Werte realisieren: Was uns heilig ist, müssen wir begreifen.

In diesem Frühjahr war ich mit meinem Mann in Madrid, um die Schule „El Porvenir“ zu besuchen Der eindrucksvolle, klassizistische Bau steht an einer der großen Ausfallstraßen in einem kleinen Park. Hinter dem hohen Zaun singen die Vögel in den alten Bäumen und das ist nicht selbstverständlich in der heißen, lauten Stadt. Dieses kleine Paradies verdankt seine Gründung einem Deutschen: Fritz Fliedner, einem der Söhne des Gründers der Kaiserswerther Diakonie, wo ich arbeite. Mein Name ist Cornelia Coenen-Marx und ich wünsche Ihnen einen hellen, offenen Tag. El Porvenir heißt übrigens die Zukunft – und man könnte sich kaum einen besseren Namen für eine Schule vorstellen. Schon gar nicht für eine evangelische Schule im katholischen Spanien des 19.Jahrhunderts.

Denn als Fritz Fliedner seine Arbeit dort begann, da hatten die Söhne der evangelischen Familien praktisch keine Bildungschancen. Erst das Internat „El Porvenir“ holte sie aus den weit verstreuten Dörfern in die Stadt und sicherte ihnen den Zugang zu Ausbildung und Beruf – und der Kirche ihre Pfarrerausbildung. Natürlich gab es jede Menge Schwierigkeiten. Es war bereits ein Problem, einen Architekten zu finden, der trotz aller Schikanen eine evangelische Schule bauen wollte – er kam schließlich aus Deutschland. Die Genehmigung für die Kapelle der Schule bekam Fliedner nur mit vielen Tricks. Und auch die Prüfungen der Schüler wurden natürlich vom Staat abgenommen – mit dem Ergebnis, daß die evangelischen Schüler sich ebenso gut im katholischen Katechismus auskannten wie in ihrem eigenen. Noch in der Zeit des Bürgerkriegs war die Schule oft wochenlang geschlossen, das Schulleben illegal. Und Fritz Fliedners Enkelin, die damals mit ihrem Mann die Schule leitete, lebte ständig in Angst, ausgewiesen zu werden. Kein Wunder, daß die alte Dame bis heute ein Herz für Minderheiten hat. El Porvenir hat sich in besonderer Weise der Ausbildung und Integration von Flüchtlingskindern verschrieben. Ein Drittel der Schüler kommt aus Lateinamerika und wird aus Mitteln der Fritz- Fliedner -Stiftung gefördert.

Donna Elfriede, die Patronin, ist inzwischen weit über 😯 Jahre alt. .Aber die Liebe zu ihren Kindern hat sie sich bewahrt. Im ersten Stock der Schule, wo sie ihre Wohnung hat, kann sie Abende lang Geschichten erzählen. Und ihre Bilder, die Bücher und vor allem das Gästebuch lassen ahnen, was und wen dieses Haus schon alles gesehen hat. An unserem letzten Abend in Madrid zeigte uns die Patronin ihren kostbarsten Schatz: Eine kleine Zigarrenkiste. Eine alte Schachtel, in Zeitungspapier verpackt, damit sie keinen Schaden nahm. Von außen sah man ihr nicht an, warum die Familie sie über Jahrzehnte bewahrt hatte. Und als Elfriede sie öffnet, begriff ich noch immer nicht. Die Schachtel enthielt nichts als Asche. Feine schwarze Asche wie aus dem Ofen. „Fassen Sie nur hinein“, ermutigte mich die Patronin, und mit dem Finger entdeckte ich dann die winzigen Knochenstücke. „Märtyrerasche“, sagte Elfriede, und ich zog die schwarze Fingerkuppe aus dem Staub – und hörte die Geschichte .Als vor Jahrzehnten die U-Bahn in Madrid ausgebaut wurde, gruben sich die Bagger an San Bernardo ins Erdreich. Und aus dem Dunkel der Geschichte tauchte der alte Hinrichtungsplatz auf. Der Platz, an dem zur Zeit der Inquisition die Protestanten verbrannt worden waren. Diese schreckliche Geschichte ließ sich gar nicht verleugnen – denn man fand Schicht um Schicht: eine Schicht Lehm, eine Schicht Mätyrerasche.

Eine Handvoll von dieser Asche hatte Elfriedes Vater damals aufgehoben und in das kleine Kistchen getan. Für Elfriede ist es ein Heiligtum. Denn die Geschichte des Widerstands in Spanien reicht bis in ihre Lebenszeit. Noch bis vor kurzem kämpften die Protestanten in Spanien für Gleichberechtigung, Pluralismus und Toleranz – auch unter den Regierungen nach Franco. Und wie hoch der Preis für Gewissensfreiheit und Unabhängigkeit ist, das hat man in El Porvenir nicht vergessen. Auch wenn kein Schild an der U-Bahnstation San Bernardo daran erinnert – oder auf dem wunderbaren Plaza Mayor, dem Gerichtsplatz der Inquisition.

Offenbar brauchen wir sichtbare Zeichen für das, was unser Leben prägt und trägt. Persönliche Symbole, Erinnerungsstücke, ja auch die Sakramente der Kirche wollen Geschichten erzählen. Geschichten, von dem, was Leben ausmacht, von Freiheit und Menschenwürde. Aber es muß auch einer da sein, der sie erzählen kann wie die Patronin Elfriede. Die Zigarrenkiste mit der Asche wäre sonst längst im Abfall verschwunden. Unerkannt und mißachtet. So zerbrechlich sind unsere Werte, wenn wir sie nicht realisieren.

