Spiritualität in der Unternehmensführung

1. Dienet dem Herrn mit Freuden – Gefühl für strategische Köpfe
Über der Eingangspforte des Kaiserswerther Mutterhauses, in dem ich lange ein und ausging, steht: „Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen“:Das war das Lieblingsbibelwort des Gründers Theodor Fliedner, der seine ganze Energie darein setzte, aus der kleinen Gründung ein weltweites Werk zu machen. Das Zitat wird Johannes dem Täufer zugeschrieben, dessen ganzes Leben ein Fingerzeig auf Jesus sein sollte – Sie kennen sicher den überdimensionalen Zeigefinger im Isenheimer Altar von Matthias Grünewald. Viele der alten Schwestern, die wesentlich zu Wachstum und Ausbreitung der Kaiserswerther Diakonie beigetragen haben, lasen das Wort nicht ohne Bitterkeit – zu viel Opfer, zu viel Verzicht. Die Hotelgäste, die in dem umgebauten Haus buchten, verstanden längt nicht mehr, was gemeint war mit Wachsen und Abnehmen, mit „Er“ und „Ich“.

Fast jede Mutterhauspforte erzählt von Geschichte und Selbstverständnis eines diakonischen Unternehmens. Über der Eingangspforte in Magdeburg, wo ich Mitglied des Kuratoriums bin, steht „Dienet dem Herrn mit Freuden“. Das ist, wie ich finde, leichter zu verstehen, und es ist existentieller. Weil ich gute Erfahrungen damit gemacht habe, die Tradition zu befragen, habe ich mir kürzlich erlaubt, einen Mitarbeiter aus dem Krankenhausmanagement zu fragen, ob er irgendeinem Bezug zu diesem Wort hätte – oder zu der diakonischen Tradition, die darin sichtbar wird. So wie er mich anschaute, war ich nicht ganz sicher, ob ich einen Tabubruch begangen hatte oder ob hier einfach zwei Welten aufeinander prallten. Jedenfalls war die Frage eine Zumutung – zu existentiell vielleicht, zu religiös, weit weg von seinem Alltag. Eine Antwort kam dann aber doch: Zuerst einmal müsste die finanzielle Situation stabil sein, meinte er, dann könnten wir über die diakonische Dimension sprechen.

Angesichts der sozialwirtschaftlichen Großwetterlage ist Spiritualität in der Unternehmensführung für viele ein „at on“. Umstrukturierungen, Übernahmen und Fusionen prägen das Bild. Im Wettbewerb mit den großen Tankern empfinden sich kleinere Träger unter Druck. Eigene Gesellschaften mit niedrigeren Tarifen wurden ausgegliedert. Die Zahl der Zeit- und Teilzeitkräfte steigt. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erleben eine kaum noch für möglich gehaltene Arbeitsverdichtung und ein bisher nicht gekanntes Maß an Veränderungsdruck. Und die Erwartungen an die Führungskräfte wachsen mit: Budgets einhalten, Ziele setzen, Veränderung gestalten- und nun auch noch diakonische Kultur oder gar Spiritualität leben?

„Dienet dem Herrn mit Freuden“? Ich war begeistert, in ihrer Evaluation zu sehen, dass 85 % der Auszubildenden in der Altenpflege den Beruf ergriffen haben, weil sie Freude am Umgang mit Menschen haben. Aber immerhin jede und jeder Zehnte hat schon in den ersten zwei bis drei Jahren Zweifel bekommen, ob das die richtige Berufswahl war. Der Wettbewerb um gute Qualität bei knappen Ressourcen ist mit Stress verbunden. Freude ist dann allenfalls die Freude am Erfolg. Zum. Wettbewerb gehören Leistung und Erfolgsorientierung; zur Freude Überraschung und Dankbarkeit, das Gefühl, beschenkt zu werden. Denken Sie an Ihr Kindergefühl zu Weihnachten: wenn das Warten ein Ende hat und alle Anspannung abfällt. Matthias Claudius verdichtet das so; „ Ich bin vergnügt und freue mich wie’s Kind zur Weihnachtsgabe, dass ich bin – bin (!) –  und dass ich Dich schön menschlich Antlitz habe… Gott gebe mir nur jeden Tag so viel ich darf zum Leben; er gibt’s dem Sperling auf dem Dach, wie sollt er’s mir nicht geben?“  Freude öffnet alle Tore. Wer lachen kann, der öffnet sich für die Welt, wer lächelt, schenkt auch anderen Lebensmut.

Ein solche positive, zugewandte Atmosphäre erhoffen sich viele, wenn sie in ein Haus kommen, das von der Diakonie geführt wird: Wer krank oder in einer Krise ist, wer einen Angehörigen in ein Heim bringt, wünscht sich Menschen, die trotz allem Ja zum Leben sagen, die Krisen und Niederlagen nicht fürchten, die auch in Ängsten zuversichtlich bleiben. Hier erhofft man sich Teams, die sensibel geblieben sind für das Leiden, und eine spirituelle Präsenz, die das Leben in seinen Widersprüchen aushält. Manche werden enttäuscht; wenn sie stattdessen erleben, was der Stern kürzlich die „ Helferindustrie“ nannte:  Professionelle Teams, die auf wirtschaftlichen Erfolg ausgerichtet sind – in Diakonie und Caritas wie im Roten Kreuzes oder der AWO.

Aber auch viele Mitarbeitende erwarten, dass die Leitungskräfte neben all ihrer Professionalität noch eine etwas anderes verkörpern –eine Leidenschaft für die Menschen, eine Freude am Leben, die auch in Misserfolgen und Niederlagen nicht abtaucht. Sie suchen Menschen , die sich der Spannung zwischen Auftrag und Lebenswirklichkeit bewusst bleiben, ohne das eine zu verdrängen oder das andere zu verstecken. Menschen, die fröhlich mit dem Unvollkommenen umgehen können. Das ist schwer. Und vielleicht doch nur mit einer gewissen Leichtigkeit zu leben. „ Dienet dem Herrn mit Freuden“ – ja, vielleicht nur so.

