Haltetaue der Sehnsucht

Referat von OKR’in Cornelia Coenen-Marx, EKD

Anlass: Begegnungstagung „Geistliche Gemeinschaften“
„Wirf dein Seil hinüber – Haltetaue der Sehnsucht“

Berlin-Zehlendorf, 19.-21. November 2010

 

1. Sehnsucht nach Gemeinschaft

Es gibt eine Frage, die ich in meiner Zeit als Kaiserswerther Vorsteherin so oft gehört habe wie keine andere. Die Frage heißt: „Wie viele Diakonissen haben Sie denn noch?“ Wenn Besucherinnen und Besucher das Mutterhaus besichtigten, fragten sie regelmäßig, und immer war die Freude groß, wenn denn noch einmal eine Schwester in Tracht und Haube zu sehen war. Fast jeder konnte von der Gemeindeschwester erzählen, die den Kindergarten geleitet und die Oma gepflegt hatte, viele von einer Tante, die Diakonisse gewesen war. Die Melancholie, die in diesen Fragen steckte, konnte ich gut verstehen – auch ich kenne den dunkelblauen Stoff mit den hellblauen Pünktchen seit frühester Kindheit. Und trotzdem fand ich die nicht enden wollende Trauer über das allmähliche Sterben der alten Gemeinschaft mühsam. „Wie viele Schwestern haben Sie denn noch?“ Die Sentimentalität in dieser Frage macht es schwierig, loszulassen und Neues zu gestalten. tatsächlich: wann immer wir eingeladen haben in den Berufstätigenkonvent, war die Öffentlichkeit vor allem enttäuscht, dass nichts mehr so schien, wie es war. Erwartungen von außen können auch unsere eigene Entwicklung einengen. Eine realistische Wahrnehmung ist die notwendige Voraussetzung für einen neuen Anfang – und vielleicht hat es einen tiefen Sinn, dass wir heute am Ende des Kirchenjahrs hier zusammen sind – in einer Zeit des Abschiednehmens voller Hoffnung auf einen neuen Anfang.

Ich habe manchmal an die alte Wüstenvätergeschichte gedacht, in der ein Pilger an einer Baustelle vorbeikommt. Es scheint eine Abtei zu sein, an der gearbeitet wird. Der Pilger spricht einen Mann an, der davor sitzt und die Arbeit beaufsichtigt – es scheint ein Mönch zu sein. Und es stellt sich heraus: das ist sogar der Abt: „Oh, es tut so gut, zu sehen, dass an einem Kloster gebaut wird“, sagt der Pilger. „Nein“; sagt der Abt, „wir reißen es ab“. „Sie reißen es selber ab? Warum denn?“ „Damit wir wieder im Morgengrauen den Sonnenaufgang sehen können“; sagt der Abt.

Ja, es kann passieren, dass wir vor lauter Traditionsgebäuden vergessen, worum es eigentlich geht und was Kern unseres Auftrags ist. In Kaiserswerth jedenfalls hatte ich oft das Gefühl, dass die Traurigkeit sich zu sehr an den alten Formen festmachte und die Asche konservierte, statt nach dem Feuer unter der Glut zu fragen. Interessanterweise waren es aber nicht nur die meist älteren Patienten, Angehörige und Mutterhausbesucher, die fragten. Auch bei den Einführungsseminaren für neue Mitarbeitende faszinierte nichts so sehr wie die Berichte der alten Diakonissen über ihren Alltag in der Gemeinschaft. Dabei kam es eigentlich nicht darauf an, ob die Schwester, die da erzählte, Tracht und Haube trug. Ihre Erfahrungen waren gefragt – Erfahrungen aus einer anderen Welt. Da gehörten der gemeinsame Mittagstisch und die Tagzeitengebete noch selbstverständlich zum Arbeitsalltag. Da blieb Zeit, an einem Sterbebett zu sitzen – wenn es sein musste, bis in die Nacht. Da gehörten die Küchenschwestern genauso zur Gemeinschaft wie die Stationsleitungen und kein Tarif spaltete die Kerntruppe vom outgesourcten Rest. Schwestern erzählten von ihren Berufskarrieren mit immer neuen Stationen und immer neuen Lernerfahrungen, von Auslandsaufenthalten in Brasilien, Rom, Jerusalem – von Karrieren, die heute in verantwortliche Leitungspositionen führen konnten und einen morgen wieder auf die Schulbank brachten, down to earth. Beim Erzählen leuchteten die Augen der Zuhörerinnen.

Und das, obwohl jeder wusste, dass dieses Leben seinen Preis hatte: Diese Sterbebegleitung war nur möglich, weil Schwestern so mit ihren Stationen verbunden waren, dass sie dort lebten und oft genug auch übernachteten. Der gemeinsame Mittagstisch war nur möglich, weil das Mutterhaus seine Töchter versorgte – und weil jede von ihnen auf eine eigene Familie verzichtete. Die Gleichstellung aller Dienste war nur möglich, weil alle auf Einkommen verzichteten. Ins Ausland, wo manche auflebten, wurde man geschickt – oft genug, ohne die Sprache vorher zu lernen. Entschiedenheit, Courage, Verzicht und Konzentration waren der Schlüssel für dieses Leben; das wussten die jungen Mitarbeiterinnen, die so begeistert zuhörten. Aber das änderte nichts an der Faszination.

