„Mir kann niemand mehr helfen“

Sterbewünsche zwischen Selbstbestimmung, Einsamkeit und Sorgenetzen

Einsamkeit und Angewiesenheit: Erfahrungen aus der Pandemie

„Noch hallen die Heilsbotschaften im Raum: Du hast es in der Hand, Du bist Deines Glückes Schmied, Du kannst mit Deinem Willen die Wirklichkeit kreieren … Die Wahrheit, die Corona lehrt, macht ein für alle Mal deutlich: Niemand ist der Herr und Meister seines eigenen Lebens. Alle sind unauflöslich eingebunden in ein umfassendes Netz des natürlichen und des sozialen Lebens, das wir weder mit unserem Narzissmus ignorieren noch mit unserem Egoismus dominieren können.“, schrieb Christoph Quarch in einem seiner ersten Corona-Rundbriefe. „Das Gebot der Stunde lautet: Interaktion, Solidarität, Miteinander.“ [1]

In diesen ersten Wochen und Monaten der Pandemie, als die Quarantäne-Regeln unseren Alltag bestimmten, weil es weder Tests noch Impfungen gab, haben die allermeisten gespürt, wie sehr wir eingebunden sind in dieses Lebensnetz – sei es mit unserer Verwundbarkeit gegenüber Viren, sei es mit unserer Angewiesenheit auf Nachbar*innen, Kolleg*innen, Dienste und Dienstleistungen vom Supermarkt über die Tageseinrichtung bis zur Pflege. Wie sehr wir angewiesen sind auf Solidarität, auf das Miteinander und auf Berührung.

Das Pressefoto des Jahres 2021 illustrierte dieses Gefühl: Es zeigt eine ältere Frau, die von einer jungen umarmt wird – ihrer Tochter vielleicht, vielleicht auch ihrer Pflegerin. Beide tragen durchsichtige Plastikregenmäntel als Schutz gegen das Virus – und die Ärmel der jüngeren sehen aus, als seien es Engelsflügel.

„Die Corona-Krise kann eine Chance sein, wenn die Gelegenheit genutzt wird, unsere Gesundheits-, Sozial- und Wohlfahrtssysteme und somit die Gesamtheit von Care-Arbeit gesellschaftlich solidarischer zu organisieren und zu finanzieren“, schrieben Barbara Thiessen und andere 2020[2]. Tatsächlich wurde in dieser Zeit Einsamkeit zu einem großen Thema. Das galt auch für die Einrichtungen der Langzeitpflege, wo Pflegebedürftige keinen Besuch mehr von Angehörigen und Ehrenamtlichen bekommen durften. Pflegekräfte versuchten, die fehlende Zuwendung zu kompensieren und bildeten eine Notgemeinschaft untereinander wie mit den Bewohner*innen – oft auf Kosten der eigenen Familie.

Mehr als 50 Prozent der an Covid-19-Verstorbenen waren Heimbewohner. Sie starben ohne die Begleitung, die wir doch eigentlich für guten Standard halten – ohne Berührung, ohne eine Hand, die sie hielt. Während des Lockdowns schien das alles zweitrangig. Die Debatte drehte sich um das nackte, physische Überleben, um Intensivbetten und Beatmungssysteme; einmal mehr wurde das Sterben professionalisiert, institutionalisiert und medikalisiert. Nicht nur in Schweden entschieden Ärzte ohne Rücksprache mit Angehörigen oder Betreuern von Langzeitpflegebedürftigen, ob ein Krankenhausaufenthalt mit Intensivbetreuung noch „lohnte“ und viele setzten stattdessen auf Palliativversorgung. Angehörige sahen die Sterbenden oft erst, wenn kein bewusster Kontakt mehr möglich war und blieben mit Trauer und Schuldgefühlen allein. „Viel zu viele mussten um Angehörige trauern. Viel zu viele kämpften auf den Intensivstationen und in den Pflegeheimen um ihr Überleben. Viel zu viele mussten um geliebte Menschen bangen“, sagte Bundespräsident Steinmeier bei der Gedenkveranstaltung am 18. April 2021. Und schon im Januar startete er eine bundesweite Kerzenaktion: „Deutschland stellt ein Licht ins Fenster, weil jedes ‚Lichtfenster‘ uns miteinander verbindet“.