Ich habe mir überlegt, woran ich mich in meiner Kaiserswerther Zeit von Herzen gefreut habe – vielleicht tun Sie das für Ihren Alltag auch: Ich dachte an das Eichhörnchen, das in der alten Libanonzeder vor meinem Büro lebte. An die Eröffnung des Bistros im Alten Waschhaus, in dem geistig behinderte Mitarbeiter Suppe verkauften. Die Hebammen fielen mir ein, die mir zum Abschied ein „Moseskörbchen“ geschenkt haben – als Dank für den Palliative-Care- und Ethik-Prozess. Die Jugendmitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in ihrem Leitbildprozess plötzlich entdeckten, dass der Spaß im Leitbild fehlte. Die Magnolienblüte im Mai vor dem Mutterhaus Und die Schreiner, die die Lade mit Kerzen und Kreuz für die Hospizbegleitung hergestellt hatten. Die japanischen Schülerinnen, die der Florence Nigthingale- Büste eine Blumenkette umhängten. Das Juchzen der schwermehrfachbehinderten Nachbarn auf der Vogelnestschaukel. Ein Adventsgottesdienst, bei dem die Wünsche und Träume an Luftballons an die Kirchendecke schwebten.. Immer und immer wieder das Gefühl, nicht allein zu sein – sondern mitten im Stress mit anderen an einem Strang zu ziehen, in einer Kette zu stehen, Leben zu spüren. Freude ist wie ein Trampolin, der uns wieder aufrichtet, wenn wir am Boden sind.

Was  uns überwältigt und staunen lässt, was uns anrührt, weil es uns ganz nah zum Ursprung und Sinn unserer Arbeit führt – die Lebensfreude beim Anblick einer Geburt, die Transzendenzerfahrung an einem Sterbebett – das hat eine religiöse Dimension. Unsere Freude, aber auch unsere Klage sind in der Tiefe Gebet. Mancher kann sich nicht freuen- viele könnten schreien vor Wut über Ungerechtigkeit und Unrecht. Eine Schwester in Hamburg sagte mir neulich, sie spüre es an Ihrer Wut, wenn die diakonische Identität berührt sei. Und kann es kaum noch ertragen, wenn auch die Träger in Diakonie und Caritas von menschlichen Lebensprozessen in wirtschaftlicher Sprache sprechen: wenn wir „Patienten durchschleusen“, „Mindestmengen leisten“, „100 Prozent Belegung in der Altenhilfe“ erreichen wollen, das Geborenwerden und Sterben konditionieren. Spiritualität hat es mit solchen existenziellen Gefühlen zu tun: mit Freude, mit Wut und mit Traurigkeit. Nichts ist schlimmer als Gleichgültigkeit – das kalte Herz, wie die Bibel es nennt.

Der Theologe Friedrich Schleiermacher fand im Glauben vor allem ein Gefühl: das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit. Eine Zumutung für einen modernen, autonomen Menschen – und erst recht für eine Führungskraft. Wir lassen uns nicht gern von Gefühlen überwältigen- das könnte unsere Strategie bedrohen, den kühlen Kopf vernebeln. Trotzdem wissen wir: zur Führung gehört beides – Kopf und Herz. Strategie und Intuition. Planung und Gebet. Unsere Vorfahren haben diese Gefühlsebene in liturgische Formen gefasst – Freude und Klage in Kyrie und Gloria. Heute sind wir auf der Suche, wie es neu gelingt, diese Dimension in unseren Alltag zu integrieren. Das allererste aber ist, dass wir wahrnehmen, was unser Herz uns sagt.

2. „In Brüchen neues Leben – Neues leben“
Nach sechs Jahren in einem diakonischen Unternehmen, habe ich in den letzten sieben Jahren wieder in der verfassten Kirche gearbeitet. Lange Zeit unterschied sie sich fundamental von der Diakonie, wenn es um Strategie und Steuerung ging. Aber diese Dichotomie beginnt sich aufzulösen. Angesichts sinkender Kirchensteuereinnahmen setzt sich auch in der kirchlichen Finanzplanung eine neue Input- und Outputsteuerung, die Doppik, durch. Ziele werden beschreiben, Instrumente diskutiert, Kompetenzzentren gebildet. Die Umbruchprozesse, die damit verbunden sind, bergen ähnlich schwierige Herausforderungen wie die Umstrukturierungsprozesse in der Diakonie. An die Stelle einer Institutionen- und Verbandslogik mit unklaren Zuordnungen, vielfältig verschränkten Zuständigkeiten und vielfach vernetzten Gremien tritt eine Handlungslogik mit klar zugeschriebenen Teilkompetenzen und wechselseitigen internen Dienstleistungen. Die Hierarchien werden flacher, die Eigenverantwortung wächst.

Das bedeutet aber auch: Es gibt Gewinner und Verlierer im Wettbewerb um die knapper werdenden Finanzen, es gibt Erfolg und Versagen gegenüber Leistungszielen. Immer neue Projekte und Allianzen entstehen, immer neue Teams und Netzwerke, die sich jeweils neu um eine Aufgabe konzentrieren. Wir müssen über den eigenen Tellerrand hinausschauen, interdisziplinär arbeiten, Prozesse vernetzt gestalten. Das ist anstrengend und verunsichert. „Wohin sollen wir qualifizieren“, werde ich oft gefragt – „vielleicht zur Bewältigung von Unsicherheit?“  Was sich nämlich zwischen den Organisationen und in den Organisationen selbst zeigt, das gilt natürlich auch für jeden Einzelnen. Lebensläufe werden immer neu zusammen gesetzt, Biographien neu geschrieben. In den Umbrüchen entstehen auch Brüche. An den Schnittstellen ist Neuorientierung nötig. Wo kann sichtbar werden , was war und was wird ? Wo können Widersprüche, Klagen und Verzweiflung benannt werden? Wer nimmt die Schmerzen, wer nimmt Wut und Traurigkeit in Veränderungsprozessen ernst?

