Ältere und die Kirche – wohin geht die Reise?

1. „Dritte Orte“ schaffen – die Übersehenen wahrnehmen

Ich werde sie nicht vergessen, die arbeitslose Schuhverkäuferin, die eines Tages in den Gemeindeladen kam, weil sie einfach keine Lust mehr hatte, zu Hause zu sitzen. Ob sie bei uns ehrenamtlich mitarbeiten könnte, wollte sie wissen. Sie hatte gehört, dass wir gerade eine neue Kleiderkammer eröffnet hatten – eigentlich war’s ein richtig schicker Second-Hand-Shop. Und Menschen zeigen, was zu ihnen passt, das konnte sie. Jede, die aus der Umkleide herauskam und sich vor dem Spiegel drehte, hatte ein Lächeln auf den Lippen. Und unsere Schuhverkäuferin hatte einfach eine Begabung: sie konnte sehen, was einer Kundin passte, was ihr stand und sie zum Strahlen brachte. Eine tolle Frau – sie wohnte bei uns in der Gemeinde, aber wir kannten uns noch nicht. In der Kirche mitarbeiten, sagte sie, da ginge es doch meistens ums Reden oder ums Singen. Dafür wäre sie nicht gemacht. Und auch Besuche seien nicht ihre Sache; so gern sie Menschen möge. Im Café bedienen oder im Second-Hand-Shop, das könnte sie sich aber gut vorstellen. Ehrlich gesagt: ich konnte das nachvollziehen. Damals hatte ich das Gefühl, unser Gemeindeaufbau sei an eine Grenze gestoßen – die Milieugrenze eben. Ins Gemeindehaus kamen vor allem die Bodenständigen, die gut vernetzt waren in der Kleinstadt, sich gern mit anderen trafen und sich auch für andere engagierten.

Eine von ihnen war Frau P. Zu meinem 30. Geburtstag – es war noch ein typischer Pfarrgeburtstag in der Kleinstadt-Gemeinde, kam sie dreimal: morgens als Frauenhilfsmitglied, nachmittags als Leitung des Besuchsdienstes und abends dann mit ihrem Mann als Kirchenvorstandsfrau. Beim dritten Mal machte sie selbst einen Scherz über ihre Vielfalt an Funktionen – vielleicht, weil ihr bewusst wurde, dass sie ein starker Knoten im Netzwerk der Gemeinde war. Und dabei sind drei Funktionen, Ämter oder Dienste gar nicht ungewöhnlich. Eine Untersuchung des SI zu den Aufgaben Ehrenamtlicher in der Kirche zeigte vor ein paar Jahren, dass solche Insider bis zu 14 verschiedene Engagements haben können. So schön es sein kann, gebraucht zu werden und Gemeinde mit zu gestalten – so wird die Gemeindehauswelt schnell zur geschlossenen Gesellschaft. Manche fürchten, ehe sie sich versehen, vereinnahmt zu werden. Und andere fühlen sich von Anfang an gar nicht zugehörig. So wie die Sozialhilfeempfängerin, Frau I., der ich damals über das Gemeindenetzwerk einen Job verschaffen konnte. Zu einer Veranstaltung ins Gemeindehaus kommen, das wollte sie nicht – sie fürchtete, andere könnten sie vor allem als Hilfeempfängerin sehen. Aus ihrer Perspektive gehörten die Mitglieder, die sich im Gemeindehaus trafen, zu den Etablierten.

Der Gemeindeladen, den wir damals gründeten, war im doppelten Sinne ein „anderer Ort“. Der indische Theoretiker Homi Bhabha hat das Konzept des „dritten Ortes“ entworfen, eines Ortes, der keiner Gruppe eindeutig zuzuschreiben ist, an dem sich die Verschiedenen ohne Hierarchisierung begegnen und ihre Anliegen aushandeln können. Dritte Orte sind leicht zugänglich und offen; eine Reservierung ist nicht nötig, die Teilnahme kostet nichts. Ein Nachbarschaftsladen kann so ein „dritter Ort“ sein. Der Wickrather Gemeindeladen war es – ursprünglich ein Tante-Emma-Laden in der Fußgängerzone, war er ganz selbstverständlich niedrigschwellig. Wer eintrat, musste nicht schon bekannt sein, aber er konnte andere kennenlernen – im Café, beim Bücherausleihen, in einem Kurs. So konnte sich die Schuhverkäuferin ins Spiel bringen, aber auch Frau I. fand hier weitere Hilfsangebote, denn das Diakonische Werk hatte eine Sprechstunde.

