1. Des Lebens Ruf an uns
Zu den beliebtesten Texten der letzten Jahre gehört Hermann Hesses Gedicht „Stufen.“ Wie jede Blüte welkt und jede Jugend dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe, blüht jede Weisheit auch und jede Tugend zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern…“. Der Text ist ein Aufruf zu immer neuen Aufbrüchen; es geht darum, dem Ruf des Lebens zu folgen, loszulassen und weiterzugehen – Stufe für Stufe. Das Bild der Lebensalter, das sich dabei einstellt, ist das einer Treppe, die immer weiter ins Offene, ja eigentlich ins Unendliche führt: „Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde uns neuen Räumen jung entgegensenden; des Lebens Ruf an uns wird niemals enden. Wohlan denn, Herz, nimmt Abschied und gesunde.“
Einen solchen Neubeginn assoziieren die meisten Menschen heute auch mit dem Beginn der dritten Lebensphase. Was man früher mit dem Alter verband, Gebrechlichkeit und Pflegebedürftigkeit, verschieben wir gedanklich in die letzte, die vierte Lebensphase, die statistisch gesehen erst mit 80 plus beginnt. Eine religionssoziologische Untersuchung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD zeigt: Nicht Sterblichkeit, sondern „Gebürtlichkeit“, wie die Philosophin Hannah Arendt es nennt, ist das vorherrschende Gefühl der dritten Lebensphase – auch wenn das der Thema Endlichkeit wie eine gegenläufige Unterströmung spürbar ist.
Auch die jüngste EKD-Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung zeigt: 75 Prozent der 60- 69 –jährigen blicken zuversichtlich auf ihr weiteres Leben; und über ein Drittel geht davon aus, dass noch ein Neuanfang stattfinden kann. Viele machen sich noch einmal auf den Weg und helfen international als Au-pair, im Senior Expert Service oder übernehmen einen freiwilligen Einsatz in Krisengebieten. Andere engagieren sich jetzt in der Flüchtlingsarbeit, lernen Menschen aus anderen sozialen und kulturellen Kontexten kennen oder arbeiten mit am Entstehen neuer Netzwerke – als „Leih-Omas“, Stadtteilmütter, Senior-Mentoren für Schüler und Azubis, in Familienzentren und Generationenhäusern. Und oft entstehen dabei tragfähige neue Freundschaften und Liebesbeziehungen.
Legt man den Alterssurvey von 2014 zugrunde, sind 70-jährige kaum weniger leistungsfähig als gesunde 55-jährige. Und 73 Prozent der Befragten ab 60 Jahren fühlen sich jünger, als sie es vom kalendarischen Alter her sind, und zwar im Durchschnitt 5,5 Jahre. Mehr als ein Drittel der 55- bis 69-jährigen hat keine oder höchstens eine Erkrankung und noch die Hälfte der 70- bis 85-jährigen fühlen sich trotz der einen oder anderen Krankheit funktional gesund. Noch nie in der Geschichte sind Menschen so gesund alt geworden, noch nie war die Breite der Bevölkerung so gut ausgebildet, so kompetent und selbständig wie heute, noch nie gab es auch so viele Möglichkeiten, sich zu vernetzen und gut zu organisieren. Wir haben im Schnitt zehn gesunde Jahre hinzugewonnen.
„Das Beste kommt noch“ titelte kürzlich „Brigitte WIR“, die Zeitschrift für die „Dritte Lebenshälfte“ Mir gefällt der paradoxe Ausdruck „dritte Lebenshälfte“. Er macht deutlich, dass es um eine historisch ganz neue Zeit geht – eine geschenkte Zeit, deren Bedeutung wir gerade erst begreifen. Während der Alterssurvey ganz bewusst von der ersten und zweiten Lebensphase spricht – also von den unter und den über 40-jährigen –, wird sonst oft von nachberuflichen Zeit als einer neuen, dritten Lebensphase gesprochen. „Früher war klar: Kinder lernen, Erwachsene arbeiten, und die Alten ruhen sich aus. Das ist passe“, sagt Ursula Staudinger, die Alternsforscherin aus New York. (Allerdings sprechen wir noch immer von Pädagogik, Andragogik und Geragogik.) Diese Zeit bietet Chancen, den eigenen Interessen und Motiven nachzugehen, aber auch Gesellschaft mit zu gestalten.