Was lernen wir aus den Erfahrungen der Pandemie? Warum sind  die Erfahrungen aus der Hospizbewegung so schnell in Vergessenheit geraten? Was haben wir über die Situation in Einrichtungen der Alten- und Behindertenhilfe gelernt, in denen sehr viele Vulnerable zusammenleben? Was über die Rollen von Angehörigen, Freunden, Ehrenamtlichen? Wird es nachhaltige Veränderungen in der Pflege geben? Welchen Wohnformen, welchen Dienstleistungen gehört die Zukunft? Und wie sieht es nach 40 Jahren Hospizbewegung mit der Tabuisierung des Todes aus? Es ist erst wenige Jahre her, dass Annelie Keil und Hennig Scherf ihr Buch „Das letzte Tabu“ herausgaben. Darin heißt es: „Der Tod ist in jeder Hinsicht unberechenbar und unvorhersehbar. Er verlangt inmitten der jeweils besonderen Situation die Bereitschaft, sich dem Geschehen offen zu stellen.“[3]

Was das bedeutet, haben wir gerade erlebt. Hat die Corona-Krise mit den täglichen Todeszahlen unseren Blick für das Sterben geöffnet? Ist uns klar geworden, wie entscheidend es ist, Isolation und Einsamkeit zu vermeiden, Angehörigen die Ängste zu nehmen, Pflegende zu unterstützen? Denken wir noch einmal neu nach über das Sterben in Krankenhäusern und Einrichtungen? Wenn sich wirklich etwas ändert, dann aus der Erfahrung, wie sehr wir aufeinander angewiesen waren.

„Sie sind wichtig, weil Sie eben Sie sind. Sie sind bis zum letzten Augenblick Ihres Lebens wichtig, und wir werden alles tun, damit Sie nicht nur in Frieden sterben, sondern auch bis zuletzt leben können.“ Dieses Versprechen der Hospizbewegung, wie es die Gründerin Cicely Sounders formuliert hat, konnte in der Pandemie oft nicht eingelöst werden. Tatsächlich ist hier ein doppeltes Versprechen formuliert: Ein Ja zu Selbstbestimmung und je eigener Würde. Und ein Ja zum unbedingten Wert des Lebens, zu Mitsorge und Solidarität. Die Erfahrungen der Pandemie zeigen: Es braucht gute Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen, damit beides gelebt werden kann.

Der assistierte Suizid – Freiheit braucht einen Rahmen

Noch vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie in Deutschland entschied das Bundesverfassungsgericht am 26.2.2020, den assistierten Suizid mit Rücksicht auf das Selbstbestimmungsrecht jedes einzelnen Bürgers, jeder Bürgerin frei zu geben und den bestehenden Paragraphen 217 zu kippen. Die Frage, was das bedeutet und wie eine neue Gesetzgebung auf dieser Basis aussehen würde, geriet während der Pandemie zunächst in den Hintergrund. Erst in diesem Frühjahr wurde die Debatte im Bundestag wieder aufgenommen.

Unmittelbar nach Veröffentlichung des Urteils haben sich der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz und der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland in einer gemeinsamen Stellungnahme dazu geäußert. Nachdem sie die grundlegende Freiheit zur Selbstbestimmung auch aus christlicher Sicht prinzipiell bestätigen, heißt es weiter: „Den deutschen Bischöfen ist bewusst, dass es Situationen im Leben geben kann, in denen Menschen Suizidwünsche entwickeln oder sich gar zu suizidalen Handlungen gedrängt fühlen. Solche Situationen entziehen sich einer abschließenden moralischen Beurteilung von außen. Der Blick auf die aktuelle Suizidforschung zeigt jedoch, dass ein Suizidwunsch in den meisten Fällen die Folge von Ängsten, Verzweiflung und Aussichtlosigkeit in Extremsituationen ist und deshalb gerade nicht als Ausdruck der Selbstbestimmung verstanden werden kann. Respekt vor der Selbstbestimmung bedeutet in diesen Situationen nicht, den Wunsch oder die Entscheidung zum Suizid unhinterfragt hinzunehmen oder den Suizid als normale Form des Sterbens zu betrachten. Für Christen ist das Leben ein Geschenk, das ihnen von Gott anvertraut wird. Es entzieht sich unserer Verfügbarkeit und will deshalb bis zum Ende bewahrt sein.“

