Gerechtigkeit und Beteiligung: Impulse der Reformation für unseren Sozialstaat

1. Sharehouse und Straßenküche – die himmlische Werkstatt

Kennen Sie Alex Assali, den „Flüchtling, der auch Obdachlose bekocht“? Er hat tausende Klicks auf Facebook. Alex kommt aus Syrien. Er ist 2014 an der italienischen Küste gelandet. Nach seiner langen Odyssee hatte er letztes Jahr das Glück, ein Zimmer im Sharehouse in Berlin zu finden. In dem schönen, hundertjährigen Haus in Neukölln leben und arbeiten Menschen aus aller Welt zusammen, die ihre Heimat verloren haben oder verlassen mussten, oder die nach neuem Leben in Gemeinschaft suchen. Sie kommen aus Syrien, Somalia, England und Deutschland, aus Schweden, Afghanistan oder der Türkei. Das Sharehouse ist kein Flüchtlingslager und kein Heim, sondern eine Wohn- und Arbeitsgemeinschaft auf Zeit.

„Wir helfen nicht, wir unterstützen einander auf Augenhöhe, denn keiner ist besser als der oder die andere, und nur im Teilen sind wir wirklich reich.“ Das ist der Sharehausgedanke, das Leitbild. In diesem Sinne kann ein Sharehaus überall sein, wo Menschen mit Respekt und Neugier aufeinander zusammenkommen. Auch hier in Wildeshausen. Dabei geht es nicht nur um die Integration von Geflüchteten, es geht um einen neuen Lebensstil.

Dass Alex Assali im Sharehouse von Anfang an dazu gehörte, das hat ihn einfach glücklich gemacht – und von diesem Glück wollte er etwas weitergeben. So entschied er sich, eine Straßenküche aufzumachen. Er kochte Suppen und Eintöpfe, packte die Töpfe auf sein Fahrrad und installierte eine Warmhalteplatte auf den Straßen Berlins. Und dann schöpfte er aus – an Flüchtlinge und Obdachlose und einfach an jeden, der probieren wollte. Kochen und zusammen essen wärmt das Herz – nicht nur die Speisen. Wir wissen das von Tafeln und Mittagstischen und auch vom Schulfrühstück.

„Das Sharehaus ist ein Garten, in dem deine einzigartigen Talente und Träume aufblühen können, es ist eine Gemeinschaft, in der alle gleich wichtig sind, und es ist eine Werkstatt für himmlische Gesellschaft“; kann man auf der Berliner Homepage lesen. „Eine Werkstatt für himmlische Gesellschaft“ – was für ein Bild! Ein Gegenbild zu der irdischen, die wir kennen.

„Solange Deutsche zur Tafel gehen müssen, haben Flüchtlinge da nichts zu suchen“; sagte kürzlich ein erzürnter Tafelbesucher im Ruhrgebiet. Und das ist leider keine Einzelmeinung. Immer wieder haben sich im letzten Jahr die Träger und Mitarbeiter von Tafeln, die Wohlfahrtsverbände und auch die Presse mit dem verbreiteten Gefühl der Ungerechtigkeit auseinander setzen müssen. Dabei geht es ganz offensichtlich um eine doppelte Benachteiligungserfahrung: Es geht um den eigenen gesellschaftlichen Abstieg und mangelnde Verteilungsgerechtigkeit im Sozialstaat, zugleich aber auch um die Sorge, angesichts neuer, globaler Herausforderungen und zunehmender Arbeitsmigration nun erst recht zu kurz zu kommen. Diese Angst bestimmt inzwischen auch Wahlen – nicht nur in den USA. Ausgrenzungserfahrungen können Hartz-IV-Empfänger und Geflüchtete verbinden – meist aber spalten sie: Die Angst vor Verlusten lässt die einen gegenüber den anderen auf älteren Rechten beharren. „Die pluralistische Gesellschaft ist in Gefahr, eine fragmentierte Gesellschaft zu werden“, konstatierte Udo di Fabio schon 2012. Die sogenannte Flüchtlingskrise hat die Risse im Gemäuer, die sich länger schon abzeichneten, nun für alle erkennbar gemacht.