Die Zusammenarbeit von Kirche und Diakonie am „dritten Orten“ eröffnet die Möglichkeit, die Mauer zwischen den verschiedenen „Welten“ einzureißen. Zwischen den Etablierten hier und den Prekären dort. Zwischen den Einheimischen und den Zugezogenen. Denen, die dazugehören und denen, die um Respekt ringen. Mittwoch nachmittags, wenn ich einfach gesprächsbereit im Cafébereich saß, habe ich sie kennengelernt: Die geschiedenen Frauen, die sich immer wie das dritte Rad am Wagen ihrer Freundinnen in Paarbeziehungen fühlten. Die pflegenden Töchter, die sich eingeschlossen fühlten in der Enge ihrer Elternbeziehungen. Alleingelassen, oft auch mit Gewalterfahrungen. Viele solcher Gespräche machten mit klar, als wie stark die Normen und die Tabus in den Kirchengemeinden empfunden werden. Familie, die heile Familie, wird nach wie vor stark mit der Kirche verbunden. Als eine Gruppe im Laden mit einem Sonntagstreff für Ältere startete, als sie auch am Heiligabend eine gemeinsame Feier anboten, war das zu spüren – so mancher kam nicht, weil er das Stigma fürchtete. Dennoch: Hier war und ist auch Raum für Alleinstehende, für Pflegende Angehörige, für Sozialberatung – genauso wie für Kurse der Erwachsenenbildung. Und heute trifft sich dort das Seniorennetzwerk 55+, das sich unter anderem für die Entwicklung der alternsgerechten Stadt einsetzt und einen Stadtplan gestaltet, in dem sich die Cafés und Bänke genauso finden wie die Stufen und Schwellen oder die öffentlichen Toiletten. Hier werden Ältere beteiligt – sie nehmen ihre Projekte selbst in die Hand und koordinieren sie im Team. Bürgerschaftliches Engagement, wie es auch in der Kirche selbstverständlich werden sollte.

Barrierefreie Anlaufstellen – und das meine ich vor allem unter sozialen Aspekten – können Sondierungsorte sein, an denen Kirchengemeinden die Übersehenen wiederentdecken – und deutlich sichtbar rausgehen aus den angestammten Milieus. Dabei kann die Diakonie, die ja geradezu Spezialistin für die „anderen“ ist, die notwendigen Brücken bauen und Türen öffnen. So wie bei „Altonavi“ in Hamburg-Altona, einer barrierefreien offenen Quartiersberatungsstelle mit vier Mitarbeitenden. In der Trägerschaft Diakonie, mitgesponsert von der Stadt, aber von AWO, Aktion Mensch, der Nordmetall-Stiftung und vielen anderen. Die Mitarbeitenden von Altonavi informieren über öffentliche Unterstützungsangebote und bringen Hilfesuchende und Hilfeanbietende zusammen – beispielsweise für die Begleitung bei Arztbesuchen, für Hausaufgabenhilfe oder für Beratung, wenn Angehörige an Demenz erkrankt sind. Aber auch für Mietfragen oder für Familien, die auf der Suche nach Kinderbetreuung sind.

 

2. Vertraute Orte – eine Chance für die Bodenständigen

In der evangelischen Kirche in Württemberg gab es in den letzten drei Jahren das Modellprojekt „Alter neu gestalten“. Neben vielen Aufbrüchen mit den jungen Alten war es Eckart Hammer aus dem Beirat wichtig, „dass vor allem die eigentlich Alten, die Menschen jenseits von 80/85 Jahren im Fokus stehen. Die Hochbetagten, Dementen und Pflegebedürftigen sind von zunehmender Exklusion betroffen und brauchen Unterstützung, um auch weiterhin Teil der Gemeinde zu bleiben“ (Eckart Hammer). Und das gilt auch dann, wenn wir uns für einen Augenblick noch einmal klarmachen, dass von den 75-79-jährigen nur 7 Prozent von Demenzbetroffen sind, von den 80-84-jährigen nur 15 Prozent und bei den 85- 89jährigen 26 Prozent. Auch in diesem Alter leidet also die Mehrheit von 84 Prozent nicht an Demenz. Und das gilt auch bei den über 90-jährigen, wo der Prozentsatz dann auf 40 Prozent ansteigt.

Annegret Zander von der Fachstelle Zweite Lebenshälfte der Evangelischen Kirche in Kurhessen-Waldeck hat dazu ermutigt, den Seniorenkreis abzuschaffen, wo er nicht mehr gefragt ist. Natürlich nicht ohne den langjährigen Mitarbeitenden zu danken. Dafür mit Mut zur Offenheit und zur Lücke. Denn es ist klar: Nach einem erfüllten und oft auch anstrengenden Leben in Beruf und Familie wollen sich die jungen Alten nicht nur versorgen oder betreuen lassen, sie haben vielmehr Lust auf Leben und einen neuen Aufbruch. Wer sechs und mehr Jahrzehnte Leben hinter sich hat, dem muss man nicht erklären, wie das Leben funktioniert. Aus Berufstätigkeit und Familie, aus Vereins- und Nachbarschaftserfahrungen bringen die Leute Kompetenzen mit, die sie gern auch in neue Kontexte einbringen. Die jungen Alten gehen selbstbewusst, kritisch und noch immer voll Energie in die dritte Lebensphase. Sie werden gebraucht und umworben. Sportvereine und Parteien, Schulen und Hospizvereine wissen: Mit den Angehörigen dieser so gesellschafts- und politikerfahrenen Generation lässt sich einiges auf die Beine stellen. Noch organisieren sich Freiwillige über fünfundsechzig in Kirche und Religion stärker als in irgendeinem anderen Bereich. Das ist ein Potenzial. Und eine Herausforderung, auf die ich gleich noch einmal zurückkomme.

Aber Beteiligungsorientierung ist inzwischen auch in der Arbeit mit Hochaltrigen wichtig. Susanne Fetzer betont mit Recht, dass die bisherige Betreuungsperspektive, für die der Seniorenkreis sind, einen diskriminierenden Aspekt hat. Und dennoch: Für die traditionell-konservativen Gruppen sind solche Treffpunkte nach wie vor wichtig: Für Menschen im Alter von plus/minus 80, Frauen und Männer, die unter zunehmenden Einschränkungen leiden und kaum noch mobil sind. Für sie kann das Gemeindehaus, kann die Seniorengruppe der Ort sein, wo ihr Geburtstag gefeiert wird. Vielleicht gibt es immer wieder mal etwas Besonderes zu essen – jahreszeitlich vielleicht mit Erdbeerkuchen oder auch mal mit Wein und Zwiebelkuchen im Herbst. Wo nach ihnen gefragt wird, wenn sie fehlen. Hier gibt es vielleicht Menschen, die sie im Krankenhaus anrufen oder auch im Pflegeheim noch einmal besuchen.