Am Ende ihrer Stellungnahme unterstreichen die beiden Kirchen einmal mehr die Notwendigkeit, Palliativversorgung und Hospizarbeit weiter zu fördern und auszubauen und lehnen den assistierten Suizid in den Einrichtungen von Diakonie und Caritas ab: „Das Ermöglichen von Angeboten des assistierten Suizids in diesen Einrichtungen wäre mit dem Wesenskern unseres Einsatzes für das Leben nicht vereinbar.“[4]

Schon kurz darauf schlugen die Theolog*innen Reiner Anselm, Isolde Karle und Ulrich Lilie in einem Artikel am 11.1.2021 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vor, einen assistierten professionellen Suizid  auch in kirchlichen Einrichtungen zu ermöglichen. Die Kirchen sollten überlegen, „wie sie den vom Bundesverfassungsgericht gegebenen Spielraum nutzen wollen, um Suizide möglichst zu verhindern und gleichzeitig eine Suizidhilfe in gut begründeten Einzelfällen zu ermöglichen“. Entscheidend ist aus ihrer Sicht, „dass wir respektieren und akzeptieren können, dass auch unter guten palliativen Bedingungen Menschen in eine Lage kommen können, in der sie sagen: ‚Es ist genug‘ „. In solchen Situationen könne es „ein Akt christlicher Nächstenliebe sein, den Sterbewunsch anzuerkennen – und zwar auch dann, wenn man die Situation anders einschätzt“. Zugleich müsse der assistierte Suizid die Ausnahme bleiben. „Den Autor*innen ging es um individuelle Grenzsituationen, nicht um ein ‚Regelangebot‘ für alle, die des Lebens müde sind.“  Die Kirchen dürften aber sich diesen „komplexen und schwierigen Fragen nicht vorschnell durch moralische Prinzipientreue oder unter Verweis auf der Fortschritt der palliativen Medizin und Pflege entziehen“, schrieben sie. [5]

„Wie könnte ein assistierter Suizid im kirchlichen Kontext überhaupt aussehen?“, wurde Isolde Karle am 1.2.2021 in einem Spiegel-Interview gefragt. Müsste es eine verpflichtende Beratung geben wie etwa bei Abtreibungen? „Ja“, meint Karle, „es könnte eine seelsorgliche Begleitung geben. Mindestens zwei Ärzte oder Ärztinnen sollten das Begehren prüfen, um Fremdbestimmung oder mangelnde Urteilsfähigkeit bei psychischen Erkrankungen und Demenz auszuschließen. Ein assistierter Suizid ist in der Praxis ein absoluter Grenz- und Ausnahmefall… Aber für den Ausnahmefall muss es klare Regeln geben. Davon würde auch das Arzt-Patienten-Verhältnis profitieren. Dann könnten beide offen und vertrauensvoll über Sorgen, Ängste und Sterbewünsche reden und diese überwinden. Bislang haben Ärztinnen und Ärzte oft Angst davor, weil keine Rechtssicherheit gegeben ist.“[6]

Jeder weiß, dass eine hospizliche Betreuung noch längst nicht in allen Einrichtungen der Langzeitpflege selbstverständlich ist. Und niemand bestreitet, dass es Ausnahmefälle gibt, in denen die palliative Versorgung nicht leistet, was wir uns von ihr versprechen. Lange Zeit drehte sich die Debatte um die Frage, ob diese Fälle gesetzlich geregelt werden sollten oder ob es besser wäre, sie in der Grauzone der persönlichen Verbundenheit von Arzt und Patient zu belassen. In jedem Fall, das wurde dabei deutlich, geht es darum, die gewachsenen Beziehungen der Sterbenden zu schützen – Beziehungen zu Ärztinnen und Ärzten, zu Pflegenden und Seelsorgepersonen und zu Angehörigen. Die Kirchen in der Schweiz, die schon lange mit den dortigen Sterbehilfeorganisationen leben, ermutigen ihre Seelsorgerinnen und Seelsorger, Suizidwillige solidarisch zu begleiten. Sie versuchen, Suizidwillige aus der Isolation zu holen und das Gespräch mit den Angehörigen, das oft kompliziert geworden ist, wieder in Gang zu bringen. Denn für Familie und Freunde ist es oft schwer, mit einem Suizidwunsch klarzukommen. Manche haben Schuldgefühle, sind verletzt oder zornig. Gesprächsangebote können helfen – und führen manchmal sogar zu einer Revision des Suizidwunsches. Niemanden allein lassen – darum geht es. Deshalb, meinen Anselm, Karle und Lilie, sollten Einrichtungen auch denen verbunden bleiben, die trotz intensiver, zugewandter Seelsorge und hospizlicher Begleitung einen dauernden Sterbewunsch haben und am Ende den assistierten Suizid wünschen.