Auf EKD – Ebene erleben wir zur Zeit die Zusammenführung von Diakonie, Brot für die Welt und Evangelischem Entwicklungsdienst zu einem neuen Spitzenverband mit mehr als 600 Mitarbeitenden in Berlin – ein Schritt, der so entscheidend ist wie die Zusammenführung von Innerer Mission und Hilfswerk nach dem Krieg. Als kürzlich Führungskräfte aus beiden Bereichen diskutierten, welche theologischen Traditionen und Werte in diesem neuen Werk gelten sollen, da war zu spüren: Die alten Gefäße sind brüchig geworden. In diesem Augenblick, in dem die äußeren Strukturen und die inneren Abläufe sich unter dem finanziellen und gesellschaftlichen  Druck ändern, wird sichtbar: Auch die Inhalte sind fragwürdig geworden. Die Traditionen von Entwicklungsdienst und Wohlfahrtsdiakonie, die Leitbilder, die uns lange selbstverständlich waren, tragen nicht mehr. Nicht mehr geschützt durch die überkommenen Strukturen, halten sie den neuen Fragen kaum stand. Manche empfinden das als bedrohlich, sie fühlen sich selbst in Frage gestellt – andere sehen die Chance, Tabus in Frage zu stellen und  neue Visionen zu entwickeln. Angst und Aufbruch, Verunsicherung und Lust am Neuen liegen nahe beieinander. In den Umbrüchen entsteht neues Leben. Der Geist Gottes „wirke in den Fugen“ von Veränderungsprozessen, hat der Theologe Ernst Lange einmal geschrieben. Ich habe dabei das Bild des Löwenzahn vor Augen, der  seinen Weg ins Licht sucht, wo der Beton in der Hitze aufbricht.

Als Führungskräfte haben Sie die Aufgabe, in Umbrüchen von der Herausforderung zur Antwort zu führen. Sie können ein Forum bieten, auf dem unterschiedliche Perspektiven zu Wort kommen, sie müssen Spannungen benennen ,Informationen zur Verfügung stellen und Raum geben, das Neue zu profilieren. Das gelingt nur, wenn Sie auch Widerstände und Widersprüche wahrnehmen. Wenn Sie selbst den Mut machen, die Dinge offen anzusprechen. Das gelingt nicht ohne die verbindliche Klarheit und Wertschätzung, die auch in Ihrem Führungskonzept benannt werden. Sie brauchen aber auch Weitblick, Vertrauen in den  Wandlungsprozess und die innere Zuversicht, dass sich in Umbrüchen das Ganze neu gestalten wird. Auch wenn sie von diesem Neuen nichts sehen und nichts fühlen. Auch wenn Gottes Geist nicht spürbar ist.

Viel hängt davon ab, ob wir auch selbst bereit sind, uns zu verändern. Ob wir bereit sind, ins Unbekannte zu gehen und überraschende Wendungen als Chancen wahrzunehmen. Ob  wir im Laufe des Lebens frei werden von falscher Angst und Scham, von Sorge um das eigene Ansehen und den persönlichen Erfolg. Wer sehen will, wie das Neue entsteht, der muss zurück treten, sich frei machen von eigenen Interessen und Ängsten, vom Klammern an alte Strukturen und vermeintliche Sicherheiten. In den Augenblicken, in denen Altes zu Ende geht, sehen wir schärfer. Auf das, was geglückt und was misslungen ist. Auf das, was an Neuem schon da ist – noch nicht geachtet vielleicht, noch nicht geschätzt. Ich liebe es, nach einigen Jahren noch einmal an einen alten Ort zu gehen, alte Kollegen zu treffen und vor allem: zu sehen, was inzwischen herangewachsen aus kleinen Anfängen herangewachsen ist. Und was verdorrte, obwohl es einmal geblüht hat. Erst wenn wir von der Sorge um Vergänglichkeit und von der Angst um unser Ego befreit sind, können wir erkennen, was aus der Geschichte in die Zukunft führt und was an Neuem heran wächst.

Organisationen und Funktionen bilden nur eine vorletzte Wirklichkeit. Ernst Lange, den ich eben zitiert habe, beschreibt das ganz radikal: „( Auch) die Kirche ( wird vergehen)  mit ihren Organisationen, mit ihren Arbeits- und Lebensformen, mit ihrer Lehre und ihrem Dienst, mit ihrer Schwachheit und ihrer Kraft, und die Welt mit all ihrer Macht über den Menschen und über die Dinge, mit ihrer Wissenschaft und ihrer Gläubigkeit, mit ihrer Humanität und Unmenschlichkeit Die Liebe Christi ist das, was bleiben wird, wenn alles vergeht.“[1]

Wer heute Coach in Veränderungsprozessen sein will, der sollte Mut haben, über eigene Erfahrungen zu sprechen. Was hilft Ihnen, loszulassen ? Welche Erlebnisse haben Ihnen und anderen Brücken ins Morgen gebaut? Was hat Ihnen geholfen, in Umbrüchen Vertrauen ins Leben zu entwickeln? Ich selbst denke dabei noch einmal an den Löwenzahn, der zwischen den Fugen hervorschießt- wildes Leben unter dem Pflaster.„ Siehe, ich will ein Neues schaffen“, heißt es in der Bibel „jetzt wächst es auf“. Dieses Neue, der Blink, blitzt ohne unser Zutun auf. Wir können ihm nur Platz machen. Und Zeit geben. Wir müssen das Alte loslassen. Und das Unvollendete segnen, damit es vor Gott ganz werden kann.

3. Kommunikation und Kommunion- Rituale stiften Gemeinschaft
Die Idee der Dienstgemeinschaft in diakonischen Unternehmen  ist mehr als ein Arbeitsrechtskonstrukt – und sie nicht nur durch Outsourcing und Leiharbeit bedroht. Flexibilisierung, Modularisierung, Budgetierung und Wettbewerb machen es schwer, Gemeinschaft überhaupt noch zu leben und zu gestalten. Kaum einer bleibt noch 25, 30, 40 Jahre und bindet sich an eine Gemeinschaft. Eine Untersuchung in der Zeitschrift „Psychologie heute“ hat kürzlich gezeigt, in welchem Maße wir alle auf physische und räumliche Gemeinschaft angewiesen sind. Die besten Ideen die Geistesblitze, das Neue entsteht, wenn wir zusammen sitzen. Kollegen, die Tür an Tür arbeiten, haben – auch wenn sie zu unterschiedlichen Abteilungen gehören – weit mehr Kontakt zueinander als die, die zu einer Abteilung gehören aber auf verschiedenen Fluren sitzen.Fusionsprozesse und Neuaufstellungen wirbeln ganze Teams durcheinander- immer neue Nachbarn, immer neue Kollegen. Was können wir tun, um unter diesen Rahmenbedingungen Gemeinschaft zu gestalten? Ich setze viel auf die Bedeutung von Ritualen. Sie nähren und geben neue Energie, weil sie den Alltag unterbrechen. Sie können Abschiedsprozesse und Übergänge gestalten helfen, Dankbarkeit zum Ausdruck bringen, Wachstum ermöglichen. Rituale geben der Gemeinschaft eine Form und unseren Gefühlen einen Rahmen. Mitten in den Brüchen können sie das Gemeinsame sichtbar machen, den Augenblick in einen neuen Rahmen stellen, die Einzelnen wieder an den Koordinaten ausrichten. Dorothea Echter nennt Rituale „den Erfolgsfaktor Nummer Eins in Unternehmen, wie sie helfen, die Menschen, ganz neu und anders in den Mittelpunkt zu stellen.[2]