Die Zeitschrift „Chrismon“ zeigte vor kurzem in Fotos und Interviews, was Jugendliche stark macht. „Magische Momente“, hieß der Titel der Fotoserie „Jugendliche erzählen von Kraft und Glück.“ Da steht der 16 – jährige Arno mit seinem Feuerwehrhelm und erzählt, daß er letztes Jahr mit der Jugendfeuerwehrguppe den dritten Platz im Kreisvergleich gewonnen hatte. „Da fühlt man sich schon ein bißchen groß…“, sagt er. Und Sebastian mit dem grün-weißen Schal fühlt sich immer stark, wenn „Werder“ gewinnt. Die 14-jährige Lea hat sich von der Mutter losgerissen und sich entschlossen, zu ihrem Vater zu ziehen. Und Yasemin fühlt sich stark, wenn sie am Flughafen in Istanbul landet und heimatlichen Boden unter den Füßen hat. Sportliche Erfolge, Einsatz für Schwächere – aber auch Verwurzelung im eigenen Wertsystem und die Kraft, im richtigen Moment „nein“ zu sagen, das macht stark. Auch wenn jetzt jedem sofort die Gegengeschichten einfallen – Geschichten von Ausländerfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft, Bilder vermeintlicher Stärke auf Kosten anderer – die Interviews schildern. die glücklichen Augenblicke, in denen Werte wie Zivilcourage oder Hilfsbereitschaft konkret werden.

Was Stärke ist, versteht sich eben nicht von selbst. Es bedarf einer Verständigung über Werte. Wie schwer das ist, erzählt eine Geschichte von Philipp Roth. Sie spielt in einer nordamerikanischen Kleinstadt zur Zeit des dritten Reiches. Dorthin hatte es siebzehn jüdische Waisenkinder verschlagen, die vor dem Holocaust gerettet worden waren. Siebzehn Kinder und einen Lehrer. Sie hatten ein Haus am Stadtrand bezogen und lebten dort abgeschlossen und für sich. Die Leute sahen nur einen Gehilfen, der die Einkäufe tätigte- im langen Kaftan, mit schwarzem Hut und Schläfenlocken. Fremd und störend. So schickten sie einen angesehenen Rechtsanwalt dorthin, der mit den Flüchtlingen reden sollte: Schule konnten sie ja privat halten, aber dieser schwarze Mann sollte so nicht mehr auftreten. „Aber das ist alles, was er hat“, sagte der jüdische Lehrer. Der amerikanische Rechtsanwalt war ein anständiger Mann, er stand für das ein, was er sagte. Er ging nach Hause, packte zwei Anzüge ein und brachte sie dorthin. Aber die erwartete Dankbarkeit blieb aus. „Sie haben mich nicht verstanden“, sagte der Lehrer.“ Er hat sonst nichts. Gar nichts. Er hat keinen Vater und keine Mutter – die haben sie getötet. Er hat kein Kind – das haben sie ihm genommen. Er hat keine Freunde – die haben sie vertrieben. Er hat nicht einmal eine Torahrolle, die haben sie verbrannt. Nichts ist mehr übrig als dieser Kaftan. Das ist alles, was er hat. Das ist sein Leben.

Der amerikanische Anwalt im mittleren Westen ahnte nicht, daß an diesem alten Kaftan die Heimat hing. Der Wurzelboden. Ein ganzes Wertesystem. Hätte er wissen können, wieviel davon in den Feuern des Holocaust untergegangen war ? Konnte er ahnen, wie lebenswichtig diese Tradition ist ? Er brauchte diese Begegnung mit dem Lehrer und auch die Geschichte über das alte Kleidungsstück, um das zu begreifen. So wie ich Elfriede Fliedner mit ihrer Geschichte von der Märtyrerasche brauchte, um zu begreifen, was protestantische Freiheit ist. Toleranz und Achtung vor den Werten anderer, verstehen sich offenbar nicht von selbst. Was es bedeutet, wenn sie fehlen, wird erst greifbar an solchen Geschichten, an solchen Zeichen. Ein Kaftan, ein Kopftuch, ein Schal, ein Feuerwehrhelm, ein Kästchen Asche erzählen von dem, was Menschen wirklich etwas wert ist. So wie das Stückchen Brot beim Abendmahl vom Leben und Sterben Jesu erzählt. Daß wir es mit Händen greifen, brechen und auch schmecken können, ist lebenswichtig. Auf diese Weise realisieren wir, was unser Leben trägt und prägt. Die meisten Menschen bewahren die handgreifliche Erinnerung daran ihr Leben lang auf. Bei vielen Besuchen, nicht nur bei Donna Elfriede, habe ich schon wunderbare Geschichten gehört.

Für die jüdische Philosophin Hanna Arendt, die selbst aus Deutschland fliehen mußte, war das Ziel aller Wertebildung, daß wir nicht weltlos umherirren, sondern für die Dauer unserer Anwesenheit einen verläßlichen Ort in der Welt finden. Gelingen kann das nur, wenn wir spüren, was uns heilig ist, und achten, was anderen heilig ist. Das gibt uns Boden unter den Füßen, das macht uns stark. Ich wünsche Ihnen, daß Sie heute Zeit finden, die Dinge, die Ihnen heilig sind, wieder einmal in die Hand zu nehmen. Vielleicht erzählen Sie einem anderen von den magischen Momenten in ihrem Leben. In diesem Sinne wünscht Ihnen einen schönen Sonntag Ihre Cornelia Coenen-Marx