Bei den über 70-jährigen ist der Anteil der Frauen, die den Führerschein besitzen, noch immer nicht so hoch wie in jüngeren Altersgruppen. 3,1 Mio. Männer, 2,3 Mio. Frauen zwischen 70 und 79 haben eine Fahrerlaubnis. Sie sind schnell in ihrem Bewegungsradius eingeschränkt, wenn der Auto fahrende Partner pflegebedürftig wird oder stirbt. So gewinnt der Nahbereich zunehmende Bedeutung. Und damit auch die Kirchengemeinde, die oft noch fußläufig erreichbar ist. Da, wo die Sparkassen sich zurückziehen, wo es kaum noch Ärzte oder Einzelhandelsgeschäfte gibt, ist das ein großes Pfund für die Kirche. Wer nicht mehr mobil ist, erlebt mit Trauer und Sorge, wie die Wohnquartiere sich verändern – das Schrumpfen der ländlichen Räume, der demographische Wandel, aber auch Migration spielen dabei eine Rolle. So kann die alte Heimat fremd werden – und damit das „Identifikationsgehäuse“, der Ort, wo wir uns geistig, emotional und kulturell zu Hause fühlen und einen Referenzrahmen für Austausch und Teilhabe finden. Traditionell bietet Kirche einen solchen Referenzrahmen. Und dabei spielen auch die Orte eine Rolle: Die Kirchen und Gemeindehäuser sind Kristallisationsort für Feste und Feiern, für herausgehobene Erfahrungen in der eigenen Lebensgeschichte, aber auch für Traditionen, die Halt geben.

Das bedeutet aber nicht, dass alles bleiben kann, wie es ist. Im Gegenteil: Tatsächlich stammt die Tradition der Seniorenarbeit, wie Fetzer schreibt, aus der „guten alten Zeit“. Und die Entwicklung von Alternativen zum Seniorenkreis gleicht einer Zeitreise aus den 60-er und 70er Jahren direkt ins Jahr 2020. Für diese Zielgruppe braucht es heute attraktive Angebote – denn im Blick auf Bildung oder Unterhaltung gibt es Konkurrenz vom Fernsehen bis zu Reiseanbietern. Die Häuser brauchen barrierefreie Zugänge – im Blick auf die Architektur genauso wie auf Kommunikation, was Einschränkungen im Sehen oder Hören betrifft. Die Gruppen brauche Abholdienste, kleine Bürgerbusse vielleicht.

Darüber hinaus gibt es eine Fülle von neuen Modellen, die die Richtung weisen: Vierteljährige Geburtstagsfeiern für alle über 70 gibt es schon länger. Seit einigen Jahren kommen vielerorts wöchentliche Mittagstische im Gemeindehaus dazu, wo oft abwechselnd gekocht wird – manchmal einfach für eine Gruppe von Älteren, die nicht länger für sich allein kochen wollen. Oder auch im größeren Stil – vielleicht vernetzt mit einer Tafel, vielleicht mit einem Angebot für den nahegelegenen Kindergarten. Das kann dann allerdings nicht gelingen ohne ein gut organisiertes Ehrenamtsteam. Mir gefallen aber auch ganz einfache neue Ideen – Stadtspaziergänge mit Rollstuhl und Rollator wie der Wägelestreff in Gültlingen, Erzählcafés und Biografiewerkstätten. In Hamburg-Eilbeck gibt es eine Sütterlinstube, wo Ältere für Übersetzungsdienste zur Verfügung stehen, anderswo entstehen Schmökerstuben bei Café und Musik in der Gemeindebücherei – ganz ähnlich, wie es jetzt auch Stadtteilbibliotheken anbieten. Spannend finde ich auch die Entwicklung von Begegnungscafés auf dem Friedhof wie in Kornwestheim. Denn tatsächlich ist ja der Friedhof, oft noch Gemeindefriedhof, ein weiterer traditionell kirchlicher Anlaufpunkt, den wir als Kirche, aber auch als Gesellschaft vielleicht zu lange aus den Augen verloren hatten. Erst die Hospizbewegung mit ihren Trauergruppen und mit neuen Ritualen hat die Friedhöfe und die Friedhofskapellen in eine neues Licht gerückt.

 

3. Zugehörigkeit gestalten – Das Quartier im Blick

Mit ihren Angeboten in Gemeinden, Diakonie und Erwachsenenbildung hat die Kirche ganz besondere Chancen, wenn sie Ortsnähe, Professionalität und Beteiligungschancen verknüpft. Zugegeben, das ist nicht einfach, denn noch gibt es jede Menge überkommener Bruchlinien – zwischen beruflicher und ehrenamtlicher Arbeit, zwischen Gemeinschaft und Service, zwischen „Altenhilfe“ und emanzipativer Seniorenbewegung, zwischen Betreuung und einem neuen Verständnis von Bürgerengagement.