Ich denke an die offene Einstiegsrunde oder das sogenannte „Blitzlicht“ am Schluss. Ein Bibelwort wird geteilt, ein Bild steht in der Mitte, ein Teelicht wird angezündet. Die Trauer über einen Patienten wird in ein Stationsbuch.eingetragen. Eine Klangschale eröffnet die Stille, in die hinein jeder sagen kann, was er auf dem Herzen hat. Alle drei Monate halten die Pflegekräfte eine Abschiedsfeier für verstorbene Patienten. Lesen ihre Namen, zünden Kerzen an, beten mit den Angehörigen. In unserer Kammer für Soziale Ordnung wird ganz traditionell Andacht gehalten. Das ist in der verfassten Kirche üblicher als in der Diakonie, manchmal aber gänzlich ohne Spiritualität. Das entscheidende Kriterium ist für mich, ob Texte, Bilder und Ideen später in die politische Diskussion einfließen. Ob das geistliche Geschehen dem Alltag eine andere Dimension eröffnet. Die Bibel tut das – mit all ihren Texten über Arbeit und Immobilien, über Geld und Schätze, Essen und Trinken, Konkurrenz und Freundschaft.

Leider gibt es viele Gruppen und Teams, in denen keiner sich traut, mehr über sich selbst zu sagen oder zu zeigen, als die Arbeit erfordert. Wo keiner mehr investiert in Gemeinschaft. Das kann an Konkurrenzen in der Gruppe liegen, an der Fülle von Themen und Herausforderungen, an Schwierigkeiten der Führung, solche Prozesse zu moderieren. Es kann aber auch daran liegen, dass die Zusammensetzung einer Gruppe nicht mehr stimmt oder dass die entscheidenden Fragen längst an anderer Stelle bearbeitet werden – auf einer anderen Führungsebene, in einer anderen Abteilung, in einer Projektgruppe. Auch Teams erleben produktive und unproduktive Zeiten, sie werden neu gebildet, sie sterben. Einzelne steigen aus, andere kreisen um sich selbst oder fühlen sich „abgehängt“. Die Identifikation mit dem Ganzen schwindet. Oft sind es dann die informellen oder auch die traditionellen Netzwerke, die „den Laden zusammenhalten“ – alte Kollegen, Ausbildungsgruppen, die Brüder- und Schwesternschaft. Bei Geburtstagseinladungen, bei Jubiläen und Abschieden oder bei Weihnachtsfeiern kann man diese unsichtbaren Netze erkennen- alte Teams, Auszubildende und ihre Mentoren, Freundschaften, die im Lauf der Zeit gewachsen sind.

Feste und Feiern sind deshalb  alles andere als Luxus-  auch sie haben eine religiöse Dimension. Beim gemeinsamen Essen und Trinken, bei Reden und Musik entsteht ein Resonanzraum, der über den Augenblick hinausführt, gegenwärtige Interessen überschreitet, Gefühle einbezieht, der offen ist für Familienangehörige, Vorgänger, Freunde. In dieser Hinsicht haben wir eine reiche Tradition: Festliturgien, die es ermöglichen, Gefühle zuzulassen und Geschichten zu erinnern. Jahresfeste für die ganze Community, Kirchenjahrsrituale, auf die alle sich freuen.. Diese Kultur muss heute weiter entwickelt werden – in Richtung auf eine interkulturelle Sensibilität, die auch die Traditionen anderer achtet. Dabei muss das orthodoxe Osterfest genauso wahrgenommen werden wir der Ramadan der türkischen Mitarbeitenden. Wir können auch neue Traditionen schaffen, vergessene und verdrängte Geschichten erinnern, neue Anfänge setzen. Ich erinnere mich an die Umbenennung unserer Mutterhausstraße in Geschwister-Aufricht-Straße-  nach den beiden deportierten jüdischen Diakonissen. Als der Rabbiner auf dem Mutterhausfriedhof sang, bildeten die Schwestern und Mitarbeiter einen Schutzkreis um den Gedenkstein. Ich denke auch an die Benennung der Wohngruppe für schwer mehrfach behinderte Menschen nach Erich Plauschinat, einem der ersten behinderten Mitarbeiter – diesmal nicht nach einem der großen, sondern nach einem der Kleinen.

Spiritualität zeigt sich in Ritualen. Sie wird aber auch spürbar in der Gestalt der  Orte, in denen wir uns sammeln, deren Geschichte wir erinnern: Friedhof, Mutterhaus und Mutterhauskirche vor allem. Mitarbeiter reden gern von durchbeteten Räumen. Sie zeigt sich aber wesentlich in der gestalteten Gemeinschaft. Alle Untersuchungen zur gesundheitlichen  Wirkung von Spiritualität machen deutlich: es geht um innere Widerstandskräfte, um Vertrauen und das Gefühl, einen roten Faden im Leben zu haben, es geht aber auch um tragende und heilende Gemeinschaften. Biblisch betrachtet konstituiert sich Gemeinschaft um Gott, aber auch und gerade so um die Kleinsten und Schwächsten. Das erlebe ich sogar auf facebook. Ich habe noch nie erlebt, dass jemand schreibt, er sei krank, ohne dass andere zur Stelle sind mit guten Wünschen und hilfreichen Gedanken. Und ich habe oft erlebt, wie Sterbende Menschen um sich sammeln, eine verschworene Gemeinschaft auf Zeit. Mir fällt auch ein, wie  die Hebammen mir eines Tages das Foto eines spätabgetriebenen Kindes schickten. Dieses Kind sammelte den Widerstand, es wurde zum Beginn einer neuen Ethikbewegung. Die Kleinen, die gar nichts tun können, die Ohnmächtigen und Sterbenden sind die Mitte der Gemeinschaft. Mit ihnen identifiziert sich der gekreuzigte Christus.