Raus aus der Tabuzone

„Es ist unmöglich, das Thema assistierter Suizid abgelöst von den gesellschaftlichen Veränderungen zu bedenken. Die neoliberale Gesellschaft suggeriert eine Planbarkeit, die existenzielle Fragen wie Trost, Verzweiflung, Hoffnung ausklammert“, schreiben Andreas Heller und Reimer Gronemeyer in ihrem Buch „Suizidassistenz ?“. „Es gehört zu den Eigenarten der Debatte, dass sie individualistisch orientiert ist, den gesellschaftlichen Raum also weitgehend ausblendet“[7], schreiben die Autoren weiter. Deshalb ist es nötig, die Debatte um diese Fragen auf eine breite Grundlage zu stellen, das Thema aus der Tabuzone herauszuholen und über die Bedingungen des Sterbens in unserer Zeit öffentlich wie privat zu sprechen.

Der Tod ist der Enteignung durch Expert*innen auch deshalb zum Opfer gefallen, weil wir froh sind, die Dilemmata an Expert*innen abgeben zu können. Es sind nicht nur die Medikalisierung der Gesellschaft, nicht nur die Überforderung der Familien und die Institutionalisierung von Krankheit und Sterben, die den Tod aus unseren Häusern und aus unserer Nachbarschaft vertrieben haben – in Pflegeeinrichtungen, Krankenhäuser und Hospize. Es ist auch unsere eigene Angst vor dem Ende und die Hilflosigkeit, darüber zu reden – über ein Geschehen, das die meisten zum ersten Mal erleben, wenn nahe Angehörige betroffen sind.

Wie lernen wir wieder mit dem Tod umzugehen? Wie fühlt sich das Sterben an und was passiert danach? In jüngster Zeit sind viele Bücher und Filme dazu erschienen. Aber noch immer würden wir diese Themen kaum bei einem gemeinsamen Abend mit Freunden besprechen. Dabei geht es nicht nur um die Dinge, die wir nicht möchten, die unterlassen werden sollen, Dinge, die wir in der Patientenverfügung regeln können. Es geht vor allem darum, was wir uns für unsere letzten Wochen, Tage und Stunden wünschen. Deshalb finde ich es übrigens großartig, dass inzwischen in den Toiletten der Autobahnraststätten eine Werbung für den Wünschewagen (ein Krankentransportwagen zur Erfüllung letzter, meist langgehegter Wünsche von Sterbenskranken) erscheint – gerade lang genug, um beim Händewaschen auf dem Weg in den Urlaub darüber nachzudenken, was mein letzter Wunsch wäre.

„Diese Wochen waren die intensivsten in unserem gemeinsamen Leben – es war eine gute und wertvolle Zeit“, sagen manche, wenn die erste Trauer bewältigt ist. Beim offenen Umgang mit unseren Ängsten, mit fachkundiger Symptomkontrolle, mit Zuwendung, Sicherheit und respektvoller Pflege können wir erleben, dass Angst, Schrecken und ja, auch der Wunsch nach Sterbehilfe oder Suizid in den Hintergrund treten. Damit das gelingen kann, brauchen Angehörige professionelle Unterstützung und sie brauchen Zeit. Zeit zur Begleitung, Zeit zum Trauern, die ihnen Arbeitgeber, Freunde, Nachbarn schenken müssen. Denn Sterbe- und Trauerbegleitung verlangt in unserer zunehmend fragmentierten Gesellschaft ein hohes Maß an Kommunikation und Absprachen.

Inzwischen bieten diakonische Unternehmen, Hospizvereine und auch Kirchengemeinden „Letzte-Hilfe-Kurse“ an, wo man an einem Samstag lernen kann, was wir über das Sterben und die kleinen Hilfemaßnahmen wissen sollten. Und Langzeitpflegeeinrichtungen arbeiten an einer palliativen Kultur, mit Mitarbeitenden aus allen Berufsgruppen, mit Ehrenamtlichen und Angehörigen. Eine Untersuchung zeigt: Wo pflegende Angehörige sich während der Pflege in Gesprächsgruppen und Seelsorgeangeboten getragen wussten, fanden sie später oft den Weg in ein eigenes Engagement im Hospiz oder der Krankenseelsorge.