Was grundsätzlich für die aktuellen Veränderungsprozesse der Gemeinden gilt, das wird in der Arbeit von und mit Älteren besonders spürbar. Denn einerseits verfügt diese Zielgruppe stärker als andere über ihre Zeit, sie bringen vielfältige Kompetenzen aus Beruf und Familie mit und nicht zuletzt sind sie oft Kennerinnen und Kenner des Quartiers. Viele engagieren sich auch, um die Eckpfeiler des nachbarschaftlichen Lebens aufrechtzuerhalten, etwa Dorfläden, Nachbarschaftscafés oder Bürgerbusse. Bei der Kommunalwahl im letzten Jahr wurde mir klar, dass die allgemeine gesellschaftliche Debatte um Nahverkehr, Schwimmbäder und Ärzte im ländlichen Raum, um Energieversorgung und Abfallwirtschaft gerade hier entschieden wird – von Menschen in meiner Nachbarschaft. Und dass viele von denen, die sich engagieren, Freiberufler, Hausfrauen und Migranten sind – oder eben Menschen über 60. Die Generation der 55- 69-jährigen engagiert sich besonders stark im sozialen Ehrenamt und im lokalen Bürgerengagement. In Vereinen und Verbänden, wo junge Leute immer schwerer Anschluss finden, halten die Bodenständigen die Netze zusammen, während sich die Kritischen in Bürgerinitiativen und Genossenschaften organisieren. Wenn Gemeinden darin Konkurrenz für ihre eigene Arbeit sehen, haben sie m.E. ihren Auftrag nicht begriffen, und schon gar nicht Herausforderungen der Arbeit im Quartier. Denn andererseits sind vor allem Ältere in besonderer Weise auf Unterstützung und soziale Netze angewiesen.

Die familiären Netze dünnen aus: Die Wohnentfernung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern hat in den letzten Jahren ständig zugenommen. Nur noch ein Viertel der Befragten geben an, dass ihre erwachsenen Kinder noch am selben Ort wohnen und bei einem weiteren Viertel sind die Wohnungen mehr als zwei Stunden voneinander entfernt. Zwar geben immer noch 80 Prozent der Befragten an, dass sie in der Familie wöchentlich Kontakt zueinander haben – aber im Vergleich der letzten Jahre erhalten die über 70-jährigen immer seltener praktische Hilfe; die Quote sank um 8 Prozentpunkte von 19,5 Prozent 1996 auf 11,7 Prozent 2014. Und waren es vor 10 Jahren noch 74 Prozent der Bevölkerung, die sagten, sie könnten sich in Notlagen auf Familie und Freunde verlassen, so sind es heute nur noch 64 Prozent. Die traditionelle Familienorientierung der Kirche kommt hier an ihre Grenze: umso mehr ist Kirche als Familiaritas gefragt.

Klaus Dörner hat mit seinem Wusch „Ich will leben und sterben, wo ich dazu gehöre“ tatsächlich viel angestoßen: Seitdem haben sich die Einrichtungen der Altenhilfe differenziert; mit betreutem Wohnen und Kurzzeitpflege, ambulanter Pflege und hauswirtschaftlichen Hilfen, aber auch mit Cafés und vielfältigen Kooperationen im Quartier. Und auch Stadtplanung, Architekturbüros und Wohnungsbaugesellschaften machen öfter ernst damit, dass in den neuen Wohnquartieren Rollatoren wie Kinderwagen über die Schwelle kommen. Schließlich geben Initiativen wie das SONG-Netzwerk oder Wohnquartier hoch 4, getragen von Diakonie und Erwachsenenbildung in Rheinland-Westfalen-Lippe seit einigen Jahren Anstöße, die Angebote nicht mehr an Defiziten zu orientieren, sondern an Lebensbereichen wie Wohnen, Gesundheit, Bildung und Freizeit. Es geht darum, das alte „Schubladendenken“ zu überwinden – dazu gehört auch die Zuordnung von Menschen in Kirche und Diakonie als Gemeindeglieder und als Klienten oder Kunden im Sozialsystemen in Frage zu stellen.

Interessanterweise haben die Kirchengemeinden sich damals nicht provoziert gefühlt durch die Thesen von Klaus Dörner. Sie haben insgesamt kaum reagiert auf das Konzept vom dritten Sozialraum und Dörners neue Wertschätzung der Kirchengemeinden. Meine Vermutung ist: die Kirche hatte die hilfe- und pflegebedürftigen Älteren längst an die Diakonie delegiert – nicht nur aus Gründen der Professionalität, sondern auch aus Refinanzierungsgründen – und sie damit oft exkludiert. Ganz allmählich erst, mit den notwendigen Veränderungen in der ambulanten Pflege wie mit den kommunalen Konzepten des siebten Altenberichts, wird klar: Es geht auch um eine Veränderung der Nachbarschaften und Gemeinden. Um den Ort, wo Menschen zu Hause sind. „Ein Zuhause ist der einzige Ort, wo die eigenen Prioritäten unbeschränkte Geltung haben“, schreibt Atul Gawande in seinem Buch „Sterblich sein“, in dem er sich mit der Altenhilfe auseinandersetzt. „Zu Hause entscheidet man selbst, wie man seine Zeit verbringen will, wie man den zur Verfügung stehenden Platz aufteilt und wie man den eigenen Besitzt verwaltet.“