4. Werte und Tradition: über die Bedeutung der inneren Achse
In unserer Arbeit spüren wir den Druck von Beschleunigung, Rationalisierung und Globalisierung – und trotzdem möchten wir uns in der Arbeit auch selbst verwirklichen. Das erfordert ein hohes Maß an Reflexion und Verantwortung, hat der Arbeitsmedizinier Hans-Peter Unger geschrieben. In all den Veränderungsprozessen müssen wir auch unseren Referenzwert, die Orientierungskoordinaten für unser Leben ständig überprüfen – und zugleich müssen wir Aufmerksamkeit für die Gefahr der Erschöpfung entwickeln. Das gilt für Führungskräfte in besonderer Weise. In der so genannten Plagiatsaffäre der letzten Tage war zu sehen, was es bedeutet, dass Amt und Person in der Politik nicht zu trennen sind: Ehrlichkeit, Genauigkeit, Zuverlässigkeit müssen gelebt und vorgelebt werden. Führungskräfte repräsentieren eben auch die Normen der Institution. Seine Werte und Hierarchien, aber auch: die Geschichte und die Mythen, das Selbstverständnis, die Gemeinschaft der Mitarbeitergenerationen und auch die Eigner. In der Diakonie repräsentieren Führungskräfte deshalb auch die Kirche und ihre Maßstäbe. Und natürlich die großen Ideen der Gründer- von Fliedner, Wichern oder eben auch von Löhe.

Die Koordinaten, auf die Christen sich beziehen, die biblischen Texte, die diakonische Tradition, sind zugleich die Referenzwerte des Unternehmens, sein soziales und historisches Kapital. Das Problem dabei ist, dass biblische Texte und Traditionen durchaus in Spannung stehen können zu den aktuellen Interessen des Unternehmens. Ich denke an den Auszug der Arbeitssklaven aus Ägypten und bleibe beunruhigt über die wachsende Spaltung im Land, über Armut und prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Ich denke an  die Tischgemeinschaften Jesu und leide darunter, dass wir zwar catern und andere bedienen, aber selten noch mit den uns anvertrauten Menschen am Tisch sitzen. Und das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter hat in meinem Leben furore gemacht, als ein Patient mich wutschnaubend zu Hause anrief, weil es in unserem Krankenhaus kein kostenloses Wasser mehr auf den Stationen gab. Diese biblischen Texte sind Kraftquelle meines Glaubens, sie sind Wurzelboden für die Diakonie – zugleich aber sind sie für andere Kriterium unserer Glaubwürdigkeit. Und nicht immer bestehen wir die Probe. Manche haben schon erlebt, dass christliche Werte krank machen können, wenn wir sie als absolute Normen verstehen. In jedem Fall aber gilt: Was uns tröstet, kann auch eine Zumutung sein. Die Barmer Theologische Erklärung spricht deshalb vom Zuspruch und Anspruch des Evangeliums.

„Rede nicht von höchsten Werten, wenn Du nicht danach handelst“, heißt es in den 10 Geboten für Unternehmer des Bundes Katholischer Unternehmer. Das führt leider oft dazu, dass wir die Werte, die uns selbst herausfordern, lieber verschweigen, uns lieber anderswo verorten- Wir sind ja längst nicht mehr der Samariter, sondern eher der Wirt, heißt es dann zum Beispiel. Ich verstehe das, denn die Selbstüberforderung kann erst recht zu Erschöpfung und Entfremdung führen kann.-Die professionelle Distanz von allzu hohen menschlichen Erwartungen kann aber auch in Zynismus und Gleichgültigkeit führen. Der Verlust an Glaubwürdigkeit, der damit verbunden ist, schadet  uns selbst wie dem Unternehmen.

Die theologische Tradition kennt die Unterscheidung von Person und Werk. Unsere Werke bleiben unvollkommen und widersprüchlich, Erfolg und Gelingen bleiben unverfügbar. Auch wenn wir es noch so gut meinen , auch wenn wir ernsthaft Christ sein wollen., gilt: mit unseren Anstrengungen können wir unseren Zielsetzungen  im Wege stehen, mit unserer Arbeit unsere Überzeugungen in Frage stellen, mit unserem Management verhindern, was geschehen kann, wenn wir loslassen.[3] Die Bereitschaft, sich selbst zu korrigieren, Vertrauen und Offenheit ohne Angst vor Verwundbarkeit sind möglich, wenn ich weiß, dass meine Leistung meinen Glauben nicht beweisen muss. Glaubwürdigkeit lebt davon, dass wir gerade nicht vollkommen sein müssen. Entscheidend ist, dass wir eine Rückbindung haben, einen roten Faden im Leben, eine erkennbare Orientierung. Nur wer sich immer wieder darüber klar wird klar wird, was für ihn Erfolg ist, ist frei, die bestmöglichen Entscheidungen zu treffen und zu verantworten und hat Kraft, auch Verunsicherungen und Zerreißproben auszuhalten.

Der Theologe Dietrich Bonhoeffer, Leiter eines Ausbildungsseminars für Pfarrer in Finkenwalde und kurz vor Kriegsende 1945 als Widerständler hingerichtet, hat in seiner Zelle ein Gedicht geschrieben, das die Frage dieses Referats vorzeichnet: „Wer bin ich?“ In diesem Gedicht beschreibt er die Spannung zwischen Innen und Außen, zwischen Fremdwahrnehmung und Selbstwahrnehmung sehr plastisch: „ Sie sagen mir oft, ich träte aus meiner Zelle gelassen und heiter und fest wie ein Gutsherr aus seinem Schloss“, so beginnt der Text. Um dann gleich zu fragen; „ Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen? Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß: unruhig, sehnsüchtig und krank wie ein Vogel im Käfig?“ Wer bin ich- der oder jener oder beides zugleich?  Nein, wir tun nicht immer , was wir sagen. Und wir sagen nicht immer, was wir glauben. Ängste und Zweifel, Hierarchien und Konfliktscheu- vieles verzerrt das Bild und macht es unscharf- auch wenn keiner von uns in einer lebensbedrohlichen Situation ist. Bonhoeffer verortet sich am Ende in einem Horizont, die seine Zelle springt und die Urteile anderer wie die eigenen Unsicherheiten relativiert, an einem Ort, der ihn frei macht. „ Wer ich auch bin, Du kennst mich, dein bin ich, o Gott“. So kommt Bonhoeffer im Gebet sich selbst auf die Spur, um sich im gleichen Augenblick los zu lassen.