Der Wandel in unserer Lebenszeit ist rasant: In den 60er Jahren hat man den Ruhestand als Feierabend begriffen, er war Erholung von einem aktiven und oft auch körperlich sehr anstrengenden Arbeitsleben. Bis dahin war Altersarmut weit verbreitet. Mit Adenauers Rentenreform von 1957 wurde des Umlageverfahren in der gesetzlichen Rentenversicherung eingeführt, das heute durch den demographischen Wandel wieder unter Druck geraten ist. Außerdem wurde die Rentenhöhe spürbar erhöht und die dynamische Anpassung an die Bruttolohnentwicklung eingeführt. Damit wurde Rentnern und Rentnerinnen die Möglichkeit eröffnet, am Wirtschaftsaufschwung teilzuhaben und ihren Lebensunterhalt im Alter auch ohne finanzielle Unterstützung bestreiten zu können. In den 70er Jahren, in der großen Zeit des Wohlfahrtsstaats, wurde die Rente dann zur Belohnung für den Einsatz im Beruf – mit Freizeit und Reisen. Der letzte, der 7. Altenbericht, der 2014 erschien, zeigt: Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen ist in der zweiten Lebenshälfte seitdem kontinuierlich gestiegen. Das gilt vor allem für die 54- 59-jährigen und auch für die 60- bis 65-Jährigen, bei denen auch die Erwerbsbeteiligung seit 1996 um etwa 20 Prozentpunkte gestiegen ist. Das hängt auch damit zusammen, dass sich in der Altersgruppe 55 plus die Unterschiede zwischen Männern und Frauen in der Erwerbsquote verringert haben. Wirtschaftlich geht es unserer Generation so gut wie lange keiner – so verfügt zum Beispiel jeder zweite über Wohneigentum. Alles gute Voraussetzungen für einen Neuanfang in der dritten Lebensphase.
„Das Alter veraltet“, heißt es im 6. Altersbericht der Bundesregierung, der sich mit dem Wandel der Altersbilder befasste. Für Andreas Kruse, dem Vorsitzenden der EKD-Alterskommission, war das ein Impuls ganz bewusst auf die Altersbilder in der Kirche zu schauen. So entstand die EKD-Orientierungshilfe „Im Alter neu werden können.“ Darin wird ein altes Sprichwort zitiert: „Mit dem Alter kommt der Psalter“– so als ob Ältere automatisch frömmer würden. Als Gemeindepfarrerin in den 1980-er Jahren hatte ich den Auftrag, alle Gemeindemitglieder zu besuchen, wenn sie 70, 75 oder 80 plus wurden. Manchmal habe ich dabei ungeheuer spannende Lebensgeschichten gehört – aber selten kam es zu Gesprächen über Glauben und Religion. Vielleicht hat es damit zu tun, dass die überkommenen Erwartungen an Pfarrer und Kirche mit ganz bestimmten Alternsbildern verbunden sind. Und umgekehrt: dass wir als Kirche bestimmte Vorstellungen von Frömmigkeit an Ältere herantragen. Viele Choräle jedenfalls vermitteln den Eindruck, die letzte Lebensphase diene vor allem der Vorbereitung auf Tod und Ewigkeit. Und wenn man sich klar macht, wie die durchschnittliche Lebenserwartung bis vor 100 Jahren aussah, ist das auch kein Wunder.
Christine Westermann, die zu Ihrem 65. Geburtstag das Buch „Da geht noch was“ geschrieben hat, erzählt, wie sie sich aufregt, weil eine Reportage, die sie kurz vorher über einen Klosteraufenthalt gedreht hat, mit folgendermaßen beworben wurde: Christine Westermann: „Wieviel Leben bleibt mir noch?“ Möglichkeit 1, meint sie: Sie hat eine todbringende Krankheit. Möglichkeit 2: Sie ist stark vergreist und verabschiedet sich mit dieser Dokumentation. Und dann: „Wie viel Leben bleibt mir noch?“ Das ist keine Sinnfrage. Das ist eine Unsinnsfrage. Es geht mir nicht um das Wieviel. Das Wohin ist das Entscheidende, die Richtung, die ich meinem Leben noch geben will. Nur deshalb habe ich mich auf die Suche eingelassen!