Es ist wohl eine verlockende Vorstellung, sich einordnen zu können in ein größeres Ganzes, und den komplexen, funktionalisierten Alltag mit all seinen Konflikten hinter sich zu lassen. Die Schmerzen der Autonomie, des dauernden Zwangs zu entscheiden, sich selbst immer neu zu erfinden und immer wieder unterschiedlichste Rollen zu vereinbaren – einfach hinter sich zu lassen. Ich weiß aber auch: Menschen sehnen sich danach, ihre Berufung zu kennen, zu tun, was ihnen entspricht und der Stimme ihres Herzens zu folgen. Menschen möchten einen unverwechselbaren Beitrag leisten. George Bernhard Shaw – eher ein Skeptiker als ein überzeugter Christ – hat das einmal in Sätze gekleidet, die erschreckend steil und unmodern sind, aber diese Sehnsucht wohl treffen. „Dies ist die wahre Freude im Leben – gebraucht zu werden für einen Zweck, den man selbst als einen mächtigen erkennt, vollständig aufgebraucht zu sein, bevor man auf den Müllhaufen geworfen wird. Eine Naturkraft zu sein, statt ein kleiner, fiebernder, egoistischer Klumpen der Wehleidigkeit und des Jammers, der sich beschwert, das die Welt sich nicht aufopfern will, ihn glücklich zu machen.“ Gebraucht werden und die eigene Berufung erkennen, Teil eines Ganzen sein und Zugehörigkeit spüren – das ist gerade in unserer individualisierten Moderne gefragt.

Als ich als Vorsteherin in Kaiserswerth anfing, waren gerade zwei neue, junge Schwestern eingeführt worden. Eine von den beiden wollte sich noch einmal ganz hineingeben in diese Tradition des Dienstes, der Hingabe und Selbstvergessenheit – sie trug im ersten Jahr nach der Einsegnung Tracht und Haube als sichtbares Zeichen der Sehnsucht nach einem anderen Leben. „Ich werfe meine Sehnsucht zu Dir rüber – wie ein Tau von einem Schiff an Land“, heißt es in einem Lied. „Vielleicht ist einer da und holt mich rüber, vielleicht, vielleicht, vielleicht nimmt einer meine Hand.“

Gemeinschaften sind Haltetaue der Sehnsucht, sie symbolisieren einen Geist, der den Egoismus unserer Gegenwart überschreitet. Vor allem das Werden und Wachsen neuer Gemeinschaften symbolisiert „das Ende der Egomanie“; wie es Horst-Eberhard Richter schon vor Jahren in einem Buch über die Krise des westlichen Bewusstseins nannte. Gemeinschaften sind Hoffnungsanker gegen den Schmerz der Einsamkeit. Aber dieser Schmerz, das werden wir gleich sehen, lebt natürlich auch in der Gemeinschaft. Und die jungen Novizinnen wurden, wie es wohl überall geschieht, sehr schnell zu Hoffnungsträgerinnen einer alternden Gemeinschaft- eine Rolle, der wohl kaum jemand auf Dauer gewachsen ist. Keine von beiden gehört mehr dazu.

 

2. Wir können unserer Zeit nicht entfliehen

„Was in zwei Koffer passt“ heißt das Buch von Veronika Peters über ihre Klosterjahre als Benediktinerin. Sie erzählt darin von der Faszination des alternativen Lebens, den Rückzugsmöglichkeiten in einem Kloster, der Suche nach dem Grund des Daseins, nach einem Leben, das größer ist als unser eigenes. Sie erzählt aber auch davon, dass sie nach einem Theologiestudium von der Mutter Oberin zur Leiterin einer Buchhandlung ernannt wird und wie sie dort, mitten im Kloster, einen ganz normalen Arbeitsalltag erlebt. Hierarchie und Aufträge, Wettbewerb und Management, Planungen und Ergebnisse – so hatte sie sich das nicht vorgestellt. Die Klosterfrau wird zur Chefeinkäuferin, Computerfachfrau, Dekorateurin, Verkäuferin, schließlich auch zur Organisatorin von gut besuchten Lesungen – und hat plötzlich einen Fulltime-Job mit respektabler Erfolgsquote. Nur hat dieses Alltagsleben nichts mehr mit dem zu tun, was sie im Kloster gesucht hatte. Sie leistet einen Beitrag zur finanziellen Sicherung der Gemeinschaft – aber sie spürt nichts von dem spirituellen Feuer, das die Gemeinschaft wärmt. Oder, so überlegt sie, fehlt es ihr an Gemeinschaftsfähigkeit? Veronika erlebt die Einbindung in ein festes, manchmal enges, manchmal wunderbares Gefüge, aus dem sich zu lösen es einen guten Grund braucht. Aber manchmal, so schreibt sie, „legt sich die Bindung an diesen Ort wie eine Schlinge um meinen Hals.“

Die Suche nach Zugehörigkeit und Bindung, nach Rückbindung – denn nichts anderes bedeutet ja „Religion“ – zeigt ihre Kehrseite: eingebunden sein, an einen Ort gebunden sein, keine großen Sprünge machen können. In einer Zeit, in der die meisten Menschen sich aus überkommenen Bindungen lösen, trifft das zwar unsere Sehnsucht – ist aber auch eine große Herausforderung.

Das Buch erzählt, wie Veronika allmählich zu einer erfolgreichen Geschäftsfrau wird und, fast ohne es zu merken, in immer stärkere Distanz zum Kloster gerät. Der Spagat zwischen Geschäft und Gemeinschaft wird zur Zerreißprobe, immer weniger nimmt sie am Klosterleben teil. Aus der äußeren Distanz wird eine innere. So verliebt sie sich, ohne es selbst zunächst zu merken, in einen Kunden ihrer Buchhandlung, mit dem sie zunächst nur Bücher, Texte, Gedichte teilt. Und packt dann kurz entschlossen, in einer plötzlich sehr klaren Entscheidung, was in zwei Koffer passt – und verlässt das Kloster.