Es ist kein Zufall, dass das Thema „Wohnen“ so viel Gewicht bekommen hat – von den Seniorenwohngemeinschaften bis zu den Mehrgenerationenhäusern. Junge Studierende wohnen günstig bei älteren, kaufen im Gegenzug ein dafür einkaufen oder den Garten pflegen. So wichtig es ist, Dienstleister für Hauswirtschaft, Pflege, Einkaufsdienste ins Quartier zu bringen, so sehr kommt es eben auch darauf an, dass die Bürgerinnen und Bürger mit wechselseitigen Diensten und Hilfen füreinander einstehen – auch über die Generationen hinweg. Im letzten FWS wurde zum ersten Mal die informelle, außerfamiliale Unterstützung in Freundschaft und Nachbarschaft abgefragt, soweit sie eben unentgeltlich und außerhalb beruflicher Tätigkeiten erfolgt. Es ging also nicht um gering bezahlte „Jobs“ in der Pflege – auch wenn der Übergang manchmal unscharf und der gesellschaftliche Druck gerade hier immens ist. Dabei zeigte sich: immerhin 25 Prozent engagieren sich in der nachbarschaftlichen Hilfe bei Einkäufen, Handwerksdiensten bis Kinderbetreuung – und es sind, bis auf die Unterstützung Pflegebedürftiger, mehr Männer als Frauen und eher Jüngere als Ältere. In der Befragung wird deutlich: die wechselseitigen Unterstützungsleistungen verbessern die Lebensqualität aller Beteiligten. Und darin steckt auch eine große Chance im Blick auf unser Selbstverständnis. „Die mit einer Gesellschaft des langen Lebens verbundenen Herausforderungen verlangen nach einer Auseinandersetzung mit Fragen des Menschseins, mit dem Verständnis von Würde und mit den Vorstellungen eines guten und sinnerfüllten Lebens unter Bedingungen der Vulnerabilität. Vorstellungen von Leben und Autonomie, die den Beziehungscharakter menschlichen Lebens und dessen Angewiesenheit auf andere nicht einbezieht, sind unvollständig“, schreiben Thomas Klie und Andreas Kruse.

In den Nachbarschaften zeigen sich aber auch die Grenzen des Informellen. Die Sorgenden Gemeinschaften brauchen Sorgestrukturen. Und Kirchengemeinden, das ist die Hoffnung, könnten Caring Communities werden. Und es gibt auch dafür gute Beispiele: Telefonketten für Alleinstehende. Ein Friedhofsmobil für die Fahrt zu Friedhofsbesuchen. Die Werkstätten für kleine Reparaturen. Oder auch eine Organisation wie die „Inklusive Solidarische Gemeinde in Reute“ mit ganz unterschiedlichen Angeboten und über 80 Ehrenamtlichen aus allen Generationen. Ein Bürgerverein mit über 500 Mitgliedern unter dem Dach der katholischen Gemeinde, der vom Fahrdienst bis zum Besuchsdienst oder zu Oma-Opa-Enkel-Wanderungen immer neues organisiert – getragen von Beiträgen und Drittmitteln.

Die EKD-Orientierungshilfe „Im Alter neu werden können“, formuliert, es gehe um „die Re-Sozialisierung und Revitalisierung von Kirchengemeinden, damit sie eben nicht erst auf soziale Notlagen reagieren, sondern aktiv daran mitarbeitet, funktionierende Sozialräume zu gestalten und Notlagen präventiv zu verhindern.“ Das gilt auch für die Dörfer. Mit dem Projekt www.unser-dorf-mooc.de haben die Evangelischen Kirchen in Hessen im Herbst 2016 einen Online-Kurs zur Dorfentwicklung gestartet, in dem man von Expertinnen lernen kann, einen Dorfladen oder ein Café zu entwickeln. In den Massiv Open Online Course (MOCC) investieren die Teilnehmenden eine bis fünf Stunden pro Woche für Fortbildung und Begleitung. Dazu gibt es Expertengespräche, einen Online-Chat und Videos, aber auch weiterführende Links und Literatur.

 

4. Soziales Engagement – Die Benachteiligten im Focus

Die Revitalisierung der Nachbarschaften lebt vom bürgerschaftlichen Engagement. Und tatsächlich organisieren sich Freiwillige über 65 noch immer besonders in Kirche und Religion. Die Rolle der „Ältesten“, die in der Kirche eine lange Tradition hat, kehrt wieder in den vielen Mentorenaufgaben, die in unserer Gesellschaft immer wichtiger werden. Es gibt unglaublich viele spannende Projekte in Kirche und Diakonie. Die Leihomas und Lesepaten gehören dazu. Die Pflegebegleiter, die in Abstimmung mit einer Sozialstation für hauswirtschaftliche und nachbarschaftliche Dienste sorgen. Oder die Jobpaten, die schwer vermittelbaren Jugendlichen durch die Ausbildung bis in ein festes Arbeitsverhältnis begleiten. Und neben denen, die sich im sozialen Ehrenamt engagieren, stehen die kulturell Interessierten: die Kirchenkuratoren, aber auch Friedhofspaten oder Stifterinnen und Stifter aus den etablierten Milieus. Auf ganz unterschiedliche Weise knüpfen sie die losen Fäden zwischen den Generationen wieder neu – ganz unmittelbar im sozialen Ehrenamt oder auch mittelbar mit ihrem Einsatz für Kultur und Geschichte vor Ort.