Die Bibel ist voll von Neuanfängen. Und das Lebensalter spielt dabei keine Rolle. Denken Sie nur an die Geschichte von Abraham und Sara, die in hohem Alter aufbrechen in das Gelobte Land und spät noch den ersehnten Sohn zur Welt bringen – so spät, dass Sara schon allein den Gedanken an eine Schwangerschaft lächerlich findet. Einem Traum geht Sara nach mit ihrem Abraham. Nachts unter dem Sternenhimmel hat Gott ihm versprochen, dass sie eine neue, eine bessere Zukunft finden würden – und dass ihre Nachkommen so zahlreich sein würden wie die Sterne am Himmel. Selbstverständlich ist es nicht, dass einer seinen Träumen folgt. Sich auf den Weg macht Schritt für Schritt. Es muss ein schwerer Weg gewesen sein durch die Wüste. Voll Fremdheitserfahrungen, Misstrauen und der Angst, allein gelassen zu werden, zu versagen und sich lächerlich zu machen. Aber Abraham und Sara haben dem Unwahrscheinlichen, sie haben Gott eine Chance gegeben.
Wenn ich im Alter wirklich etwas Neues beginnen will, dann muss ich mein Leben so einrichten, dass ich meinen Traum auch verwirklichen kann. Das wurde dem französischen Soziologen Roland Barthes klar, als seine Mutter gestorben war. Bei aller Trauer des Abschieds – in diesem Augenblick begann für ihn ein neues Leben. Er wollte endlich tun, was ihm längst vorschwebte – er wollte einen Roman schreiben. Aber das neue Leben beginnt nicht einfach von selbst; es braucht einen bewussten Entschluss. Ich darf mich nicht festlegen lassen auf das, was ich war. Ich darf mich nicht irritieren lassen durch die Erwartungen anderer. Und ich muss bereit sein, für ganz neue Entdeckungen.
Die Ärztin Beate Jakob vom Deutschen Institut für Ärztliche Mission (DIFAEM), die in Indien an Gesundheitsprojekten mit Kirchengemeinden arbeitete, hat dort Kirche neu entdeckt. Heute versteht sie Gemeinden als Orte des Zuhörens, wo mehr zu finden ist als praktische Hilfe oder das gemeinsame Finden von Lösungen. Wo zu spüren ist, dass Menschen bei einem sind, die neuen Mut und Energie geben. Und wo im gemeinsamen Gebet Gottes Geist als Kraftquelle erfahrbar ist. „Mein Anliegen ist, dass in Gemeinden „geschützte Räume“ entstehen“, sagt Beate Jakob in einem Interview auf meinem Pilgerorte–Blog. Orte, an denen sich Menschen frei und offen begegnen und austauschen können, anstatt eine Rolle spielen zu müssen. Das kann zum Beispiel ein Gesprächsangebot sein, ein Hauskreis, eine Trauergruppe usw. – Orte, wo Menschen sich nicht als stark und als „Sieger“ präsentieren müssen, sondern auch einmal ihre Masken ablegen und ihre Schwachheit und Hilfsbedürftigkeit benennen dürfen. Dadurch wächst in Gemeinden auch das Bewusstsein, nicht eine Gemeinschaft von Starken zu sein, sondern von Un-Perfekten, die alle auf Gottes Gnade angewiesen sind.“ Ein schöner Gedanke: Sich versöhnen mit dem Un-Perfekten! Das steht an im Alter: nicht Selbstoptimierung, sondern Selbstakzeptanz. Die amerikanische Journalistin Barbara Ehrenreich hat darüber gerade ein Buch geschrieben. Es ginge darum, das Leben zu feiern, meint sie. Und Dorothee Sölle schrieb: „Am Ende der Suche und der Frage nach Gott steht keine Antwort, sondern eine Umarmung.“
2. Im Alter neu werden können
Kennen Sie Iris Apfel? Die ältere Frau mit dem faltigen Gesicht und den großen roten Brillen hat viele andere inspiriert, sich so zu kleiden, wie sie sich fühlen und attraktiv finden. Große Statementketten, witzige Hüte! Mich hat sie an Margaret Siekmann erinnert, die nach Teil unserer Großfamilie wurde, als mein Onkel und meine Tante in den 60-er Jahren zu einem Austauschjahr im Pfarramt nach Minnesota zogen. Im Gegenzug zog die dortige Pfarrfamilie in deren Wohnung nach Wuppertal ein und gehörte fortan zu uns – mit den Töchtern Paula und Gretchen und mit der Großmutter. Es war Margaret Siekmann, die Großmutter, die mich besonders beeindruckt hat. Als ich sie zum ersten Mal sah, trug sie eine bunte Karohose – dazu knallrote Lippen und Fingernägel. Das war damals hierzulande für eine Frau über 65 nicht denkbar gewesen. In der Kirche drehte man sich nach ihr um – oft genug allerdings irritiert.
