe rheinischer Theologinnen und Theologen auf der Suche nach Impulsen für die Gemeinden der Zukunft. Was damals in der Church of England für Aufregung sorgte, ist inzwischen bei uns angekommen: Kirchen werden geschlossen, aufgegeben und verkauft. Andere werden umgewidmet – zu Synagogen oder Moscheen, zu Restaurants und Nachbarschaftszentren. Ich musste an unsere Englandreise denken, als ich kürzlich in Bielefeld im Restaurant „Glück und Seligkeit“ ein Chutney genoss – der bunte Lichteinfall unter der hohen Decke schmückte den Tisch. Wir saßen in einer alten Kirche. Die Kirche in London stand im Osten, mitten in einem globalisierten Viertel mit Menschen aller Hautfarben und Religionen, in dem die Armut offensichtlich groß war. Kein Wunder, dass der Bischof der Meinung war, sie werde nicht mehr gebraucht und sei auch nicht mehr zu finanzieren. Aber die Menschen, die wir dort trafen, waren ganz anderer Auffassung. Sie hatten eine Bürgerinitiative gegründet, um die Kirche zu erhalten. Dabei lebten viele von ihnen längst anderswo – hier aber waren sie getauft und getraut worden waren, hier hatten auch ihre Kinder den Segen bekommen. Hier waren sie wer – und gehörten dazu. So etwas gibt man nicht einfach auf.
Das bewegt auch die Kirchenkuratoren und Kirchenkuratorinnen, die inzwischen bei uns dafür sorgen, dass Dorfkirchen in Brandenburg oder in Mitteldeutschland saniert werden – die Orgelpaten suchen, Veranstaltungen planen, die Kirchen offen halten, auch wenn sie selbst gar nicht Mitglied sind oder längst anderswo wohnen. “Je mobiler die Gesellschaft, je mehr Optionen und Lebensstile, desto wichtiger wird Heimat. Heimat, das ist die Stadt, von der ich „Wir“ sagen kann“, sagte kürzlich ein Schriftsteller. Der Lebensraum, in dem wir uns selbstverständlich und ungezwungen bewegen können, weil wir uns auskennen, weil wir dazugehören. Und nicht zufällig sind es oft die Kirchen und Dome, die das Heimatgefühl stärken – auch für die, die die Kirche selbst kaum noch besuchen. Denn die Kirche ist nach wie vor ein markanter und prägender Punkt im Stadtbild, die Schläge der Kirchturmuhr und der Klang der Glocken gehören zum akustischen Raum und geben uns Orientierung in der Zeit und die Silhouetten der Dome werden zum Symbol ihrer Stadt – die Frauenkirche in München, der Hamburger Michel, der Dom in Köln. Sie gehören allen, die dort leben.
2. Gemeinde als Herberge
Dass Familien, möglicherweise sogar mit mehreren Generationen, an einem Ort wohnen, ist schon lange keine Normalität mehr. Kürzlich war ich in Opladen, wo meine Mutter geboren wurde. Außer dieser Tatsache verbindet mich nichts mehr mit diesem Ort – zu oft ist meine Familie seitdem umgezogen. Junge Leute ziehen in die prosperierenden Regionen; zurück bleiben die Älteren, weniger Beweglichen. Väter pendeln in die Städte – die Familien leben in der Region wo die Mieten bezahlbar sind. Und jedes dritte Paar in den ersten Berufsjahren lebt getrennt, weil die Karriere es verlangt. Der Soziologe Eric Klinenberg spricht deshalb von einer Versingelung der westlichen Gesellschaften. Alleinleben sei offenbar der beste Weg, die Werte einer individualistischen Gesellschaft zu leben, meint er: Freiheit, Selbstverwirklichung und Selbstkontrolle. Zugleich aber verlieren Menschen, die häufig umziehen oder auch pendeln, die alltägliche soziale Einbettung in Familie und Nachbarschaft. Das Alleinsein und das Zerbrechen der hergebrachten sozialen Bezüge sind dabei nicht nur eine emotionale Herausforderung. Familien mit kleinen Kindern, auch alte oder kranke Menschen – deren Anteil an der Gesamtbevölkerung mit dem demografischen Wandel wächst – geraten bei der Bewältigung des Alltags oft enorm unter Druck, wenn sie nicht auf die selbstverständliche Hilfe von Angehörigen oder engen Freunden zurückgreifen können. Aber auch für die, die ihre Heimat nicht verlassen, verändert sich die Welt. Die Nachbarschaften verändern ihr Gesicht. Fremde ziehen zu – als Arbeitssuchende, Migranten oder Flüchtlinge. Geschäfte verschwinden, in der Kneipe wechselt die Speisekarte, Nachbarn sprechen eine andere Sprache. Auch Heimat kann zur Fremde werden – da sehnen wir uns nach vertrauten Gesichtern und nach Orten, die bleiben.