5. Menschen begleiten, coram homine- coram deo
Führungskräfte in der Diakonie sind nicht nur Strategen und Manager, sie sind auch entscheidende Vorbilder gelebten Glaubens in einer Zeit institutioneller Erosionen. Das muss sich in der Personalführung bewähren. Gelingt es, Kritik und Beschwerden ernst zu nehmen? Haben wir ein offenes Ohr für die Ängste und Widersprüche der Mitarbeitenden? Auch für die Krisen und Veränderungssituationen im persönlichen Leben der anderen? Haben Gefühle wie Angst, Wut und Enttäuschung Raum oder müssen wir sie unterdrücken?  Der Leiter der Oberbergkliniken in Berlin, Prof. Mundle, der gerade ein Curriculum für integratlive Heilkunde entwickelt hat und ganz besonders auf die spirituelle Dimension schaut, hat in Studien gezeigt, dass es Oberärzten in den kräfteraubenden Diensten oft nicht viel besser geht als den Patienten in Stress- und Suchtkliniken. Mit dem einen Unterschied: sie sind aktiv, sie bleiben in der Arbeit. Aber genau dieses geringe Gefälle erleben sie eben auch bedrohlich: sie vermeiden Gespräche zu existentiellen und spirituellen Fragen.

Es ist eine hohe Kunst, den Fragen und Gefühlen anderer standzuhalten und dabei aufmerksam und präsent zu bleiben. Schmerzhafte Entscheidungen im Angesicht einer Person und ihrer Ängste zu treffen. Auch wenn wir wissen, dass Aussitzen nicht nutzt. Wie gehst Du damit um, dass Du Menschen allein lässt, nicht begleiten kannst, enttäuschen oder entlassen musst, dass Du anderen und oft auch Dir selbst nicht gerecht wirst? Wie gehst Du mit den inneren Rückfragen an Dich selber um? Die Bibel ist voller Gleichnisse und Bilder, die die Werte- und Glaubwürdigkeitsfragen, über die ich eben gesprochen habe, thematisieren: das Gleichnis vom Schalksknecht zum Beispiel oder das vom Splitter im Auge des Bruders und dem Balken im eigenen. Immer wieder geht es um die Brüderlichkeit, die Geschwisterlichkeit, die nicht vergisst, dass der andere vor Gott auf gleicher Augenhöhe mit mir steht. Kritik üben kann ich, ich muss es im Interesse des Ganzen- aber Richter über meinen Bruder, meine Schwester bin ich nicht. Die Bibel kennt die Unterscheidung, vor wem wir stehen: coram homine – vor dem Menschen, bin ich Vorgesetzte. Coram deo, vor Gott, stehe ich auf gleicher Augenhöhe mit dem Bruder, mit der Schwester. „ Wisse, vor wem Du stehst“; heißt es an der Eingangstür einer Synagoge. Ich möchte mich daran erinnern, dass ich mit dem, was ich vor dem Menschen tue, eben auch vor Gott stehe.

In unserem Miteinander, wo zwei oder drei vor ihm versammelt sind, ist Gott präsent. Die Gemeinschaft ist weiser als meine eigene Klugheit und Strategie, und oft sind auch andere klüger als ich – darauf habe ich gelernt, zu vertrauen Zuerst allerdings musste ich begreifen, dass andere Menschen andere Machtquellen haben als ich – auch wenn sie nicht in der Führungsetage sitzen. Beziehungsmacht kann stärker sein als Organisations- und Finanzmacht, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mit sozialen Netzwerken können enorm viel bewegen, Creative, die ein Gespür für andere Ebenen haben, können anrühren. Kommunitäten haben eine Deutungsmacht, die dem Management oft abgeht. Alle diese Gruppen können die Leitung kritisch anfragen, manchmal stellen sie sich auch in den Weg wie Bileams Esel in der Bibel – sie repräsentieren andere Perspektiven, und sie werden gebraucht. Wir brauchen sie als Ausgleich und Korrektur, um uns von falschen Wegen abzubringen, wenn wir mit dem Kopf durch die Wand wollen.

Personalführung in einem diakonischen Unternehmen kann nicht nur auf  Funktionalität ausgerichtet sein. Wir haben es mit Menschen zu tun, die Orientierung suchen , die Gaben mitbringen und sich entfalten wollen, die sich über ihre Kräfte hinaus einsetzen, die Unterstützung brauchen oder vielleicht gerade krank sind. Aber auch Pflegeaufgaben, die Krankheit eines Kindes, der Tod eines Familienangehörigen, Geburten und Zeiten der großen Liebe oder Umzüge haben Einfluss auf die Arbeit. Und manchmal ist das eine große Hilfe. Ich zum Beispiel habe Altenhilfe erst wirklich verstanden, als meine Mutter demenzkrank wurde. Diese Zeit hat mich eben nicht nur persönlich, sondern auch beruflich verändert. Es tut gut, dann Vorgesetzte zu haben, die zuhören, verstehen und dem Neuen Raum geben. Die Rollenwechsel wahrnehmen und die Kräfte, die darin stecken, nutzen. Ein persönliche Karte, ein symbolisches Geschenk, die Rede bei einer kleinen Feier kann dann Vergewisserung geben und helfen, den Blick nach vorn zu richten. Ein kleiner Engel, ein bunter Stein für die Handtasche oder ein Kaffeebecher ist ein handgreiflicher Segen – auch ich halte mich an solchen Zeichen für eine Weile fest. Natürlich gibt es Situationen, die keine Öffentlichkeit vertragen. Vielleicht noch nicht einmal ein offenes Gespräch mit der Führungskraft. Aber mit wem dann? Mit einem Mentor? Einem geistlichen Begleiter? Und wenn wir den anderen nicht mehr erreichen- wenn wir nicht reden können – können wir für die uns Anvertrauten beten? Theodor Fliedner besaß eine Fürbittenrolle, die er mit auf Reisen nahm. Ich folge meiner Mutter; sie nutzte ihre Losung als Geburtstagsliste.