Charon heute – zur Rolle der professionellen Begleitung

Der antike Mythos erzählt von Charon, der die Toten im Boot über den Styx brachte – den Fluss, der das Reich der Lebenden vom Totenreich, dem Hades trennte. Die Überfahrt musste mit einer Münze, dem Obolus, bezahlt werden, der den Toten unter die Zunge gelegt wurde. „Fährleute“, die sich auskennen mit dem Tod und den Weg hinüber weisen können: Das sind in der Gegenwart die unterschiedlichen professionellen Helfer*innen. Wie sieht es heute aus mit den Kosten für die Überfahrt?

Das vom Verfassungsgericht ausgesetzte Gesetz zu § 217 hatte die geschäftlichen Sterbehilfeorganisationen verboten. In welchem Maße sind nun die Ärzte von der Erwartung betroffen, professionelle Sterbehilfe zu geben? Von den Ärzt*innen war ja schon die Rede – nämlich von ihrem Verlangen nach Rechtssicherheit. Dazu gehört aber umgekehrt auch, dass es keinerlei Verpflichtung gibt, dem Wunsch eines Patienten nach Sterbehilfe nachzukommen. Trotzdem besteht die Gefahr, dass in einer dienstleistungsorientierten Gesellschaft auch Sterben und Tod zur Dienstleistung wird – nach Qualitätsstandards normiert und entsprechend abrechenbar.

In einer Klinik oder einer Einrichtung der Langzeitpflege, wo verschiedene Berufsgruppen zusammenarbeiten, sind dann Pflegende vom Wandel des Ärztebildes „mitbetroffen“. Dabei gehört es ja zur Pflege, sich auf den einzelnen Menschen in seiner Angewiesenheit einzulassen und ihm seine ihm eigene Würde widerzuspiegeln. „Pflegende versuchen bis zur Grenze der Selbstausbeutung diesen Kern ihrer Profession zu bewahren – unweigerlich zerrieben von der moralischen Dissonanz, die ihnen das Gesundheitssystem auferlegt“, hat Giovanni Maio geschrieben[8]. Und spiegelbildlich empfinden sich Pflegebedürftige nur noch als Aufwand – als Pflegefall, der Zeit und Geld kostet. In einer Umfrage haben 92 Prozent der befragten Ärzt*innen und Pflegenden angegeben, dass sie den Eindruck hatten, Leid zu erzeugen, während sie Menschen helfen wollten. Sie gaben Sondennahrung, mobilisierten, beatmeten – immer mit dem Gefühl, gegen die Interessen der Patient*innen zu handeln. Und eine der häufigsten Sorgen, die Patienten ihnen anvertrauen, ist, anderen nur noch zur Last zu fallen. „Wenn mir niemand mehr helfen kann, wenn ich nur noch Last bin,“ sagen sie, „dann will ich lieber sterben.“

Letztlich läuft alles auf die Frage hinaus, ob wir Orte schaffen können, in denen man neu auf die Bedürfnisse der Patient*innen als Bedürfnisse ganzer Menschen hört. Orte, wo Menschen Respekt und Würde erfahren. Für mich ist das eine der wichtigsten Lehren aus der Corona-Pandemie. Dazu gehören enge persönliche Kontakte zu Familien, Freunden und Pflegepersonen, die Verwirklichung ästhetischer, kultureller und spiritueller Bedürfnisse, die Verwirklichung der eigenen ethischen Ansprüche und Werte und die Förderung der Selbstverantwortung. Annelie Keil spricht in diesem Zusammenhang von palliativer Selbstsorge: „Sich der eigenen Lebenserfahrungen bewusst zu werden, sich im Sterben zusammen mit Menschen, die einem wichtig sind, dem Gelebten wie dem Ungelebten zuzuwenden, das ist die palliative Selbstsorge, die wir brauchen, um in Würde Abschied zu nehmen.“[9]