„Ich habe diesen Ort geliebt“; schreibt sie am Schluss ihres Buches. „Er war etwas Besonderes, auch wenn er nicht gehalten hat, was ich mir von ihm versprach. Eine abgeschlossene, kleine Welt, die ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgte. Der Garten, die Psalmengesänge, die Frauen, auf deren Freundschaft ich immer stolz sein werde. Raphaelas Mütterlichkeit, Luises Weisheit, Marias Freundlichkeit, Pias borstige Treue, Hedwigs warmer Gesang, Margaritas trockener Humor, Simones klarer Verstand – die Liste könnte noch länger sein. Jeder einzelnen verdanke ich viel. Es war eine wichtige Zeit, trotz – oder gerade wegen – all der inneren Kämpfe und Widerstände.“

Ich könnte hier meine eigene Liste imponierender Frauen anhängen, denn ich habe beim Lesen dieses Buches vieles und viele wieder erkannt. Vor allem aber habe ich bestimmte Muster wieder erkannt:

  • Da ist ein Ort voller Geschichte und Schönheit, ein Kloster, ein Mutterhaus, ein Pilgerort, der eine besondere Faszination ausstrahlt. Ein „durchbeteter Ort“, sei unsere Mutterhauskirche, sagten Mitarbeiter gern. Und sie hätten sie gern weiter ausgeschmückt und auch für andere geöffnet: mit Ikonen und Weihwasserbecken, mit Gebetsbänkchen und Teppichen. Zu diesem Ort gehören der Park und der Friedhof, aber auch die Ursprungsgeschichte, die Legenden der Gründer, die alten Bilder. Heimat und Geborgenheit finden wir an Plätzen, die über sich selbst hinausweisen und Wurzeln haben in einer anderen Zeit.
  • Da sind die Rituale, die Liturgien und Gesänge, die Tagzeitengebeten, zu denen die Gemeinschaft aus der Zerstreuung des Tages zusammen kommt – die Glocken, die zu allen Gebetszeiten zu hören sind und wie ein Weckruf über dem Gelände nachklingen: Angebote zur Sammlung, zur Konzentration und Stille. „Sammlung“, schreibt Emanuel Jungclaussen, „ist nicht nur der Gegensatz zur Zerstreuung, sie ist die Antithese zu allem Aufgeben an der Peripherie und zum Sich-Gehen-Lassen. Sammlung ist das Einheitlich-Werden der ganzen Person, das Erwachen zum eigentlichen Selbst, der Durchbruch in die Tiefe. Nur der Gesammelte ist wirklich wach. Nur der Wache lebt wirklich“.
  • Und schließlich die Menschen, mit denen man sich intensiv auseinandersetzt und die einem allmählich zur Familie werden – die in unseren Gesichtern lesen könnten und uns verbunden bleiben. Dass das bruchstückhaft erkannte Du tiefer menschlicher Beziehungen eines Tages einmündet in das große Du der Ewigkeit, dass wir hinter all dem Fragmentarischen, manchmal Schmerzhaften und jedenfalls Fehlerhaften menschlicher Gemeinschaft die Gemeinschaft der Heiligen erkennen und auch für Augenblicke erfahren; das wünschen wir uns alle. Und es kann geschehen: in der plötzlichen Übereinkunft nach langer Suche, im gemeinsamen Gesang der verschiedenen Stimmen, in der Stille des Gebets, in einer gemeinsamen Aufgabe.
  • Aber auch etwas anderes habe ich wieder erkannt: den Alltag der Gemeinschaft. Den Berufsalltag, die Auseinandersetzungen innerhalb der Hierarchie, die schmerzhaften Konkurrenzkämpfe zwischen den Schwestern, die Zerreißproben zwischen Geschäft und Kontemplation. Zumindest für die Schwesternschaften in den großen diakonischen Unternehmen sind diese Zerreißproben zum Alltag geworden.
  • Die Vorstellung, dass berufstätige Schwestern am Morgen- und Abendgebet teilnehmen könnten, wurde schon lange aufgegeben – zumeist liegen die Gebetszeiten so, dass sie mit den Schichten nicht vereinbar sind. Kontemplation für Mitarbeitende – das ist Privatsache geworden, Freizeit also – für die meisten ist es nicht mehr attraktiv, sie im beruflichen Kontext zu verbringen. Zu sehr reiben sich die Logik der Dienstleistung, die sich um Gewinn und Nutzen dreht, mit der der Gemeinschaft, die auf Gabenaustausch basiert. Die Logik der Unternehmen, in denen Management, Strategie und Planung zählen und die Uhr diktiert, mit denen des Dienstes, der auf Personalität und Beziehungsgestaltung basiert. Es kann nicht verwundern, dass viele Mitarbeitende es als Widerspruch erleben, wenn diakonische Unternehmen spirituelle Angebote machen. Und manches Finanzamt übrigens sieht darin einen geldwerten Vorteil.
  • Wo nicht Sinn gesucht wird, sondern der Nutzen regiert, wo alles in Dienstleistungen beschrieben werden kann, wird dann auch die Frage laut, was die spirituellen Angebote, was die Gemeinschaften dem Unternehmen bringen. Die Funktionalisierung der Moderne macht auch vor dem inneren Kern nicht halt. Und das bedeutet: sie berührt auch die Personen, die einander in der Gemeinschaft begegnen – mit ihren unterschiedlichen Berufsbiographien, den verschiedenen Kompetenzen und Hierarchiestufen. Draußen halten lässt sich nicht. Die Frage ist, ob die Kräfte reichen, die Perspektive zu weiten und den Alltag neu zu gestalten. Diejenigen, die wieder gegangen sind, hatten das Gefühl, sie wären an diesem Projekt gescheitert.

Auch Veronika Peters setzt sich mit diesen Fragen auseinander: „Im Buddhismus ist es durchaus üblich, sich für eine Zeit in ein Kloster zu begeben, zu lernen, was man lernen zu müssen glaubt, einen Monat, ein Jahr, zehn Jahre, um dann in eine neue Lebensphase zu treten“; schreibt sie zum Schluss. „Die Nonnen werden das wahrscheinlich nicht so sehen. Ich habe mit ihnen gelebt, gebetet, gearbeitet, das war meistens schön und manchmal gut, aber es musste nicht für die Ewigkeit sein… Gescheitert – nein, weitergegangen.“

 