6. Der Kreuzweg : Zeit und Zeichen
„Obwohl zum Innehalten die Zeit nicht ist, wird einmal keine Zeit mehr sein, wenn man jetzt nicht innehält. Lebst Du jetzt, wirklich ? In diesem Augenblick, ganz und gar? Wann, wenn nicht jetzt ?“ Dieser Impuls von Christa Wolf eröffnet diesmal die Fastenbroschüre von Andere Zeiten. Nach einer Forsa-Umfrage vom November 2009 braucht ein gutes Drittel aller Befragten seine ganze Energie, um während der Woche ihrer Arbeit gerecht zu werden und genauso viele sind rund um die Uhr für die Firma erreichbar. Dabei wissen wir: Eine Extrastunde Schlaf pro Nacht macht glücklicher als 60.000 Euro Jahresgehalt.[4] Gerade in Anspannung und Unsicherheit kommt alles darauf an, sich Zeit zu nehmen, den eignen Rhythmus zu pflegen. Ich möchte Sie gegen Ende meines Vortrags mitnehmen auf einen solchen Weg:

Vor zwei Jahren habe ich mit meinem Mann eine Wanderung durch das Eisacktal in Südtirol gemacht. Durch einen Torbogen am Ende der Einkaufsstraße Klausen führt ein alter, steiniger Weg zum Kloster Säben, das den Ort krönt. Die Straße ist zuerst noch angenehm flach, unter schattigen Bäumen, dann geht es immer steiler nach oben. Schon bald, nach der nächsten Kehre, sieht man hinunter über die Weinberge ins weite Land. An dieser Stelle spürte ich zum ersten Mal meinen Atem- und genau in diesem Moment entdeckte ich die Station eines alten Kreuzwegs. Es war schon die dritte, die ersten beiden habe ich offenbar gar nicht wahrgenommen. Von da an gaben die Kreuzwegstationen den Rhythmus vor – von Laufen und Schauen, Schwitzen und zur Ruhe kommen, eine perfekte Kombination. Mitten in den Anstrengungen immer einmal halt machen und darüber nachdenken,  wie mein Weg mit dem Jesu verbunden ist. Wer so geht, merkt: der steinige Weg ist gerade so steil, dass man miteinander reden kann.

Wir waren schon ein Stück gegangen, als uns einer entgegen gerannt kam, der weder rechts noch links sah, sondern vermutlich ein Marathontraining absolvierte. Es gibt eine Geschwindigkeit, die ganz auf die eigenen Ziele ausgerichtet ist.da treibt der Wettbewerb voran und die Beziehung zu einem anderen hat kaum noch Platz. Genau das kenne ich aus meinem Alltag. Wenn ich deadlines hinterher, renne, kurzfristig noch neue Aufträge bekomme, und dann außer Atem komme und schließlich aus dem Tritt..Anrufe, Mails, Briefe, Meetings, – so schön es ist, gut vernetzt zu sein, so schmerzhaft, wenn die Zeit gar reicht nicht, um wirklich in Beziehung zu kommen. Mit Zeitmanagement und Kosten-Nutzen-Rechnungen versuchen wir, uns vor dem Ausbrennen zu bewahren. Mit Professionalität, Distanz zu schaffen zwischen unserer Arbeit und den ungeheuren Ansprüchen, den spannenden Herausforderungen, die uns auf diesen Berufsweg gebracht haben.  Wenn aber: die Motivation erkaltet, wächst der Stress. Management und Professionalität schützen nicht vor dem Ausbrennen. Ich glaube, es braucht einen anderen Weg, die innere Flamme zu schützen. Das Öl zu bewahren.

In dem katholischen Dorf meiner Kindheit gab es Kreuzwegprozessionen  mit  Gesängen und  Gebeten und  Andachten vor diesen Steinhäuschen – das blieb mir immer fremd. Steinmetzarbeiten. Keine lebendigen Bilder. Aber die Kreuzwegstationen in Säben haben diese Bilder in mir evoziert. Das Schweißtuch der Veronika zum Beispiel– eine schöne , einfache Geste, die mich an die Hospizgruppen erinnert. Da steht eine Frau am Weg und reicht dem Todgeweihten ein Tuch, um Blut und Schweiß abzuwischen Sie hat Mut, sich den eigenen Gefühlen zu stellen.Die Bilder, die auf dem Kreuzweg gezeigt werden, sind eben doch Spiegel unser eigenen Erfahrungen. Wer unter Belastungen zusammenbricht, braucht jemanden, der mit  trägt. Wer Blut und Wasser schwitzt, braucht eine, die ihm den Schweiß abwischt. Wer sich für andere einsetzt, stört manchmal den ganzen Betrieb, der gnadenlos weitergeht. Notfalls auch über Leichen.

Der Kreuzweg konfrontiert uns mit der Frage, wie wir unseren eigenen Weg gestalten. Die Situationen, in denen einer fällt und Hilfe braucht, in denen der Tod alle Planungen durchbricht. Wie gehen Sie damit um, wenn einer Ihnen ganz persönlich die Schuld gibt für Unrecht und Kränkung, für Schicksal und Verzweiflung. Können Sie Hilfe annehmen, wenn Sie selbst verzweifelt sind und fast zusammenbrechen? Was hilft ihnen, weiterzugehen, wenn der Weg aussichtslos scheint? Ich denke an die Jünger, die nach der größten Enttäuschung ihres Lebens  resigniert zurück gingen in ihr Heimatdorf, weil sie das Gefühl hatten, alles sei umsonst gewesen. Bis ihnen einer begegnete, der deuten konnte, was geschehen war. Der sich Zeit für sie nahm und mit ihnen aß. Bis bei dieser Begegnung das Feuer unter der Asche zu brennen begann. Weil sie begriffen, dass nichts umsonst gewesen war. Auch der Kreuzweg nicht. Ich glaube, dass diese Erfahrung die Freiheit gibt, von der ich gesprochen habe.