 

2. Tafeln und Suppenküchen – zurück ins 19. Jahrhundert?

Viele haben es als zynisch empfunden, dass in der Finanzkrise 2008/9 erhebliche Steuermittel aufgebracht wurden, um die außer Kontrolle geratenen Finanzmärkte zu stabilisieren, während man die Empfänger von Transferleistungen schon seit den Hartz-Reformen zu Eigenverantwortung und Eigenvorsorge aufrief. Das ökonomische und soziale Gefälle zwischen Nord- und Südeuropa, das in der „Griechenland-Krise“ sichtbar wurde, hat zudem deutlich gemacht, wie sich die wirtschaftliche Entwicklung in der Eurozone von der Sozialstaatsentwicklung abgekoppelt hat. Unter dem Druck der Globalisierung gelten hohe Sozialkosten inzwischen als Standortnachteil, Arbeit wird in Niedriglohnländer verlagert und Standorte, an denen Konzerne wenig oder gar keine Steuern zahlen müssen, gelten als besonders attraktiv. Die Spaltung wächst zwischen den Globalisierungsverlierern, die die eigene soziale Sicherheit erodieren sehen, und den „beati possidentes“, wie Ulrich Huster sie nennt, den Glücklichen, die es sich leisten können, auf Privatisierung zu setzen. Und dabei geht es nicht nur um persönliche Interessen – auch politische Bruchlinien werden erkennbar. Die politische Landschaft formiert sich neu. Und ein entscheidender Faktor ist die Frage, wieviel Ungleichheit wir ertragen und mit welchen Konzepten wir für sozialen Zusammenhalt sorgen.

Die Tafeln standen von Beginn an im Fokus einer politischen Debatte. Ja, sie wurden für viele zum Symbol. Kritiker sehen darin eine Rückkehr zu den „Suppenküchen“ des 19. Jahrhunderts. Damals, in der Industrialisierung und der damit verbundenen Verstädterung verarmten ganze Bevölkerungsschichten. Familien und Gemeinden waren überfordert. Und die Zahl der verwahrlosten Kinder und der allein gelassenen Kranken wuchs. Kirche und Diakonie ergriffen die Initiative, sie schufen Genossenschaften und Vereine, Armenküchen und Pflegeheime. Rettungshäuser für Jugendliche und Arbeiterkolonien wurden gegründet. In wenigen Jahrzehnten wuchs eine große Bürgerbewegung. Aber es dauerte bis zum Ende des Jahrhunderts, bis unter Bismarck auch soziale Rechte verankert wurden. Suppenküchen und Wohltaten genügten der Arbeiterbewegung nicht – sie kämpfte um Teilhabe und Verteilung. Um Gerechtigkeit.

Im Streit um die Tafeln geht es genau um diese Frage – es geht um das Verhältnis von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, von Wohlfahrt und Politik. Denn genau wie damals erleben wir eine große Transformation. Veränderungsprozesse in der Weltwirtschaft, die mit Migration und neuen sozialen Ungleichheiten verbunden sind. Und tatsächlich ist in den letzten Jahren die Zahl der Tafeln in Deutschland erheblich gestiegen. Nicht wenige vermuten dahinter ein erfolgreiches „Geschäftsmodell“, das Lebensmittelmärkte, Restaurantketten und caritative Initiativen verbindet und zudem dafür sorgt, dass überschüssige Lebensmittel nicht vernichtet werden müssen. Aus der Bürgerbewegung ist eine Branche der sozialen Arbeit geworden – mit Tafelläden und Second-Hand-Laden, mit Berechtigungsscheinen, Kochkursen und der Möglichkeit, sich vom „Kunden“ zum Teamer hin zu entwickeln. Gerade darin sehen die Verteidiger eine große Chance: Im Umfeld der Tafeln erhalten manche die Möglichkeit, ihr Leben neu zu ordnen und einen Job zu finden, um noch einmal neu zu starten.