Während Post und Sparkassen sich zurückziehen, finden wir noch überall Kirchen und Gemeindehäuser – öffentliche Räume mit ungeheuren Möglichkeiten für Begegnungen, Basare, Cafés und Büros. Begegnungsräume für jedermann, die zugänglich sind, ohne Eintritt zu bezahlen. Manchmal stehen sie halbleer im veränderten Quartier – und die Nachbarn, die beobachten, wie Schulen geschlossen oder Nahverkehrsstrecken stillgelegt werden, fragen sich, was daraus wird. Ich erinnere mich in solchen Situationen gern an eine Kirche in der Innenstadt von St Louis in den USA. Sie hatte eine Weile leer gestanden – das Viertel war heruntergekommen und wer es sich leisten konnte, war an den Stadtrand gezogen. Aber anders als den Bischof von London war dieser amerikanischen Gemeinde nicht egal, was mit ihrer Kirche passierte – und wie es den Leuten in ihrem alten Quartier ging. Sie öffneten die Kirche für die neuen Nachbarn, meist Latinos und Farbige. Nun gab es Kinderbetreuung und Selbstverteidigungskurse, Drogenberatung und einen Mittagstisch – und immer noch Gottesdienste für alle, mit allen. Und die Gemeinde wuchs. Hier bei uns in Deutschland ist die Situation anders. Auch in benachteiligten Quartieren gehören viele noch zur Kirche. Sie sind vielleicht auch Kunden diakonischer Dienstleistungen – sie haben ihre Kinder in der Tageseinrichtung, vielleicht kommen sie zur Familienberatungsstelle oder ein Pflegedienst kommt ins Haus – und trotzdem haben sie das Gefühl, nicht dazu zu gehören. Und wenn sie am Heiligen Abend oder zu einem Familienfest in die Kirche kommen, fühlen sie sich ein bisschen wie Gäste. Es gehört übrigens nicht viel dazu, um dieses Gefühl zu bekommen – es reicht schon, nicht zu wissen, wie die Kaffeekannen schließen. So ging es mir, als ich bei der Diakonie arbeitete und in meiner Wohngemeinde an einer Gemeindeversammlung teilnahm. Ich hatte sonst nicht viel Gelegenheit, dort zu sein – die Angebote passten mit meinen Arbeitszeiten nicht zusammen. „Sie sind wohl nicht so kirchlich“, meinte meine Nachbarin, als ich die Kanne nicht aufkriegte.
Gute Gastfreundschaft wäre schon was wert, denke ich – ein erster Schritt, um wieder Heimat zu finden. Friedrich von Bodelschwingh, der Gründer von Bethel, hat es auf den Punkt gebracht: „Das ist aller Gastfreundschaft tiefster Sinn, dass wir einander Heimat geben auf dem Weg nach dem ewigen Zuhause.“ In den Anfängen der neuzeitlichen Diakonie verstanden sich Krankenhäuser und Herbergen für Obdachlose als „Hospize“, als Orte der Gastfreundschaft, wo Menschen auf ihrem Lebensweg Station machen und auftanken konnten. Und heute können auch Kirchengemeinden wie Karawansereien sein, eine Oase in den Wüsten des mobilen Alltags. Wo Menschen einander begegnen, ihre Geschichten teilen, sich füreinander einsetzen und einander auf diese Weise ein Stück Heimat geben. Gemeinde als Herberge. Der holländische Theologe Jan Hendriks hat dieses Modell in den 1980er Jahren entwickelt. Wo diese Art von offener Begegnung stattfinde, würden nicht nur die individuellen Lebensgeschichten, sondern auch die gesellschaftlichen Zerreißproben spürbar – zugleich aber etwas von der Nähe Gottes, sagt er. Die offenen Stadtkirchen, die Stadtteilläden und Vesperkirchen, die Diakonieläden in den Quartieren wollen genau das sein: Herbergen am Weg. Um dort anzukommen, muss man nicht schon immer am Ort zu Hause sein – man kann kommen und auch wieder gehen. Heimat und Zugehörigkeit wachsen über Begegnungen, Beziehungen und Engagement.