3. Vom Wunsch nach Achtsamkeit in brüchigen Ordnungen

Andreas Feldtkeller, praktischer Theologe und ehemaliger Vikar im Libanon, hat ein inspirierendes Buch mit dem Titel „Warum denn Religion?“ geschrieben. Darin zeigt er an vielen Beispielen, Texten und Geschichten aus den Weltreligionen, dass Religion nicht nur eine Frage von Bewusstsein und Spiritualität, von Ethik und Sinngebung ist: Sie hat es immer mit Leiblichkeit, Gemeinschaft und Eingebunden-Sein in das Ganze zu tun. Also: mit Herzschlag und Atem, mit Essen und Trinken, mit Pilgern und Bewegtwerden, mit Sexualität und Geschlechterrollen, mit Generationenbeziehungen und Bildung, mit Fürsorge und Pflege, mit Beheimatung an bestimmten Orten und mit den Rhythmen des Jahres und des Lebens. Mit Ordnungen also, die wir dem Ganzen geben. In unserer modernen, mobilen, säkularen westlichen Welt, meint er, seien diese Ordnungen verloren gegangen, sie seien vernachlässigt und missachtet worden. Heute kämen auf dem Umweg über andere Religionen wieder zu uns zurück. Mit Atem- und Achtsamkeitsübungen, mit Fastenzeiten und Pilgerwegen, mit der Hospizbewegung, mit einer Aktion wie dem „Anderen Advent“, im Kampf um den arbeitsfreien Sonntag, in den Klöstern auf Zeit und in der Suche nach Gemeinschaft.

Aber die Selbstverständlichkeit, mit der sich frühere Generationen in ihrer religiösen Tradition bergen konnten, ist verloren. Der Zweiklang von Aktion und Kontemplation, von Gottes- und Weltbezug, der das Leben der diakonischen Gemeinschaften bestimmt hatte, ist zerbrochen. Die Bibelworte über den Eingangstüren der Mutter- und Bruderhäuser und die alten Liturgien werden nicht mehr verstanden, die Tischgemeinschaften wichen den Buffets der Caterer, zu denen jeder kommt, wann er Zeit hat, die gemeinsame Tagesstruktur ist zerbrochen, seit Arbeit und Leben auseinander gefallen sind. Die Sehnsucht nach Religion ist ungestillt, aber die Institutionen, in denen Arbeit und Leben, Glaube und Handeln verbunden waren, haben ihren Charakter vollkommen verändert. Das Auseinanderfallen der Gesellschaft in unabhängige Teilsysteme, das Niklas Luhmann so trefflich beschrieben hat, hat vor der Diakonie natürlich nicht haltgemacht: Die Einheit von Glaubens- Lebens- und Dienstgemeinschaft ist weitgehend aufgelöst – genauso wie die Identität von Institution und Person im diakonischen Amt und die von Arbeit und Leben bei jedem einzelnen Mitarbeiter.

Die neue Suche nach Ganzheitlichkeit wird an persönlichen Erfahrungen festgemacht. Viele möchten ihren Glauben „erden“, durch Handauflegen, Salbung, Berührung. Das Hier und Jetzt des eigenen Körpers bietet den Rahmen für intensive und unmittelbare Wahrnehmung. Rituale gewinnen neue Bedeutung – als gestalteter Ausdruck von Gefühlen, von Übergängen in Zeit und Raum. Die Gemeinschaften, in denen Leiblichkeit und Emotion nur eine sehr vermittelte Rolle spielte, werden auch durch diese Veränderungen herausgefordert. Charlotte Renner, die Kaiserswerther Oberin der sechziger Jahre, hat diese Veränderungen schon 1967 thematisiert. Sie schrieb: der Kern der Gemeinschaft sei „ungeteilte Aufmerksamkeit“ – in „Gebetsstille und Meditation“ – aber auch in der Wahrnehmung des Dienstes. Zeiten des Rückzugs seien dringend nötig, damit der Blick sich klärt und die Perspektive sich öffnet für die Transzendenz hinter der sichtbaren Wirklichkeit.

Die östliche religiöse Tradition spricht in diesem Zusammenhang von „einfühlsamer Präsenz“: Dazu gehören, wie der Psychologe David Richo schreibt, fünf Qualitäten: Aufmerksamkeit, Annahme, Wertschätzung, Zuneigung und Zulassen. Diese Qualitäten sind notwendig, um andere zu unterstützen und mit zu fühlen, sie sind aber eben so nötig, um mit den eigenen Schwächen und Fehlern angemessen umzugehen.

Darum geht es auch Veronika Peters: Sie fühlt sich nicht verstanden, wenn die Oberin im Namen der Gemeinschaftsnorm ihre Gefühle verletzt und im Namen des größeren Ganzen über Widersprüche hinweggeht. Es ist nämlich nicht die Suche nach der Wahrheit im Sinne einer Norm, die sie ins Kloster gebracht hat – es ist die Suche nach dem lebendigen Gott, und die Hoffnung, dass die Gemeinschaft dafür einen Rahmen bereit halten könnte. Als eine Schwester die unzufriedene Veronika in der Buchhandlung besucht, versucht sie sie dazu zu bewegen, diese Arbeit einfach anzunehmen. Keine Arbeit könne einen Menschen aus der Gemeinschaft heraus treiben, sagt sie, wenn das Fundament stimme. Das Dasein als Ordensfrau sei eine Frage der inneren Haltung. „Und das berühmte Beispiel vom Meister kommt mir in den Sinn, der inmitten einer stark befahrenen Kreuzung unerschütterlich meditiert“, schreibt Veronika. „Es gibt sie, die in die Tiefe dringen, wie auch immer die äußeren Umstände beschaffen sind. Bei mir hat es bislang nur für ein Kratzen an der Oberfläche gereicht, allenfalls die Freilegung der oberen Schicht“.