Gleichwohl geht es vielen der freiwillig Engagierten zuerst einmal um Barmherzigkeit. Die Not von Menschen ohne Obdach und Heimat, von Familien in Armut, geht zu Herzen. Dem anderen eine warme Suppe oder einen Schlafsack zur Verfügung zu stellen, heißt zuallererst, das Gegenüber so anzusehen, als wäre es jemand aus der eigenen Familie. Es bedeutet, im „anderen“ „einen von uns“ zu sehen. Das ist doch die Voraussetzung für alle Solidarität.

Die Amerikanerin Veronika Scott hat einen Mantelschlafsack designt – ein schickes Produkt. Als Mantel gibt er denen, die ihn tragen, Wärme und auch ein Stück Würde. Als Schlafsack ist er wasserdicht. Und im Sommer lässt er sich zu einer Umhängetasche zusammenfalten. 100 Dollar kostet das gute Stück – die werden durch Spenden finanziert. Inzwischen konnten 15.000 Mäntel hergestellt werden. Und mit der Produktion gibt Veronica Scott wohnungslosen Frauen Jobs, damit sie sich eine Wohnung mieten und ihre Kinder wieder zur Schule schicken können. Denn sie weiß, wie es sich anfühlt, kein Zuhause zu haben. Sie lebte selbst eine Zeitlang mit ihrer Mutter auf der Straße. Das kann schnell gehen, wenn man seinen Job verliert. Zumal in einem Land, in dem das Sozialsystem nicht so ausgebaut ist wie bei uns.

 

3. Brot und Arbeit – Impulse der Reformation

Es ist alles andere als selbstverständlich, dass wir unseren Blick „nach unten“ richten, auf die, die abgestürzt sind oder nie eine Chance bekommen haben. Mit dem „Jahr der Barmherzigkeit“ hat Papst Franziskus 2016 dazu angeregt, genau hinzuschauen – und er selbst nutzt seine herausgehobene Position, um die Kameras der Welt auf die Unsichtbaren zu lenken: die Geflüchteten auf Lampedusa, die Obdachlosen am Vatikan. Barmherzigkeit gibt der Menschenwürde ein Gesicht, aber ohne Gerechtigkeit bleibt sie auf halbem Weg stehen. Die Debatte um die Heiligsprechung von Mutter Theresa zeigt, worum es geht: Es genügt nicht, die Haltung und die demütige Arbeit der Barmherzigen Schwestern in den Mittelpunkt zu rücken, sagen die Kritiker. Letztlich muss das Sozial- und Gesundheitssystem in Indien weiter ausgebaut werden.

2017 nun ist das Jahr der Reformation. Das lenkt unseren Blick in die Zeit, als diese Debatten nicht nur politisch, sondern auch theologisch geführt wurden. Auch die frühe Neuzeit war eine Zeit der großen Transformation. Das Aufkommen des globalen Handels nach der Entdeckung Amerikas und die Entwicklung des Bankenwesens führten zu erheblichen ökonomischen Umbrüchen. Der Paradigmenwechsel von der Naturalien- zur Geldwirtschaft wirkte sich für die Landbevölkerung dramatisch aus. Und der Preisverfall einheimischer Erze entzog den Bergleuten die Existenzgrundlage. Die Verelendung betraf also nicht nur die bekannten Randgruppen wie Arme, Alte oder Kranke, sondern auch die Angehörigen geachteter Stände und Berufsgruppen wie Bauern, Bergleute oder Handwerker. Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, die plötzlich zu den Randgruppen gehörten. Die Auflösung der Ständegesellschaft im Frühkapitalismus erforderte eine neue Ethik gesellschaftlicher Verantwortung, die auch die Bedürfnisse der Verlierer sicherte. Denn auf der einen Seite drohten Aufstände, auf der anderen ließ die Spendenfreude der Wohlhabenderen nach – auch deshalb, weil man sich nicht mehr sicher war, ob die Gabe für die Armen oder für die Kirche das eigene Seelenheil sichern würde. Nur der Glaube macht gerecht, sagt Luther – und stellte damit das ganze System in Frage: die milden Gaben wie den Ablasshandel.