Besonders spürbar werde das in der Gemeindeküche, sagt Friederike Weltzien. Sie ist Pfarrerin in Stuttgart, hat lange im Libanon gelebt, spricht arabisch und engagiert sich heute in der Flüchtlingsarbeit. “Für mich ist die Gemeindeküche ein spiritueller Ort“, sagt sie. Allerdings in einer alteingesessenen schwäbischen Kirchengemeinde auch ein heikler Ort. Als dort im Herbst 2015 die Turnhalle mit hundert Flüchtlingen belegt wurde, da öffnete die Gemeinde die Türen. „Und es stellte sich heraus, dass das größte Bedürfnis der Menschen war, selber Essen zu kochen, etwas, was sie kennen und was ihnen schmeckt.“, erzählt Friederike Weltzien. „Also wurde jeden Dienstag für achtzig bis neunzig Leute gekocht. Die Hilfsbereitschaft war groß, Gelder mussten gesammelt werden, die Lebensmittel eingekauft und die Tische gedeckt und dann auch wieder alles abgeräumt, gespült und gesäubert werden. In der Küche trafen die Kulturen aufeinander. Dinge veränderten sich, zunächst gab es viel Aufregung in der Gemeinde und auch Sorgen und Ängste. Aber gerade da entwickelten sich die intensivsten Kontakte auch ohne Sprachkenntnisse. Inzwischen ist es selbstverständlich geworden. Es wird immer noch regelmäßig syrisch gekocht, besonders in der Zeit des Ramadans werden gemeinsame Essen zum Fastenbrechen gefeiert. Und auf einmal werden religiöse Themen ganz zwanglos miteinander diskutiert und besprochen und erlebt. So kann auch die Gemeindeküche zum spirituellen Raum werden. Ein Raum, in dem Gottesbeziehung möglich wird, über das gemeinsame Essen. Ein Ort, an dem ich Kraft suche und auch erlebe, dass ich sie empfange.
Auch in anderen Gemeinden ist die Küche inzwischen zum heimlichen Zentrum geworden. In meiner Nachbarschaft zum Beispiel, wo alleinstehende Rentnerinnen zweimal die Woche einen gemeinsamen Mittagstisch haben. Und auch da wird reihum gekocht. Und zwischendurch trifft man einander beim Einkaufen, hilft sich auch mal im Alltag, ruft sich an. Leider sind unsere Küchen oft nicht so ausgestattet, dass viele darin arbeiten können – und nicht überall haben solche Gruppen einen Schlüssel zum Gemeindehaus. Das wären allerdings gute Voraussetzungen, um nicht mehr nur Gäste zu sein. Ganz wie der Apostel Paulus sagt: “Ihr seid nun nicht mehr Gäste und Fremde, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen.“
Bei Friedhelm Meurer in Köln Höhenburg-Vingst scheint mir das gelungen. Das Hövi-Land, wie die Eingeweihten sagen, ist ein benachteiligter Stadtteil – arm an Einkommen, aber reich an Kindern und Familien – christlichen wie muslimischen. Darauf hat Pfarrer Meurer sich mit seiner Gemeinde eingestellt – Sie kennen ihn möglicherweise als Talkshow-Gast, wenn er eindrücklich über Armut spricht. Er kennt die Lebensläufe seiner Nachbarn – das macht sein Reden so eindrücklich. Und er besucht sie nicht nur – er hat ihnen Raum gegeben im Gemeindehaus. Raum für ein Frühstück vor der Schule, für Schulaufgabenhilfe und Winterspielplatz und natürlich auch für die Tafel, wo es zu Schuljahrsbeginn alles Notwendige gibt. Im Hövi-Land prägt die Kirche das Quartier – das sieht man im Advent, wenn christliche und muslimische Kinder zusammen die Laternen schmücken.