Im Kloster Säben steht am Ende des Kreuzwegs, oben auf dem Berg eine kleine Kapelle. Dort hat man einen unglaublich schönen Rundblick über die Landschaft , der den steinigen Weg vergessen lässt. Mittelpunkt der Kapelle ist ein steinernes Taufbecken aus dem 4. Jahrhundert, in das man hinabsteigen konnte. Wer diesen Weg als lohnend erlebt hat, der kann nach Krisen und Enttäuschungen die Sorge hinter sich lassen. Der hat einen weiten Blick und kann Ja sagen zu dem, was ist. Dag Hammarskjöld hat das so ausgedrückt: „ Sorge dich nicht, wohin der einzelne Schritt führt; nur, wer weit blickt, findet sich zurecht.“[5]

7. Innere Führung
„Dienet dem Herrn mit Freuden“  Der Spruch über der Mutterhauspforte bleibt für viele mit selbstloser Nächstenliebe in langen Arbeitsstunden verbunden. Aber diese Arbeitstage waren eben auch unterbrochen von gemeinsamen Mahlzeiten, Andachten und Einkehrtage. Danach sehnen sich viele. Orte der Inspiration, wie sie die alten Mutterhäuser mit ihren Kapellen und Kirchen boten, haben große Anziehungskraft.  Hierher sind die Schwestern nach Hause gekommen, gleich, wie nah oder weit weg ihr Arbeitsfeld war. Im Kommen und gehen waren sie gehalten wie an einem roten Faden, der Sinn gab. Hier trafen sie andere, mit denen sie sich austauschen, bei denen sie sich ausweinen und Rat finden konnten. Das half den eigenen Weg neu auszurichten. Es ist dieses Pendeln zwischen eigener Anstrengung und Reflexion, das auch den Kreuzweg ausmacht.

Marjorie Thompson[6] schlägt in ihrem Buch „Christliche Spiritualität entdecken“ vor, dafür einen eigenen Weg zu finden. Sich eine Zeit am Tag zu nehmen, in der ich einfach in der Stille sitze und die Stille auf mich wirken lasse. Mit Selbsterforschungsfragen zu arbeiten, einer Art regelmäßiger Beichte, die mir hilft, ehrlich mit mir selbst zu bleiben. „Achte ich gerade genug auf mich selbst, auf meine Rhythmen und Körpersignale? Wie verantwortlich und wertschätzend bin ich mir selbst und mir wichtigen anderen Menschen gegenüber? Und: Entspricht meine Arbeit noch meinen persönlichen Wertvorstellungen und Lebenszielen?“[7] fragen auch Unger und Kleinschmidt in ihrem Buch über gesundes Arbeiten. Für mich selbst ist mein Tagebuch ein Weg, dem eigenen Leben ganz bewusst zuzuhören.

Mindestens einmal in der Woche nehme ich mir Zeit zum Schreiben, Nachdenken, Schreiben – bis ich in Freiheit auf das sehen kann, was war. Einmal in der Woche versuche ich auch, mit meiner Yogalehrerin zu arbeiten und auf meinen Körper zu achten. Jedes Mal, wenn ich sie besuche, merke ich, dass sie weit mehr in den Rhythmen der Natur und der Jahreszeiten lebt als ich. Der kleine Buddha auf ihrer Fensterbank ist immer jahreszeitlich geschmückt – mit einer Pflanze, einem Stein, einem Stück Holz. Zu Weihnachten mit einem Fichtenzweig, zu Ostern mit einem Ei. Mich erinnert das an die Chancen, die uns das Kirchenjahr zur Meditation gibt. Je pluralistischer unsere Gesellschaft wird, desto mehr sind wir gefragt, die Traditionen, die uns halten, selbst zu wählen und zu gestalten. Und die, die scheinbar selbstverständlich und uns lieb sind, zu verteidigen. Dazu gehört auch und vor allem der Sonntag als eine bewusste Auszeit in der Woche.

Wir müssen nicht alle Verpflichtungen einhalten, nicht stetig verfügbar zu sein für die Anliegen anderer. Wir dürfen uns unsere eigene Zeitautonomie zurückerobern, die eigene Energie schützen, arbeitsfreie Zeiten einhalten. Wir sollten uns immer wieder klar machen und uns daran erinnern, was uns für die nächste Zeit wirklich wichtig ist. Das Tagebuch kann dabei helfen, aber auch ein Coaching, eine Freundin, ein spiritueller Begleiter – eine Person, mit der wir offen über die eigenen Schutz- und Abwehrmechanismen oder über Stress und Erschöpfung sprechen können.

Was hilft Ihnen, Ihren Weg und Ihre Entscheidungen zu reflektieren ? Sind es Bilder und Rituale aus der  eigenen religiösen Tradition – oder vielleicht gerade aus einer anderen wie bei mir der Kreuzweg? Nutzen Sie äußere Zeichen und bestimmte Zeiten, um sich Ihres Glaubens zu erinnern, sich festzumachen ? Ich habe an meinem Schlüsselbund das Siegel von Johannes Calvin. Um ein brennendes Herz stehen die Worte: „Cor tibi offero, Domine, prompte et sincere“, ich schenke dir mein Herz, Gott, ernsthaft und sofort. Um zu wissen, wann Gott ruft und was er von uns will, müssen wir achtsam sein: Hinhören, hinsehen, beten, uns beraten. Ein Tag wie heute ist darum eine große Chance, Spiritualität in der Führung einzuüben.

 

[1] Aus Ernst Langes Übertragung von 1. Kor 13 für „Das Neue Testament für Menschen unserer Zeit“, hg. von Jörg Zink, zitiert bei Simpfendörfer, Werner: Ernst Lange. Versuch eines Porträts, Berlin, 2. durchges. Auflage 1997 S.68.
[2] orothee Echter, Rituale im Management, Strategisches Stimmungsmanagement für die Businuess Elite, München 2003
[3] Daran macht z.B. Dörte Gebhard ihre wesentliche Kritik an der Ökonomisierung fest, vgl. Gebhard, Dörte: Menschenfreundliche Diakonie. Exemplarische Auseinandersetzungen um ein theologisches Menschenverständnis und um Leitbilder, Neukirchen-Vluyn 2000, bsd. S-272-277.
[4] Forsa-Untersuchung November 2009 für „Brigitte Balance“
[5] Dag Hammarskjöld, Zeichen am Weg.
[6] Thompson, Marjorie: Christliche Spiritualität entdecken, Freiburg 2004.
[7] Unger, Hans-Peter/ Kleinschmidt, Carola: Bevor der Job krank macht, München 2006