„Wenn Gott es ist, der meine Sehnsucht annimmt und mich lässt – wenn Gott es ist, dann hält er mich mit meiner Sehnsucht fest.“

 

4. Freiheit und Verbundenheit: Spannungsfelder der Gemeinschaft

Fragen wir noch einmal nach dem Rahmen, in dem unsere Gemeinschaften leben und lebten. Eine Neuformulierung des Diakonissenspruches von Hermann Löhe, der auch im Kaiserswerther Mutterhaus einst auf jedem Nachttisch stand („Mein Lohn ist, dass ich darf“) würde „heutzutage eher von der Freiheit reden müssen, zu der uns Christus befreit hat“, schrieb der Kasseler Vorsteher Friedrich Thiele 1963. Die Schwestern müssten in viel betonterer und andersartiger Weise selbst Subjekt ihres Lebens …werden…“[1]. Damals belastete die Anpassung der meisten diakonischen Einrichtungen an die Gesundheits- und Rassepolitik des Dritten Reiches die Gewissen vieler Schwestern noch immer schwer. Sie haben sich lebenslang erinnert an die Sterilisationen unter Anleitung der Ärzte und die Entlassung psychisch Kranker mit Billigung der Vorsteher, an die Transporte Behinderter nach Hadamar – das waren Erfahrungen, die die Integrität der Einrichtungen und die Autorität der Vorgesetzten kontaminierten. Mitglieder fühlten sich gezwungen, gegen das eigene Gewissen zu handeln – im Gehorsam gegen Vorgesetzte, die sich nicht scheuten, noch die Theologie für wirtschaftliche und politische Zwecke zu missbrauchen. Freiheit ist eine Grundvoraussetzung für eine evangelische Gemeinschaft. Haben wir das möglicherweise eine Zeitlang vergessen, weil die Dienstgemeinschaft eben auch den Einrichtungen und Unternehmen diente? Wo Gemeinschaft funktionalisiert wird, ist sie gefährdet.

Heute ist Freiheit eine selbstverständliche Grundlage gemeinschaftlichen Lebens. Über das, was die Gemeinschaft betrifft, entscheiden die gewählten Räte, Vorsteherinnen und Bruderälteste agieren eher als deren Vorsitzende. Die Zeit, in der sie zugleich Dienstvorgesetzte waren, ist ohnehin fast überall vorbei. Gegen seinen oder ihren Willen wird niemand mehr in einen Einsatz gestellt. Und über die Frage, wo jemand wohnt, entscheiden nur noch im Feierabend andere – mit all den schmerzhaften Abhängigkeiten, die dazu gehören – Abhängigkeiten von einem Unternehmen, das längst anderen Gesetzen folgt als denen der Genossenschaften.

Dies ist vielleicht der Augenblick, in dem ich noch einmal deutlich machen muss, dass es gerade in den diakonischen Gemeinschaften vielfältige Überschneidungen zwischen Gemeinschaft, Amt und Beruf gegeben hat. Das ist kein Wunder, wenn man sich klar macht, wie eng Beruf und Berufung in unserer Tradition zusammen gehören. Und es ist mehr als nachvollziehbar, dass gerade die diakonischen Gemeinschaften von Anfang an darum kämpften, dem diakonischen Amt als äußere Bestätigung der Berufung durch die Kirche zu stärken. Diakonische Gemeinschaften sind damit Gemeinschaften in bestimmten Berufs- und Handlungsfeldern, die den Charakter der Berufung zu diesem Dienst wach halten wollten – das gilt vor allem für die Pflege, die dabei im Spannungsfeld zwischen Person, Funktionalisierung und Dienstleistung beinahe aufgesogen wurde.

Nach ihrem eigenen Selbstverständnis sind diakonische Gemeinschaften also Konvente von Amtsträgern im Diakonat der Kirche – das gilt vor allem für die Diakoninnen- und Diakonengemeinschaften. Kein Wunder, dass das EKU-Diakonengesetz für die Einsegnung keine Verpflichtung zur Mitgliedschaft in der Gemeinschaft vorsah – und sich jedenfalls darin nicht vom Pfarrdienstrecht unterschied. Für die Berufsausübung ist Gemeinschaft nicht nötig. Nötig ist sie für diejenigen, die sich wünschen, ihre Berufung, vielleicht auch die in einem bestimmten Arbeitsfeld, mit anderen zu teilen und gemeinsam das Feuer zu pflegen, das sie in diesen Dienst gebracht hat. Das aber gelingt nur in Freiheit und jenseits der beruflichen Hierarchien und der Regeln einer Organisation mit ihrer Machtausübung und ihren Sanktionen, die in früherer Zeit bis in die Lebensformen hineinreichten – von der Verlobung der Diakoninnen und Diakone bis hin zur Trennung von Schwestern, die als Freundinnen zusammen lebten.

Heute werden in vielen Gemeinschaften unterschiedliche Lebensformen akzeptiert. So heißt es in der Kaiserswerther Schwesternordnung von 2001: „Ob Frauen verheiratet oder nicht verheiratet sind, ob sie mit Kindern oder kinderlos leben, ob sie voll- oder teilzeitbeschäftigt oder ohne Erwerbsarbeit sind – wir akzeptieren, dass sich Frauen je nach Lebenssituation unterschiedlich stark an die Gemeinschaft binden können und möchten. Wir achten untereinander Verletzlichkeit und Grenzen, Träume, Hoffnungen und unterschiedliche Frömmigkeitsstile“. Wer diese Vielfalt zulässt, wird sich allerdings fragen lassen müssen, wie er mit Konflikten umgeht – oder ob solche Toleranz nicht leicht umschlägt in Gleichgültigkeit. Nach meiner Erfahrung werden ‚heiße Themen‘ wie der Umgang mit Geld oder Sexualität nicht immer offen diskutiert. Eine falsch verstandene Freiheit aber kann die Gemeinschaft auseinander treiben.

„Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan“, heißt es bei Luther. Und er fährt fort: „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Autonomie und Gewissensfreiheit einerseits und die Sehnsucht nach Einheit, die Gestaltung von Gemeinschaft andererseits stehen in Spannung zueinander. Diese Spannung lässt sich nur lösen durch Achtsamkeit und Respekt für die eigenen Werte wie für die der anderen – also durch vertrauensvolle Offenheit und ehrlichen Austausch. Das geordnete Gespräch über Konfliktthemen gehört dazu. Es braucht klare Strukturen und Verabredungen, überschaubare Gruppen und auch die persönliche Ebene von seelsorglicher und geistlicher Begleitung oder auch Supervision, damit das möglich ist. Damit ist die Frage der Kommunikation in Gemeinschaften angesprochen, über die sich, glaube ich, ein eigenes Referat halten ließe: Hier wäre zu sprechen über den Umgang mit „Familiengeheimnisse“ in Gemeinschaften, über ihre Tendenz, sich nach außen abzuschließen und damit auch die Schattenseiten zu verbergen.