3. Stadtspaziergänge – zu Hause im Quartier
Die Kirche gehört zum Quartier. Manchmal müssen wir uns durchaus selbst in Erinnerung rufen, welches Sozialkapital Gemeinden mitbringen – an Räumen, aber auch an Kontakten, Netzwerken und Beziehungen. Schließlich wohnen die Kirchenvorstandsmitglieder in der Nachbarschaft – das ist anders als in St. Louis, und manche arbeiten sogar noch in der Nähe. Und auch in den Elternräten der Schulen, in den Vorständen der Vereine sitzen Kirchenmitglieder. Das ist anders als in St. Louis, der amerikanischen Gemeinde, von der ich eben erzählt habe. Dieses Potenzial gilt es zu nutzen – es gilt, das Netzwerk neu zu knüpfen. Für die Gemeinde, vor allem aber für die Menschen in der Nachbarschaft.
„Kleine Leute in der großen Stadt“ heißen die Skulpturen des Londoner Künstlers Slimcachu, die mich vor einiger Zeit sehr beeindruckt haben. Er hatte überall in der City kleine Figuren platziert – nicht größer als Playmobil-Figuren. Da rudert einer in einer Pfütze, als müsse er einer Überschwemmung entkommen. Und ein anderer wird gerade mit einer Sicherheitsnadel bedroht. Die meisten übersehen diese Alltagsdramen zu ihren Füßen – aber genau das ist ja das Problem. Dass viele Menschen sich abgehängt und übersehen fühlen. Einfach hilflos und allein. Hinsehen ist also der erste Schritt – und das geht am besten, wenn wir die Nachbarschaft einmal aus der Perspektive der anderen sehen. Eine New Yorker Journalistin hat das getan. Ein ganzes Jahr lang hat sie jede Woche einen Stadtspaziergang mit einer fremden Person gemacht. Sie war unterwegs mit einer älteren Dame mit Rollator, mit einem Architekten und mit einem zweijährigen Kind. Sie hat einen Blinden begleitet und einen Arzt, der ihren Blick für die Entgegenkommenden schärfte. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, wie sie ihre Stadt neu entdeckt.
Was können wir tun, um diese unterschiedlichen Perspektiven und die verschiedenen Bedarfe sichtbar zu machen? Hier und da gibt es inzwischen Stadtpläne, die unseren Blick öffnen: in Nürnberg zum Beispiel hat eine Kirchengemeinde einen Stadtplan für Familien herausgegeben – da findet man die Tageseinrichtungen und Spielplätze, die Kinderärzte und die kinderfreundlichen Restaurants und auch die Gemeinden mit ihren Familiengottesdiensten und Winterspielplätzen. Und in meiner ehemaligen Gemeinde in Mönchengladbach arbeiten gerade die Älteren an einem Stadtplan für Ältere – auch mit Blick auf Rollatoren und Rollstühle. Das Wohnquartier wird wieder entdeckt. Und inzwischen gibt es auch alters– und familienfreundliche Städte.
Der Bewegungsspielraum vieler Kommunen ist inzwischen gering; Sozialausgaben belasten mit bis zu 58 Prozent des gesamten Haushalts. Viele sind kaum noch in der Lage, ihre Pflichtaufgaben in ausreichendem Maße zu erfüllen – geschweige denn, den wachsenden Erwartungen nachzukommen. Günstige Wohnungen werden gebraucht, Ganztags-Kitas und Schulen, möglichst angepasste Pflegeangebote und natürlich eine alternsgerechte städtische Infrastruktur.
Wer bestimmte Zielgruppen unterstützen will – die Älteren zum Beispiel, Menschen mit Behinderung oder Familien in Armut – der muss alle Akteure an Bord holen und die Angebote verknüpfen. Runde Tische und Netzwerke sind nötig, aber auch Einrichtungen der Begegnung und Beratung. Das gelingt nur, wenn Kommunen, soziale Dienste und die Wohnungswirtschaft, aber auch Verkehrsbetriebe und Einkaufszentren, Ärzte oder Nachbarschaftscafés bereit sind, zusammen zu arbeiten und sich auch mit ehrenamtlich Engagierten zu vernetzen. Das Quartier ist der Raum, in dem neue Formen der Kooperation zwischen dem öffentlichen und dem privaten Bereich, zwischen zivilgesellschaftlichen Initiativen, Kommune, Sozialversicherungen und Trägern sozialer Dienste Antwort geben können auf die drängenden Bedürfnisse, wo aber auch neue Chancen der Teilhabe entstehen. Ein Beispiel dafür ist Wohnquartier 4 in Rheinland-Westfalen-Lippe, eine Initiative, die vor allem Ältere, aber auch Menschen mit Behinderung im Blick hat.