Um Orte zu schaffen, an denen Menschen respektiert werden – auch mit ihren Sterbewünschen – braucht es Offenheit und Verbundenheit auch im Gespräch der Professionen untereinander. Denn wenn sich die Rolle der Ärzte verändert, trifft das auch die Pflegenden. Wenn eine neue Form der Beratung hinzukommt, verändert sich auch die Rolle der Seelsorge. Erst im offenen Gespräch miteinander kann uns bewusst werden, dass die meisten von uns verschiedene Rollen in sich tragen: neben die fachliche Rolle schiebt sich die eigene Erfahrung als Tochter, Sohn, Angehörige. Oder auch die Erfahrung mit eigenen schweren Krankheiten. Im offenen Gespräch, am besten im supervidierten Gespräch miteinander, können solche Fragen bearbeitet werden und unterschiedliche ethische Standpunkte zur Sprache kommen und ausgehalten werden. Tatsächlich ist ja die persönliche Haltung zu diesen grundlegenden Fragen oft ebenso durch existentielle Erfahrungen wie durch Prinzipien geprägt. Wer Erfahrungen mit ethischer Beratung hat, wünscht sich deutlich mehr Angebote von Trägern und Verbänden. So – im Hören aufeinander – entstehen im besten Fall tragfähige Sorgenetze von Angehörigen, Freunden, Pflegenden und Ärzten rund um die Sterbenden, in denen sich Sterbende gehört und gesehen wissen.

Den Blick weiten

Von den Kirchen wünsche ich mir, dass sie im Gespräch mit diesen Erfahrungen bleiben, die Nöte der einzelnen sehen und zugleich einen Blick für das gesamte System behalten. Denn angesichts dessen, was wir in der Corona-Krise erlebt haben, sehe auch ich die Gefahr, dass die Möglichkeit der Suizidassistenz als Aufforderung begriffen wird, anderen nicht zur Last zu fallen – oder als Erlaubnis, sich von den „Lasten“ einer alternden Gesellschaft zu befreien. Schon in der Pandemie ging es ja immer häufiger darum, die Vulnerablen zu schützen, ohne aber das Leben der fitten Mehrheit zu beeinträchtigen.

Und trotzdem habe ich noch immer die Hoffnung, dass Corona uns, wie Christoph Quarch geschrieben hat, Solidarität und Verbundenheit gelehrt hat. Dass Menschen sich auf den Weg machen und anderen zeigen, dass Leben sich trotz allem lohnt. So wie die Gruppen, die in der Pandemie Musik vor den Pflegeheimen machten oder die Konfirmanden, die Ostergrüße schrieben. Ich habe die Hoffnung, dass das Leben größer ist als meine Verzagtheit und Verzweiflung.

Denn in den religiösen Traditionen ist Verbundenheit nie nur horizontal, sondern immer auch vertikal gedacht, in der Verbundenheit mit „unseren Toten“, für die wir ein Leben bei Gott erhoffen. Friedhöfe, Gedenk- und Erinnerungsorte erzählen davon. Gemeinden sind Erzählgemeinschaften über die Generationen. Auch Pflegeeinrichtungen, Krankenhauskapellen und Hospize können dafür viel mehr Raum geben. In Gedenkgottesdiensten zeigt sich: Sie sind auch Ort für die Fürbitte. Für die Sterbenden, die Trauernden und auch alle, die mit ihren Sterbewünschen nicht zurechtkommen. Und für die Pflegenden, Ärzt*innen und Seelsorgepersonen, die ihr Bestes geben, um die Hoffnung zu wahren. Wenn uns niemand mehr helfen kann, wenn selbst Gott verborgen ist, tut es gut, miteinander und füreinander zu beten, im Vertrauen auf das Geheimnis des Lebens, das wir im Sterben Jesu entdecken können.

Cornelia Coenen-Marx


[1] Christoph Quarch (2020): Neustart. Fünfzehn Lehren aus der Corona-Krise. Legenda.

[2] Thiessen, Barbara u.a.: Großputz! Das Gesundheitswesen nach Corona neue gestalten. Auf Care-macht-mehr.com  2020.

[3] Keil, Annelie, Scherf, Henning, Das letzte Tabu: Über das Sterben reden und den Abschied leben lernen, Freiburg 2016

[4] Gemeinsame Erklärung der Vorsitzenden des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonfe- renz zum Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (26. 2.2020)

https://www.ekd.de/gemeinsame-erklaerung- dbk-und-ekd-zum-urteil-selbsttotung-53539.htm

[5] www.ev.rub.de/aktuelles/pt-karle/2021/news00346.html.de

[6] https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/sterbehilfe-debatte-in-der-evangelischen-kirche-auch-im-willentlichen-sterben-kommt-das-leben-vor

[7] Gronemeyer, Reimer, Heller, Andreas, Suizidassistenz? Warum wir eine solidarische Gesellschaft

brauchen!. Hospizverlag, 2021

[8] Maio, Giovanni, Werte für die Medizin, München 2015

[9] Keil, Scherf, a.a.O.