Wie sollte es weitergehen? „Feed the poor, get saved“ – das war über Jahrhunderte die Antwort der Kirche auf Ungleichheit gewesen. „Gebt den Armen zu essen und es wird Euch auch selbst gut gehen“. Man muss gar nicht an das ewige Leben glauben, um zu wissen, dass es uns wirklich gut tut, anderen helfen zu können. Vorgestern Abend konnte man im Auslandsjournal sehen, wie sich in Frankreich ein Hilfeprojekt unter dem Label „Le Grand Efi“ ausbreitet. Menschen aus den Banlieus kochen für Flüchtlinge und verteilen Mahlzeiten – ganz ähnlich wie Alex Assali in Berlin. Mehr als 50 Orte machen schon mit und es war wunderbar zu sehen, wie die Helfer strahlten. Leute, die selbst wissen, was es heißt, diskriminiert zu werden, konnten andere vor Hunger und Kälte retten. „Feed the poor, get saved“ – das ist auch bis heute eine Antwort – nicht nur bei den Barmherzigen Schwestern.. Auch die Bettler vor den Kirchentüren in Russland oder in Osteuropa verlassen sich darauf, dass die Gläubigen so denken.

Damals aber, in der Transformation der frühen Neuzeit, erschütterten Armut und Ungleichheit die ganze Gesellschaft. So wie in der Industrialisierung – und wie heute im Nahen Osten und in Teilen Afrikas. Und der gesellschaftliche Umbruch forderte die Kirchen ganz grundlegend heraus. Familie, Arbeit, Bildung – und auch Orden und Priesterschaft mussten neu bedacht werden. Und eben auch Armut, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. Es war die Sozialethikerin Sigrun Kahl (2009), die die katholische Antwort unter dem Schlagwort „Feed the poor, get saved“ zusammengefasst hat, um ihr die lutherische gegenüber zu stellen: „Bread first, work second“. Das Lebensnotwendige zuerst: Nahrung und Kleidung, ein Dach über dem Kopf – die Hungrigen sollen satt werden. Aber dann brauchen sie Arbeit, um den eigenen Unterhalt zu bestreiten. „Bread first, work second“.

Das „erste Sozialpapier der Welt“ (Eichel 2015) wurde von Luther selbst entwickelt. Es ist die „Leisniger Kastenordnung“ von 1523. Sie wurde zum Symbol für den Paradigmenwechsel von der Barmherzigkeit zur solidarischen Sicherung. Ja, der Kasten bekommt dabei eine neue Bedeutung. In manchen Kirchen gibt es sie ja noch, die großen Kollektenkästen, in denen für die Armen gesammelt wird. Kein Körbchen, kein Klingelbeutel, sondern ein Tresor aus Eisen oder aus Bronze gleich neben der Kirchentür. Manche empfanden die Gabe für die Armen als eine Art Eintrittsgeld in die Gemeinschaft. Damals aber, in der Reformationszeit, genügten die milden Gaben nicht mehr. Um das untere Drittel der Gesellschaft abzusichern, brauchte es mehr.

Noch war die Frage offen, was aus dem Besitz der aufgelösten Klöster und der frommen Stiftungen werden sollte. So kam Luther auf den Gedanken, dass die Kirche der Reformation Kirchenvermögen gemeinnützig einsetzen sollte. Der Kasten wurde zum Sozialetat. Im Haushalt der Stadt Leisnig führte er religiöse und weltliche Verantwortung zusammen. Und löste damit gleich drei Probleme, wie Christine Eichel in ihrem Buch „Deutschland, Lutherland“ schreibt: „Die prekäre Lage der Ärmsten, die nachlassende Spendenfreude und die gerechte Verteilung ehemals papstkirchlicher Besitztümer“. Zu den Einnahmen der Stadt zählten nun die Einkünfte aus Zinsen und die Abgaben der Dörfer genauso wie das Vermögen der Pfarrgemeinden – und zu den Ausgaben die Hilfe für Waisenkinder, Arme, Alte und bedürftige Fremde aber auch die Investitionen in Infrastruktur. Die umlagefinanzierte Kastenordnung von Leisnig ist die Wurzel einer staatlichen Solidargemeinschaft, in der die Bedürftigen eben nicht mehr Bettler, sondern unterstützungsberechtigte Mitbürger sind. Und nicht mehr die Kirche verteilte jetzt die Mittel, sondern die Vertreter der unterschiedlichen Stände. Und dabei erwartete die Solidargemeinschaft auch eine Gegenleistung: dass nämlich jeder, der Hilfe und Zuwendung bekam, sich in dem Maße selbst für andere einbrachte, wie er dazu in der Lage war. „Bread first, work second.“ Auf dieser Linie liegen bis heute die Sozialstaaten lutherischer Prägung – nicht nur in Deutschland, sondern auch und gerade in Skandinavien. Sie basieren auf Verteilungsgerechtigkeit und nicht zuletzt auf einem guten Zusammenwirken von Staat und Kirche. Gerhard Wegner vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD hat von einer Art lutherischem Sozialismus gesprochen.