Aber auch solche Netzwerke brauchen ein Management. Die Erfahrung zeigt: ganz ohne Hauptamtliche, ohne einen Stundenanteil der Arbeit im Quartiersmanagement oder in einem Familienzentrum oder Mehrgenerationenhaus geht es nicht. Und auch nicht ohne Flyer, Website und Newsletter. Kirche und Diakonie, aber auch die anderen Wohlfahrtsverbände mit ihren Ressourcen, mit ihren Räumen, Haupt- und Ehrenamtlichen sind deshalb besonders gefragt.
4. Raum für das WIR
Gemeinden sind Agenturen für Gemeinschaft, schreibt Rosemarie Henel, die als AWO-Mitarbeiterin mit einer Kirchengemeinde zusammenarbeitet, sie seien ein „Circle of support“. Großeltern, deren Enkel an anderen Orten wohnen, engagieren sich als Lesepaten oder Leihomas. Gemischtkonfessionelle Familien sorgen für die ökumenische Zusammenarbeit, Eltern deren Kind eine Behinderung hat, setzen sich für die inklusive Kofi-Arbeit ein. So kommen auch Schule und Werkstatt neu in den Blick. Und angesichts des wachsenden Drucks, der in der Phase von Berufseinstieg, Karriere und Familiengründung auf den Jüngeren lastet, können die Älteren ihre Erfahrung und ihre Freiheit einbringen, um den fragilen Zusammenhalt zu stärken. Sie wohnen ja oft schon lange am Ort, sie kennen die Vereine und engagieren sich auch politisch. So werden wie zu Begleitern und Mentoren, gründen Mehrgenerationenhäuser oder leisten Nachbarschaftshilfe in Sozial- und Diakoniestationen. Mit all dem tragen sie entscheidend dazu bei, dass die Wohnquartiere wirklich lebendig und dass im wahrsten Sinne des Wortes „die Kirche im Dorf“ bleibt.
Wenn es wahr ist, dass Heimat heute mehr ist als ein Ort; wenn es um Zugehörigkeit geht, um ein Gefühl der Sicherheit, dann können unsere Gemeinden vielen zur Heimat werden. Angesichts des Ausblutens von Kommunen und des Verlustes an Gemeingütern ist Kirche wieder gefragt. Es geht darum, Räume zu schaffen, an denen Menschen unterschiedlicher Herkunft sich treffen können. Es geht darum, die Infrastruktur ganz bewusst aus der Perspektive der Betroffenen anzuschauen und Stadtlandschaften so zu gestalten, dass Raum für das „Wir“ ist. „Auch wenn wir noch auf den neuen Himmel und die neue Erde warten – lasst uns anfangen, die neue Stadt zu bauen, die Stadt von Frieden und Gerechtigkeit“, (Anthony Pilla Bischof von Cleveland, in einer Rede über die Kirche in der Stadt.)
Kürzlich habe ich einen „City-Guide für kurze Auszeiten und überraschende Begegnungen“ entdeckt. Ein spirituelles Buch. Die Autorin erinnert daran, dass wir „die Einheit und Ganzheit des Lebens nicht nur auf dem Meditationskissen erleben können, sondern auf den Straßen der Stadt“ – in der Begegnung mit Obdachlosen, beim Besuch der Wohngemeinschaft von Menschen mit und ohne Behinderung, beim Deutschkurs in der Flüchtlingsunterkunft. Sie erzählt von den spirituellen Erfahrungen eines Notarztes und von der Rückkehr der Gärten in die Stadt, von einer Kirche, die in der Woche vor Ostern zu meditativen Konzerten einlädt. Während ich das inspirierende Buch las, dachte ich zurück an die Kleinstadtgemeinde, in der ich die Menschen hinter vielen Fenstern kannte. Familien, in denen seit Jahren jemand gepflegt wurde, Kinder, die in Armut aufwuchsen, die Frau, die mit einem Sikh verheiratet war und nun den Vater und seine Familie an der Taufe beteiligen wollte; der Mann, der zum Islam konvertiert war und schon vor 30 Jahren für den ersten Islamkurs in der Kleinstadtgemeinde sorgte. Menschen aus der Nachbarschaft – nach und nach kamen sie in unserem Kirchenladen, engagierten sich für das Quartier. Das Geheimnis waren die offenen Türen – mitten in der Stadt.
Cornelia Coenen-Marx, Kiel, 23.09.2017