Die letzten beiden Freiwilligensurveys der Bundesregierung zeigen einen Trend weg von der Ausrichtung auf Geselligkeit hin zu Engagement für das Gemeinwohl: Bürgerinnen und Bürger aus traditionellen wie aus modernen Milieus nehmen gesellschaftliche Anliegen selbst in die Hand und gestalten sie auf eigene Weise. Es griffe aber zu kurz, bürgerschaftliches Engagement vor allem nach seinem gesellschaftlichen, sozialen oder kirchlichen Nutzen zu beurteilen. Menschen schenken Zeit für eine Aufgabe, die ihnen am Herzen liegt. Alle Versuche, dieses Engagement zu stark einzuhegen und zu kanalisieren, um es effektiver zu gestalten, stoßen deshalb auch an Grenzen. Ehrenamt braucht Information, Unterstützung, Fortbildung und Kostenerstattung. Glaubt man Studien aus diesem Bereich, dann wird es entscheidend sein, einerseits den Wunsch nach Bildung ernst zu nehmen, andererseits aber die die Pädagogisierung des Ehrenamts zu überwinden. Denn Selbstwirksamkeitserfahrungen sind die wesentliche Triebfeder des Engagements. Das muss Konsequenzen haben für den Umgang der Kirchenvorstände, Pfarrerinnen und Diakonen mit den Engagierten. Ehrenamtliches Engagement ermöglicht Teilhabe, stärkt die Verwurzelung in der Nachbarschaft und Selbstbewusstsein „Ich für mich. Ich mit anderen für mich. Ich mit anderen für andere. Andere mit anderen für mich“ schreibt Margret Schunk aus Württemberg. „Weil wir uns vorgenommen haben, etwas gemeinsam zu tun, was uns allen nützt, was uns allen hilft“. Eine Gemeinschaft, ein Netzwerk soll entstehen und wachsen können, das uns allen etwas bringt.“

Michael Bürsch, der langjährige Vorsitzende des Unterausschusses für Bürgerschaftliches Engagement im Bundestag, hat deshalb von einem „Recht auf Engagement“ gesprochen. Im Blick auf Ältere gilt es, bei zwei Gruppen genau hinzuschauen. Zum einen: Auch Hochaltrige können sich engagieren und tun es. Dass wir das hohe Alter fast automatisch mit Hilfebedürftigkeit verknüpfen, ist einer der Gründe für Isolation und Einsamkeit. Die Hochaltrigenstudie der Universität Heidelberg von 2013 zeigt: 76 Prozent der befragten 80- bis 99-jährigen empfinden Freude und Erfüllung in emotional tieferen Begegnungen mit anderen. Die andere Gruppe, über die wir uns als Kirche Gedanken machen müssen, sind die sozial engagierten älteren Frauen, von denen viele gerade wegen ihrer Sorgearbeit nur niedrige Renten haben. Bei diakonischen Trägern erhalten sie inzwischen häufiger eine Übungsleiterpauschale oder das Minijobsalär für ihren ehrenamtlichen Einsatz, den sie sich ansonsten eben nicht leisten könnten. Und vor allem in den neuen Bundesländern nehmen viele Ältere am Bundesfreiwilligendienst teil. Um die Debatte um die sogenannte „Monetarisierung“ des Ehrenamts kommt also auch die Kirche nicht herum. Ich kenne Gemeinden im Ruhrgebiet, die mit geringfügig Beschäftigen, aber gut ausgebildeten Stadtteilmüttern und Gemeindeschwestern neuen Typs für Vernetzung der Älteren im Stadtteil sorgen – mit Besuchen, Telefonketten und Mittagstischen.

Großmütter sind en vogue, auch und gerade weil Großmütter heute ganz anders aussehen als noch vor 40 Jahren. Viele sind jung, stehen mitten im Beruf, müssen mobil und flexibel sein. Andere stecken früher als geplant mit der eigenen Berufstätigkeit zurück, um Töchter oder Schwiegertöchter zu unterstützen. Manche werden Wahlgroßmütter oder ehrenamtliche Teilzeit- Omas und Patinnen – vielleicht haben sie selbst keine Kinder, entdecken aber nun die Mutterschaft in einem viel umfassenderen Sinne. Für die Christenheit waren Pflegekinder und Pflegeeltern, Lebensgemeinschaften und erweiterte Pfarrfamilien über Jahrhunderte selbstverständlich. Es wird darauf ankommen, dass die Gemeinden diese Kraft zu Begegnung und Erneuerung, zu Respekt und wechselseitiger Sorge neu entdecken. Denn gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppierungen hat die Kirche den großen Vorteil, generationsübergreifend zu arbeiten.

 

5. Es geht um das Wohin – Glaube und Spiritualität

Christine Westermann, die zu Ihrem 65. Geburtstag das Buch „Da geht noch was“ geschrieben hat, erzählt, wie sie sich aufregt, weil eine Reportage, die sie kurz vorher über einen Klosteraufenthalt gedreht hat, mit folgendermaßen beworben wurde: Christine Westermann: „Wieviel Leben bleibt mir noch?“ Möglichkeit 1, meint sie: Sie hat eine todbringende Krankheit. Möglichkeit 2: Sie ist stark vergreist und verabschiedet sich mit dieser Dokumentation. Und dann: „Wie viel Leben bleibt mir noch?“ Das ist keine Sinnfrage. Das ist eine Unsinnsfrage. Es geht mir nicht um das Wieviel. Das Wohin ist das Entscheidend, die Richtung, die ich meinem Leben noch geben will.“ (Christine Westermann)