 

4. Gerechte Teilhabe – was jetzt gefragt ist

Wie wir Gerechtigkeit heute verstehen, das hat die EKD unter dem Schlagwort „Gerechte Teilhabe“ programmatisch zusammengefasst. So lautet auch der Titel einer Denkschrift von 2006, in der es um Wege aus der Armut geht. „Teilhabegerechtigkeit“ will zwei Ziele, die häufig gegeneinander ausgespielt werden, in Einklang bringen: die Verteilungsgerechtigkeit, die in Deutschland eng mit den solidarischen Sicherungssystemen verbunden ist, und die Befähigungsgerechtigkeit, für die eine Stärkung der Eigenverantwortung zentral ist. Es geht um eine möglichst umfassende Integration aller Mitglieder der Gesellschaft über die Eröffnung von Zugängen zu Bildung, Gesundheitssystem, Arbeits- und Wohnungsmarkt. Quartiersentwicklung und Nachbarschaftsprojekte, Integration in Bildung und Arbeit sind wesentliche Schritte zur Teilhabe.

Damit wird auch die Tradition der Inneren Mission aufgenommen. Denn auch im 19. Jahrhundert standen Bildung, Arbeit und Gesundheitsversorgung im Zentrum der diakonischen Unternehmungen. Schon die Reformation hatte die allgemeine Schulpflicht eingeführt. Und die Gründung von Schulen blieb kennzeichnend für den Protestantismus von August-Hermann Francke in Halle bis zu Johann Hinrich Wichern in Hamburg. Im 19. Jahrhundert entstanden nun auch neue soziale Berufe Diakonissen und Diakone, Erzieherinnen und Krankenpflegerinnen sollten nicht nur den Vernachlässigten dienen, sondern auch das Engagement in den Gemeinden stärken.

Einen Beruf haben, die eigene Berufung leben, das war ein wesentlicher Eckpfeiler der Reformation. Das allgemeine Priestertum der Getauften war ja nicht nur für den Sonntag gedacht, sondern vor allem für den Alltag. Der Hamburger Johann Hinrich Wichern sprach deshalb auch vom allgemeinen Diakonentum. Nicht nur die Kirchen und die Städte sollten sich für den sozialen Zusammenhalt verantwortlich fühlen, sondern jeder Einzelne, ganz unabhängig von seinem Stand.

Heute ist dieses Engagement erneut gefragt. Denn es geht um eine neue Balance von Sozialstaat und Zivilgesellschaft. Einerseits brauchen wir eine Weiterentwicklung der solidarischen Sicherung und eine Neudefinition sozialer Rechte – möglichst auf europäischer Ebene. Denn heute wird die Wäsche deutscher Krankenhäuser in Polen gewaschen, während deutsche Familien osteuropäische Pflegekräfte nutzen, weil sie sich die Preise der sozialen Dienstleistungen in Deutschland nicht leisten können oder wollen. In Europa geht es um die Frage, wie Arbeitnehmerfreizügigkeit und Sozialleistungen in einen Ausgleich gebracht werden können. Nicht nur der Brexit, das Erstarken rechter Bewegungen zeigen, in welchem Maße das Gefühl der sozialen Sicherheit angeschlagen ist – zuletzt durch die Erfahrungen der sogenannten Flüchtlingskrise. „Bread first, second work“ ist auf überraschende Weise aktuell – an den Tafeln wie in den Flüchtlingscamps: Arbeit ist der wichtigste Faktor zur Integration.