Während meiner Zugehörigkeit zur Kaiserswerther Schwesternschaft sind mir diese Fragen sehr bewusst geworden. Ich habe in meinem damaligen Tagebuch nachgeschlagen und noch einmal gelesen, was mir damals im Spannungsfeld von Freiheit und Bezogenheit wesentlich schien:

  1. Ich möchte jedem und jeder Mut machen, sich der eigenen Freiheit zu stellen – ihrer Schönheit und auch ihrem Schrecken. Dazu gehört die Notwendigkeit, über das eigene Leben zu entscheiden: über Bindungen, Berufswege und Lebensmittelpunkte. Keine Gemeinschaft darf auf Dauer dazu dienen, vor der Freiheit zu fliehen – in ein Nest kindlicher Geborgenheit. Ich erinnere an das alte klösterliche Bild vom Adlerjungen, der fliegen lernen muss. Es gehört konstitutiv zur Freiheit, dass wir den eigenen Weg finden, aber auch umkehren und Entscheidungen revidieren können.
  2. Ich möchte jedem und jeder Mut machen, seine Gaben wahrzunehmen und weiter zu entwickeln und seiner eigenen Berufung nachzugehen. Aber auch: seine Schwächen und Grenzen anzunehmen. Die eigenen Gaben sind notwendig, um zum Aufbau des Ganzen beizutragen. Die Gemeinschaft lebt von den Stärken jedes Einzelnen – aber sie lebt auch mit unseren Schwächen. „Es wird darum gut sein, wenn jeder einzelne einen Auftrag für die Gemeinschaft erhält, damit er in Stunden des Zweifels weiß, dass er gebraucht wird“; schreibt Dietrich Bonhoeffer in seinem Buch „Gemeinsames Leben“. „Jede christliche Gemeinschaft muss wissen, dass nicht nur die Schwachen die Starken brauchen, sondern dass auch die Starken nicht ohne die Schwachen sein können. Die Ausschaltung der Schwachen ist der Tod der Gemeinschaft.“
  3. Ich möchte jedem und jeder Mut machen, sich der eigenen Sehnsucht nach Verbundenheit und der Freude an der Verantwortung zu stellen „Jeder Mensch dürstet nach innerer Verbundenheit“; schreibt Jean Vanier in seinem Buch „In Gemeinschaft leben“ – „aber innere Verbundenheit hat auch ihre Erfordernisse: Man muss aus seiner Nußschale heraus wollen, man muss verwundbar werden, um lieben und andere verstehen zu können, um jeden als einzigartig zu lieben.“ Genau dort aber, wo wir einander verletzen, beginnt auch die Angst vor der Gemeinschaft. In der Spannung zwischen Freiheit und Verbundenheit kommt es darauf an, im Gespräch zu bleiben. Es gilt, die Reaktionen anderer ernst zu nehmen, ohne uns ihnen zu unterwerfen. Kritik, Schweigen, Unterstützung, auch Streit sind verschiedene Weisen der Begleitung auf dem Weg. Ohne Geduld und Vergebung kann keine Gemeinschaft bestehen.
  4. Ich möchte jedem und jeder Mut machen, Normen zu hinterfragen. Was gut ist und was schlecht, was Stärke und was Schwäche, ist dabei manchmal nicht so klar, wie es scheint. Verzicht kann Stärke sein oder Schwäche, Schweigen Klugheit oder Feigheit. Normen, die gestern Stabilität gaben, können überholt sein. Gerade Gemeinschaften sind darauf angewiesen, dass Einzelne sich herauswagen, das scheinbar selbstverständliche in Frage stellen und den Mut haben, wahrhaftig zu sein. Das ist konstitutiv für eine evangelische Gemeinschaft. Gottes Geist ist kein Geist der Gesetzlichkeit, sondern der Freiheit. So verwandelt er auch Gemeinschaften in eine neue Zukunft.

Es gibt viele Ähnlichkeiten zwischen Gemeinschaften und Familien. „Um dem Ruf in eine Gemeinschaft zu folgen, muss ich mich entscheiden“; schreibt Vanier. „Einige fliehen davor, weil sie Angst haben, durch die Einwurzelung in eine bestimmte Erde ihre Bewegungsfreiheit zu verlieren… Sicher, wenn man eine Frau heiratet, verzichtet man auf tausend andere! Unsere persönliche Freiheit wird eingeengt. Aber die Freiheit wächst nicht in einem luftleeren Raum. Sie wächst auf einem bestimmten Boden mit bestimmten Menschen. Innerlich wachsen werden wir nur, wenn wir uns anderen gegenüber engagieren“: Hingabe und Selbstwerdung, Loslassen und Gewinnen sind verschränkt – Familienbeziehungen sind der Rahmen, in dem die meisten Menschen erfahren, wie beides zusammen gehört.

Aber auch Familien ringen heute mit der Spannung zwischen Autonomie und Bezogenheit, mit der Suche nach gemeinsamen Werten, Ritualen, einer gemeinsamen Kultur angesichts der unterschiedlichen Biographien und Herkunftskulturen. Manche reden in diesem Zusammenhang von der „Herstellungsleistung“, andere vom Aushandlungsalltag von Familien. Die Sehnsucht vieler Menschen nach Familie, nach Heimat und festen Beziehungen scheint jedenfalls weit größer zu sein, als die Kraft, die im Alltag nötig ist, sie zu halten und zu gestalten. In einer Kommission zum Thema „Ehe und Familie stärken“ denken wir zur Zeit in der EKD darüber nach, was nötig ist, um angesichts wachsender Herausforderungen und Anforderungen an Familien den Zusammenhalt zu stärken. Wie kann es gelingen zwischen dem Ideal der romantischen Liebe und der Überforderung des Familienalltags ein Leben zu gestalten, in dem das Miteinander wachsen kann? Und wie gehen wir dabei mit Scheitern und Neuanfängen um? Mit Verbindlichkeit, Verlässlichkeit und Verantwortlichkeit formuliert das neue EKD-Pfarrdienstrecht die entscheidenden Werte in dem Abschnitt, den man früher „Lebensordnung“ nannte.