Das Leben als Reise, als Pilgerschaft ist für viele heute zu einem spirituellen Bild geworden. Viele gehen in Übergängen oder auf der Suche nach neuen Wegen den Jakobsweg. Es passt in eine Zeit der Mobilität und Migration und der immer neuen Aufbrüche – beruflich wie privat. Und es hat zu tun mir der Frage nach dem Wohin, die auch Christine Westermann stellt. Frühere Generationen haben den Weg weiter gedacht bis in eine Ewigkeit, die wir uns trotz aller Erfahrung nicht vorstellen können. „Ich preise dich, mein Erretter, dass du mir auf der Erde kein Vaterland und keine Wohnung gegeben hast, so dass ich mit David sage: „Ich bin dein Pilgrim und dein Bürger“, heißt es bei Johann Amos Comenius. „Du hast mich vor der Torheit bewahrt, das Zufällige für das Wesentliche, den Weg für das Ziel, das Streben für die Ruhe, die Herberge für die Wohnung, die Wanderschaft für das Vaterland zu halten.“

„Auch das geht vorüber“ ist einer der neuen, buddhistisch geprägten Slogans für die Stufen auf unserem Weg. Aber was bleibt? Und worauf kommt es am Ende an? Alter neu gestalten… Bekannte treffen, andere Menschen kennen lernen, die auch ihre Herausforderungen bestehen, ihre Chancen nutzen wollen. Was füllt mein Leben aus? Was suche ich? Was machen andere? Geht da was zusammen? Und wie ist es mit dem Glauben? James Fowler hat Anfang der 80er Jahre auf dem Hintergrund einer spirituellen Psychologie beschrieben, dass wir Entwicklungsschritte auch im Glauben durchlaufen – vom intuitiven und mythischen „Kinderglauben“ über die reflektierte Auseinandersetzung mit Religion bis hin zu einer universellen Perspektive, in der wir die bloße Identifikation mit den eigenen Traditionen überwinden und zu einer umfassenden Liebe, einem „grenzenlosen Vertrauen in den Sinn des Seins“ finden können. Eine Studie katholischer Soziologen zeigt: „Der strenge Vater-Gott der Kindheit macht immer mehr einer Vorstellung von Gott Platz, in welcher der Mensch als Partner ernst genommen wird“ (Fürst u.a. 2003). 60 Prozent der Befragten gaben an, dass sich die Gestalt ihres Glaubens im Lauf des Lebens geändert hat.

Die Kieler Praktische Theologin Sabine Bobert sieht das orthodoxe Herzensgebet als eine Möglichkeit, uns auf das Wesentliche zu zentrieren und Ruhe, Gelassenheit und Frieden zu finden. Es geht dabei nicht um viele Worte, sondern eigentlich nur um eine Gebetsformel wie das 1500 Jahre alte „Jesus Christus, erbarme dich meiner“ oder das „Liebe umgibt mich“ aus der Wolke des Nichtwissens. Diese Form des Gebets und der Meditation hat viel gemeinsam mit der mystischen Versenkung und den Mantren im Buddhismus, der die Generation der 68er Blumenkinder mitgeprägt hat. Auch hier geht es um die Konzentration auf den Atemrhythmus, eine Erfahrung von Führung aus der Mitte, die gerade im Übergang in einen neuen Lebensabschnitt sehr wichtig ist.

Das Christentum der Zukunft wird mystisch sein, schrieb Jörg Zink Ich bin dankbar, dass die christliche Tradition mir einen Deutungsrahmen gibt, in dem ich zu Hause bin, den ich zugleich immer neu füllen kann. Für die alten Lieder und Choräle, die ich gelernt habe. Aber ich freue mich auch daran, religiöse Traditionen des Judentums und des Islam erlebt zu haben: die Ramadan-Leuchten in den Straßen von Kairo oder Beirut, die festlichen Iftar-Essen, die Stille auf den Straßen am Großen Versöhnungstag in Jerusalem. Und auch die buddhistischen Tempelglocken in Thailand. Das alles hat auch meinen Blick auf das Christentum bereichert – auf das Fasten und Feiern, auf Veränderung und Versöhnung. Ich kann dem Gedanken von Willigis Jäger viel abgewinnen, der Religion mit einem Glasfenster vergleicht. „Es bleibt dunkel, wenn es nicht von hinten durch das Licht erhellt wird. Dieses Urlicht ist selbst nicht sichtbar, bekommt aber im Glasfenster der Religion Struktur und wird für jeden Menschen begreifbar. (…) Wir sollten aber „nie vergessen, dass nicht das Glasfenster das Letzte ist, sondern das Licht, das dahinter leuchtet.

„Die mystische Erfahrung der Unio setzt voraus, dass wir von Barrieregefühlen frei geworden sind“, schreibt sie – von Gefühlen wie Hass, Angst, Wut, Neid, Lähmung und Zweifel. Solche Gefühle entfremden uns voneinander und von uns selbst; sie schneiden uns von unserer Wesensmitte und von Gott ab. Im Alltagsstress unterdrücken wir sie oft, schieben sie einfach beiseite – aber wenn plötzlich Zeit und Raum dafür ist, am Beginn der dritten Lebensphase zum Beispiel, können die alten Gespenster noch einmal richtig munter werden. „Sie wollen uns keine Angst einjagen; vielmehr wollen sie endlich in Rente gehen“, schreibt Brigitte Hieronimus in ihrem Buch „Mut zum Lebenswandel“, das dabei helfen will, die biographischen Erfahrungen im Alter sinnvoll zu nutzen. Situationen und Menschen, die uns schwierige Erfahrungen in Erinnerung rufen, nennt sie deshalb „Entwicklungshelfer“, „weil sie dazu beitragen, das Blockierte in uns wieder wahrzunehmen.“ Und zu versöhnen mit alten Widersachern, uns auszusöhnen auch mit den Ecken und Kanten auch des eigenen Lebens.