 

5. Sorgende Gemeinschaften

„Work for your own bread“ – so fasst Sigurd Kahl die reformierte Tradition zusammen. Denn die Reformation hat ja zwei große Linien. Neben Luther, der dieses Jahr im Mittelpunkt steht, haben Johannes Calvin und Huldrych Zwingli nicht nur in Genf und Zürich ihre Spuren hinterlassen. „Work for your own bread“ – das klingt in unseren Ohren eher neoliberal, nach Eigenverantwortung und Nachbarschaftshilfe. Staaten in der reformierten Tradition sind bis heute eher zivilgesellschaftlich geprägt – wie die Schweiz, die Niederlande oder die USA. Dort finden sich starke Modelle eines solidarischen Miteinanders vor Ort. Aus Zwinglis Sicht war es aber durchaus Aufgabe der christlichen Gemeinde, sich an der Ausgestaltung von Gerechtigkeit in der Kommune zu beteiligen. Bei zentralen Themen wie Armenversorgung, der Einrichtung von Schulen oder bei der Flüchtlingspolitik sollten die Pfarrer Rede- und Beratungsrecht im Rat der Stadt haben (Opitz 2014). Und es war klar: wo Arbeit so im Zentrum steht, muss es auch Arbeitsplätze geben.

Wie kann die Kirche heute in einer pluralistischen und fragmentierten Gesellschaft, für soziale Rechte und Zusammenhalt eintreten? Tatsächlich haben sich die Bedingungen sozialstaatlichen Handelns gravierend verändert. Dabei geht es nicht nur um Globalisierung und Migration, um Flüchtlinge und die Angst vor dem sozialen Abstieg. Auch Geschlechterrollen und Familien sehen anders aus. Die Frage nach der Gendergerechtigkeit hat zu einer neuen Debatte über die Balance von Erwerbsarbeit und Fürsorge geführt. Und schließlich stellt der demografische Wandel eine erhebliche Herausforderung dar. Rente und Pflege stehen auf dem Prüfstand. Und wieder geht es um Teilhabe – um die Grundsicherung von Kindern, die neue Altersarmut. Und schließlich um eine Neuaufstellung der Pflege – mit professioneller Arbeit, Familienarbeit und Nachbarschaftshilfe. Luthers Modell des „ Berufs“ der Hausfrau in der Großfamilie ist längst Geschichte. Heute heißt das Schlagwort „Sorgende Gemeinschaften“.

Die „Caring Community“ ist zu einem internationalen Leitbegriff geworden, um auf regionaler und lokaler Ebene Verantwortungsstrukturen neu zu beleben und zu gestalten. Das Berliner Sharehouse, die Generationenhäuser und Quartiershäuser sind ein gute Beispiele für die Haltung, die dahinter steht. Es geht um ein neues Miteinander über Lebensalter oder Herkunft hinweg. Um Begegnungen auf Augenhöhe, wechselseitige Unterstützung und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Nicht nur Kommunen, auch Kirchengemeinden sind gefragt. Calvin und Zwingli haben übrigens die Abendmahlsgemeinschaft zum Symbol der Teilhabe gemacht: Wer miteinander das Brot bricht, soll auch die Sorgen teilen.

Im Sorgenbarometer[1] der Bürgerinnen und Bürger steht die Frage nach der Versorgung im Alter oben. Bei den Jüngeren nimmt das Vertrauen in die Stabilität und Nachhaltigkeit der Sozialen Sicherungssysteme ab. Die Fragen der Generationensolidarität, die Zukunft der Pflege und die Sorge um ein Sterben in Würde stehen ganz oben auf der politischen Agenda. Nicht zuletzt deshalb nehmen auch der jüngste Altenbericht und der Ehrenamtsbericht das Thema „Sorgende Gemeinschaften“ auf. Und tatsächlich engagieren sich Millionen von Älteren ehrenamtlich in Nachbarschaften und Gemeinden. Mit Telefon- und Serviceketten in der eigenen Generation, mit Besuchsdiensten bis hin zur Hilfe bei der Pflege. In Mehrgenerationenhäusern und Stadtteilcafés, in Quartiersprojekten und bei Tafeln oder zuletzt in Willkommensgruppen für Flüchtlinge.