Dass Gemeinschaften wie Familien vor den gleichen Herausforderungen stehen, ist mehr als eine zufällige Parallele. Die diakonischen Gemeinschaften des 19. Jahrhunderts entstanden ja in einer Zeit, in der die Herausforderungen für Familien wuchsen, und sie wurden ganz bewusst in Familienähnlichen Strukturen aufgebaut. Wenn Beck-Gernsheim heute in einem neuen Buch die Frage stellen: „Was kommt nach der Familie“ könnten wir uns also unmittelbar anschließen. Welche Gemeinschaften werden zukünftig die Diakonie der Kirche tragen?

 

5. Freundschaft als Kern der Gemeinschaft in Kirche und Diakonie

Freundschaft ist der Begriff, der mir dabei am ehesten in den Blick kommt. Freundschaften gewinnen an Bedeutung in unserer Gesellschaft. Angesichts wechselnder Jobs und auseinander brechender Ehen ist kaum noch jemand bereit, um eines Partners willen seine Freunde aufzugeben. Unter Freunden gibt es keine Über- und Unterordnung, ein hierarchisches Gefälle, der Nutzeneffekt tritt zurück zugunsten eines Gebens und Nehmens. Freunde stehen zueinander im Auf und Ab, sie entlasten einander, wo möglich, und muten einander, wo möglich, die Wahrheit zu.

„Ihr seid Freunde“; sagt der Johanneische Jesus ein ums andere Mal zu seinen Jüngern. Und „Gemeinschaft der Freunde“, nennt sich die Friedenskirche der Quäker, in der die Gemeinschaft des Sitzens in der Stille und das diakonische Handeln eine besondere Rolle spielt. Heute habe ich den Eindruck, dass die überschaubare Gemeinschaft wieder entdeckt wird – nicht so sehr in der Diakonie, wohl aber in der Kirche, in den Innenstadtkirchen, den alten Abteien und Klöstern. Ich denke an die Heiligkreuz-Kirche in Kreuzberg mit seinem umfriedeten Garten, der Spirale im Zentrum und dem Konventsraum mit dem runden Tisch unter Dach, die Brücke in Hamburg, das Segenskloster hier in Berlin: Allesamt Orte der Erneuerung. Ich denke aber auch an die Arche-Gruppen, in denen behinderte und nicht behinderte Menschen zusammen leben. An Motoki, das Gemeindewohnzimmer einer jungen Gemeinde in Köln. Plätze der Sammlung in der Zerstreuung. Schutzräume in den Wüsten der Städte. Orte der Klärung. Das ist die Rolle, die Gemeinschaften schon immer gehabt haben – wenn Menschen in der Gesamtkirche nicht fanden, was sie suchten. Ich denke auch an die Bekennenden Gemeinden in der Zeit des 3. Reiches, die in der Barmer Theologischen Erklärung dann ganz bewusst von der „Gemeinde von Brüdern“ sprachen. (Für mich als Rheinländerin oft besonders merkwürdig, weil dieses Bruder mit dem Nachnamen einherging, auch die spätere Inclusion der Schwestern mit dem Nachnamen einherging, während die Schwestern und Brüder in der Diakonie immer solche mit Vornamen blieben.)

Auch Diakonie ist, vielleicht mehr noch als Kirche, im Kern Gemeinschaft – die Gemeinschaft, in der der verletzte Mensch, der sterbende, der kranke oder behinderte Mensch die gleiche Würde hat wie der gesunde. Die Gemeinschaft auf Zeit, die sich um den Sterbenden herum orchestriert, die Gruppe, die jungen Eltern bei der Geburt ihrer Zwillinge zu Seite steht, der Verein von Eltern behinderter Kinder, die zusammen einen Reiterhof gründen – das ist die Tragkraft der Diakonie. Genauso wie das Mehrgenerationenhaus und die Wohngemeinschaft von jungen Leuten. Diese Art von Gemeinschaften sind lebendiger denn je, sie entstehen an allen Orten, vielleicht weil wir spüren, das Professionalisierung und Funktionalisierung nicht genügen – das Herz der Diakonie schlägt in der Gemeinschaft. Allerdings entstehen diese Dienstgruppen, in deren Mittelpunkt die Hilfebedürftigen stehen, gelegentlich jenseits der unternehmerischen Diakonie, die sich nach Angeboten und Strategien sortiert. Sie leben von Freiwilligkeit, sie bleiben spontan und frei, sie haben einen anderen Umgang mit Zeit und Gefühlen. Die Seele des Sozialen schlägt in Gemeinschaften – daran hat sich nicht geändert, auch wenn die Formen sich wandeln. Wer aber über die Erneuerung der Gemeinschaft nachdenkt, kommt an diesen Gruppen nicht vorbei.

Und er kommt nicht daran vorbei, darüber nachzudenken, was Kindern und Jugendlichen heute hilft, Gemeinschaftsfähigkeit zu entwickeln. Da nutzt es vielleicht, darüber nachzudenken, was Ihnen selbst einmal geholfen hat? Eine Familie mit mehreren Generationen und vielen Geschwistern vielleicht? Ein Internat oder eine Ferienfreizeit? Die Schulklasse, die über lange Jahre zusammen blieb? Vieles hat sich verändert – die Gruppen, die Strukturen und Werte. Und wenn man an die Schattenseiten der Heim- und Internatserziehung denkt, die auch wir als Kirche mit verantworten, ist das nicht nur negativ.