„Mut zum Lebenswandel“: auch der spirituelle Weg des Alterns bildet sich im Gehen. Das entspricht unserer heutigen Alternserfahrung, die ja gerade nicht so selbstverständlich auf geprägte Altersbilder zurückgreifen kann. Auch wenn ich nicht weiß, woher der Wind demnächst weht und wie hoch die Wellen schlagen werden – ich verlasse mich darauf, dass sie mich am Ende ans Ufer spülen und ich meine Füße wieder auf Land setzen kann. Surfer empfehlen, sich im schlimmsten Fall den Wellen lieber zu überlassen, als dagegen anzukämpfen – und einfach nur darauf zu achten, dass man genügend Luft bekommt und atmet. Und darauf zu vertrauen, dass das Wasser trägt. Dieses Vertrauen ist eine entscheidende Dimension der Spiritualität. In der Praxis zeigt es sich in der Meditation und im Singen von Chorälen wie in Gebeten, im Tagebuchschreiben wie auf Wegen durch die Natur und auch in der Begleitung anderer.

 

6. Kirche im Aufbruch: Wohin geht die Reise?

„Warum begreifen wir Frauen das Alter als Gefängnis“, fragt die Mode-Designerin Miuccia Prada, inzwischen 68 Jahre, in einem Interview mit der NY Times. Und antwortet sich dann selbst: „Ich glaube, für dieses Drama müssen wir eine Lösung finden. Wir haben ja nicht mehr nur ein Leben, nein, es sind mittlerweile zwei oder drei. Und es wird die Zukunft unserer Gesellschaft enorm beeinflussen, wie wir selbst mit dem Älterwerden umgehen.“ Ob wir also den Blick nach vorn richten auf das Neue, das kommt – oder ob wir das Alter als Abstellgleis begreifen. Ob wir selbstbewusst, kritisch und noch immer voll Energie in die neue Lebensphase gehen. „Wenn wir nicht allein bleiben und nicht nur privatisieren wollen“, schreibt Lisa Frohn in ihrem Twitter-Buch „Ran ans Alter“, dann brauchen wir Räume, wo wir hingehen können. Um andere zu treffen. Um uns auszutauschen. Um gemeinsam etwas zu tun. Um uns als gesellschaftliche Wesen zu erleben.“ „Nehmen wir mal an, einige interessieren sich für ein gemeinsames Wohnprojekt. Andere für ein Kulturzentrum, einen Club. Nehmen wir mal an, Sie sind sich einige, dass Sie das, was Sie wollen, selbst gründen müssen. Könnte da nicht Freude aufkommen? Ja, Begeisterung?“ Und: „Alter neu gestalten“ schreibt einer der Engagierten in Württemberg, Wolfang Schnabel: „Mir ist wichtig, dass noch viele Ideen frischen Wind in die kirchliche Arbeit mit Älteren wehen“.

Kann die Kirche dieser Begeisterung Raum bieten? Wird sie die Freiheit geben, unterschiedliche Wege und Formen der Selbstorganisation und auch der Spiritualität ausprobieren? Das verlangt ein erneuertes Selbstverständnis, das aufräumt mit der versteckten Abwertung der Älteren und vor allem älterer Frauen, sondern deren sozialen Beitrag, deren Belastungen und ihren Lebensertrag schätzt. In den frühen Gemeinden wurden aus hilflosen Armen und unversorgten Witwen Frauen, die ein anerkanntes Fürsorgeamt hatten. Auch heute geht es im sozialen Ehrenamt der Älteren um eine neue Entdeckung von Solidarität in der älteren Generation selbst, aber auch zwischen den Generationen, die nicht nur auf den Austausch von materiellen Leistungen, sondern auch auf Einfühlung und Weitergabe von Erfahrung zielt. Hier haben die Kirchen ein starkes Pfund einzubringen. „Mein Traum vom Älterwerden gestalten wäre, dass Menschen jeden Alters zusammen kommen und zusammen wachsen, so selbstverständlich wie dies in vielen Familien geschieht. Vor Ort wäre mein Wunsch, dass Alter weder Krankheit noch Tabu ist.“ (Erika Haffner)

Doch ist es realistisch, dass wir in einer Gesellschaft leben werden, in der sich die Menschen nicht nur für Wohnung, Home Entertainment und Karriere interessieren, sondern auch für ihr Viertel und für das globale Dorf? Der Freizeitforscher Horst Opaschowski diagnostiziert „den radikalsten Wertewandel seit 30 Jahren“ und sieht eine „Ära der Verantwortung“ kommen – für die Gemeinschaft, die Umwelt, die nächste Generation. Das Sinus-Institut erkennt Anzeichen dafür, „dass wir uns auf einem dritten Weg‘ befinden, der über den scheinbar unüberwindbaren Gegensatz von wirtschaftlicher Liberalisierung und Sozialstaatsbewahrung hinausgeht.“ Es wäre doch großartig, wenn sich in der Kirche etwas davon zeigt.

Cornelia Coenen-Marx, 08.02.2018, Nürnberg, Landeskonferenz zur Altersarbeit 2018 in Bayern