Aber gerade die Flüchtlingskrise hat auch gezeigt, wie problematisch die Ausdünnung von Sozialverwaltungen und Polizeidienststellen sind. Ehrenamtlich Engagierte übernahmen die Koordination von Flüchtlingsunterkünften, weil Stadtverwaltungen personell überfordert waren. Dabei wurde wieder klar, was schon vergessen schien: Bürgerschaftliches Engagement ist auf staatliche Strukturen angewiesen, Ehrenamt auf Hauptamt. Sorgende Gemeinschaften brauchen Sorgestrukturen. Die wechselseitige Sorge darf nicht romantisiert werden. Wenn der Staat sich seiner Verantwortung entzieht, droht Deprofessionalisierung. Kirche und Diakonie stehen für ein gutes Miteinander von beiden: von Haupt- und Ehrenamt, von Nachbarschaftshilfe und Professionalität.

Und damit haben wir eine lange Tradition – nicht erst seit dem 19. Jahrhundert, sondern seit der Reformation. Die verschiedenen Traditionen der Reformation mit ihren Stärken und Schwächen sind ein Schatz für die Debatten, die wir heute führen. Denn letztlich geht es in den aktuellen Transformationsprozessen darum, die unterschiedlichen Entwicklungspfade und sozialstaatlichen Traditionen aufzunehmen und neu zu gestalten:

  • „Feed the poor, get saved“ hieß es über Jahrhunderte. Und ja es tut gut, für andere zu sorgen. Engagement macht stark. Auch die, die gestern noch auf Hilfe angewiesen waren. So wie Alex Assali.
  • „Work for your own bread“ – das reformierte Motto – ist mehr als ein neoliberaler Spruch. Arbeit bleibt ein zentraler Integrationsfaktor. Auch für Migranten oder Menschen mit Behinderung. Und trotzdem gibt es Hilfebedarf. Darum brauchen wir einen sozialen Staat und eine engagierte Kirche.
  • Der Einsatz für die Armen, für Sterbende und für Flüchtlinge zählt dabei nach wie vor zu unseren Kernaufgaben. „Bread first, second work“. Ich meine: Das lutherische Motto bleibt auf überraschende Weise aktuell.

Mit der himmlischen Werkstatt, dem Sharehouse in Berlin, habe ich angefangen. Für das begonnene Jahr wünsche ich Ihnen, dass auch diese Kirche und dieser Ort eine solche Werkstatt werden. Ganz nach dem Sharehouse–Motto: „Jeder Mensch ist einzigartig und kostbar, darum fördern wir uns gegenseitig in unseren Fähigkeiten und Talenten. Wir helfen nicht, wir unterstützen einander auf Augenhöhe, denn keiner ist besser als der oder die andere, und nur im Teilen sind wir wirklich reich.“

 

Cornelia Coenen-Marx

Neujahrsempfang des Diakonischen Werkes Delmenhorst/Oldenburg-Land am 27.01.2017

 

Literaturangaben:
Ernst-Ulric Huster: „Soziale Kälte- Rückkehr zum Wolfsrudel?“, Stuttgart 2016
Sigrun Kahl, Religion as a Cultural Force: Social Doctrines and Poor Relief Traditions, in: Kees von Kersbergen, Philip Manow: Rligion, Class Coalitions and Welfare States, Cambridge 2009, S. 266 – 294
Philip Manow, Religion und Sozialstaat. Die konfessionellen Grundlagen europäischer Wohlfahrtsstaatregime, Frankfurt 2008
Christine Eichel, Deutschland, Lutherland, Warum uns die Reformation bis heute prägt, München 2015, S. 183
Peter Opitz, Der spezifische Beitrag der Schweizer Reformation, in; Petra Bosse-Huber, Serge Fornerod u.a.; 500 Jahre Reformation, Bedeutung und Herausforderungen, Zürich 2014
[1] Schneyink, Doris (2012): stern-Sorgenbarometer Die Rückkehr der „German Angst“. Online im Internet: URL: http://www.stern.de/politik/deutschland/stern-sorgenbarometer-die-rueckkehr-der-german-angst-1907249.html [Stand 21.07.2014].