 

 6. Anknüpfungspunkte gelebter Gemeinschaft

  • Da sind zunächst die Häuser und Orte: Die alten Mutter- und Bruderhäuser, die Generationen als ihre Heimat empfinden, evozieren fast unmittelbar eine Gemeinschaftsgeschichte, in der auch die noch Zugehörigkeit erleben, die dort einfach nur ausgebildet wurden oder einen Freiwilligendienst gemacht haben. Die Klöster und alten Abteien auf dem Land wie in den Städten laden als Orte der Sammlung auch in kleine Gemeinschaften ein. Manche dieser Häuser sind nur noch Museen, andere aber sind alte und neue Leuchttürme des Gemeinschaftslebens – und wir müssen uns ihrer Bedeutung neu bewusst werden.
  • Traditionell gibt es einen engen Zusammenhang zwischen Gemeinschaftshäusern und Bildungsorten – das geht vom Rauhen Haus bis hin zum früheren Burkhardthaus mit seinem lockeren Netzwerk. Bildung stand und steht zum Teil noch vor der endgültigen Aufnahme in eine Gemeinschaft; sie diente dazu, mit dem Deutungshorizont vertraut zu machen, gab theologische und ethische Orientierung, war wesentlich Persönlichkeitsbildung im Sinne der sozialen und ethischen Kompetenzen. Bildung ermöglicht Selbstbehauptung auch gegenüber unmenschlichen Strukturen. Ganz im Sinne dessen, was Nelson Mandela schreibt: „Wenn Du dich klein machst, dient das der Welt nicht. Es hat nichts mit Erleuchtung zu tun, wenn Du schrumpfst, damit andere sich nicht verunsichert fühlen“: Im Gegenteil: es geht darum, Licht der Welt und Salz der Erde zu sein.
  • Gesellschaftliche Herausforderungen sind wichtige Anknüpfungspunkte für Netzwerke und Dienstgruppen – aber nur dann, wenn jemandem ein Schicksal zu Herzen geht, wie das in der Hospiz- und Tafelbewegung geschah. Oder in den Gemeinschaften, die mit behinderten Menschen zusammen leben, in den Welcome-Gruppen der Sorge um Schwangere. Solchen Gruppen fehlt oft ein Ort der Sammlung, manche schaffen auch Neue: in einem Familienbildungszentrum, in einem Trauercafe, in einer Vesperkirche.
  • Die Haltetaue, die Menschen auch über große Entfernungen bei der Gemeinschaft halten können, sind lange erprobt: gemeinsame Gebetszeiten, Bibelworte und Liturgien, gemeinsame Zeichen, die den einzelnen erinnern – ein Ring, eine Brosche, ein Armband – gemeinsame Texte, Briefe und Mails, gemeinsame Projekte und Aufgaben.
  • Neue Communities entstehen auch in den sozialen Netzwerke, die virtuelle Möglichkeiten für Gemeinschaften bieten. Warum nicht jeden Mittag ein Mittagsgebet in die eigene Facebook-Gruppe schicken? Warum nicht geschlossene Chaträume nutzen, um Probleme der Gemeinschaft zu besprechen? Das Netz ermöglicht ein erstaunliches Maß an Offenheit und spontaner Unterstützung füreinander. Ohne die Enge des Dorfes, eher in der Weite des Hausflures, in den verschiedene Wohnungen münden.

Alles, was Gemeinschaft zusammenhält und Gemeinschaft herausfordert, lässt uns am Ende fragen, was Gemeinschaft ausmacht. Worum geht es? Was ist die Mitte der Gemeinschaft? Ein Ziel, eine Aufgabe? Die Anbetung, die Stille? Manchmal das eine und dann wieder das andere? Gemeinschaften wandeln sich – und in der Mitte unserer Gemeinschaften steht der, der sie wandelt und fordert, der sie trägt und ihr schon immer voraus ist – Jesus Christus selbst. Wo diese Mitte leer ist, wo wir nicht mit ihm unterwegs sind, nutzen auch all unsere Haltetaue nichts. „Wo ich bin, da soll mein Diener auch sein“, steht in der Eingangstür des Kaiserswerther Mutterhauses – da, wo der Weg hinein lockt, führt er auch wieder heraus zu neuen Ufern.

Idealen Gemeinschaften gibt es nicht. Oder gab es sie einmal, die Gemeinschaften, die sich um einen spirituellen Ort konzentrieren und zugleich Bildungsträger waren, die bundesweite und ökumenische Netze knüpften und dabei Spontanität und Wandlungsfähigkeit zeigten, die Projekte trugen, ohne sich funktionalisieren zu lassen und die Zugehörigkeit anboten, ohne zu vereinnahmen. Wenn es diese umfassenden Gemeinschaften gab, dann hatten sie auch eine gefährliche, eine totalitäre Seite. Und aus diesem Grund kann ich jedenfalls gut damit leben, dass all unsere Gemeinschaften Fragmente sind. – Das bewahrt vor falscher Totalität und Enge. Aber gerade darum ist Vernetzung so entscheidend. Gemeinsame Bildungsangebote, zentrale Leuchttürme, ökumenische Netze zum Austausch, Gemeinschaftsprojekte, die von vielen getragen werden – ich könnte mir so manches vorstellen. So manches Nebeneinander verliert heute an Plausibilität für Außenstehende. Voraussetzung für Veränderung ist, dass es gelingt, die Binnenschau aufzugeben und sich – auch mit den eigenen Traurigkeiten – für andere zu öffnen. Manche Klostermauer abzureißen, weil es Wichtigeres gibt. Kurz: die Klage in Kreativität zu verwandeln. Wo Traditionen erodieren und Normen sich an der Wirklichkeit reiben, da spüren wir das – in Resignation, in Wut, in Sehnsucht. Wir spüren, wenn das Feuer unter der Asche verglüht, und wir merken, wenn unsere Berufung erstickt. Viele bleiben dann einfach weg, sie schweigen oder kommen nicht mehr. Aber diese Gefühle sind gute Wegweiser zur Neugestaltung. Es gilt sie ernst zu nehmen und in die Hand zu nehmen und nicht nur die Sehnsucht, sondern auch die Angst hinüber zu werfen- wie ein Tau von einem Schiff an Land. „Wenn Gott es ist, der meine Ängste auffängt und mich lässt, wenn Gott es ist – dann hält er uns bei unsern Ängsten fest.“

 

[1] Friedrich Thiele, Diakonissenhäuser im Umbruch der Zeit, 1963