Heute gehen die 68-er Frauen selbstbewusst und voll Energie in die neue Lebensphase – nicht anders als die Beat- und Rockgrößen von Udo Lindenberg bis zu den Rolling Stones. „Ich halte mich an die Regeln, aber nur, wenn sie mir gefallen“, sagt Iris Berben, inzwischen Ende 60, in einem Interview mit „Brigitte WIR“. Und trotzdem frage ich mich. Ob Barbara Siekmann heute in einer durchschnittlichen Kirchengemeinde ihren Platz fände? Oder wäre sie noch immer zu selbstbewusst, zu exaltiert? In meiner Wohnortgemeinde kommt eine solche Frau gelegentlich zum Gottesdienst. Neulich erzählte sie mir, dass sie lange in Frankreich gelebt hatte. Als sie in unser Dorf gezogen sei, hätten die Nachbarn sie alle einmal besucht; aber das sei es auch gewesen. Danach habe sich keiner mehr für sie interessiert. Sie passe eben nicht in den Seniorenclub, sei als Single viel unterwegs. Sie hat keine Enkel, aber sie hat noch Träume und Fragen. Und wenn ich mir ihr ins Gespräch komme, spüre ich ihre Neugier auf ein anderes Leben. „Was füllt mein Leben aus? Was suche ich? Und was machen andere?“ Das sind Fragen aus dem Modellprojekt „Alter neu gestalten“ der evangelischen Kirche in Württemberg. Da haben sich Gemeinden zusammengetan, die die neugierig sind auf das, was die Älteren zu geben haben. „Geht da was zusammen? Es geht darum, andere Menschen kennen zu lernen, die auch ihre Herausforderungen bestehen, ihre Chancen nutzen wollen.“
Was es bedeutet, alt zu sein, ist nicht nur eine Frage nach dem biologischen Alter, der gesundheitlichen oder der finanziellen Situation – es betrifft immer auch die Alternsbilder und die damit verbundenen Erwartungen an andere wie an sich selbst. Dabei geht es um alle Lebensvollzüge: um Arbeit und Familie genauso wie um Kleidung und Mobilität – und natürlich auch um Religion und Kirche. Alter ist auch eine soziale Konstruktion, ganz ähnlich wie das Geschlecht. Konsequenterweise reden Soziologen von „Doing Aging“ – so wie man von „Doing Gender“ oder „Doing Family“ spricht. Die EKD-Orientierungshilfe betont, dass Älterwerden noch einmal neue Entwicklungs- und Veränderungschancen bereithält. Was liegen geblieben ist, vergessen oder auch verdrängt wurde, kann noch einmal aufgegriffen, angepackt, integriert werden. Ich denke an eine Freundin, die mit Mitte 50 nach Afrika ging. Sie wollte dort ausbauen, was sie früher in Ferieneinsätzen bei Ärzte ohne Grenzen erlebt hatte. In Ostafrika half sie, ein Krankenhaus nach westlichen Standards aufzubauen, was Labor und Operationstechnik angeht. Zugleich arbeitete sie viel mit den Frauen der Basisgesundheitsdienste zusammen. Und lernte dabei ein ganz anderes Verständnis von Krankheit und Heilung kennen. Wie Beate Jakob erlebte sie in charismatischen Gemeinden erlebte sie die Kraft der Gebete.
Es ist kein Zufall, dass viele beim Start in die dritte Lebensphase eine Reise unternehmen, ein Buch schreiben oder zu fotografieren beginnen. Das sind Möglichkeiten, die innere Bewegung im außen sichtbar und greifbar zu machen. Produktiv zu werden jenseits der sonst üblichen Vorstellungen von Produktivität. Jetzt muss ich nicht mehr effizient sein wie im Beruf oder funktionieren wie in der Familie. In der ersten Lebenshälfte geht es noch darum, ein Heim und eine Familie aufzubauen, ein sicheres Fundament für das Leben. Dann aber besteht die Herausforderung darin, das alles loszulassen und noch einmal frei zu werden. Wer jetzt noch einmal neu startet, will eine andere Produktivität entdecken. Ein neues Lebenstempo, eine andere Kultur, eine Kunst vielleicht, die er bisher nicht beherrscht hat. Vielleicht auch sich einsetzen, damit es anderen gut geht. Wesentlich werden – aber nicht einfach auf den bekannten Kern schrumpfen, sondern einem neuen Samen Raum zum Leben geben.
Dabei geht es in einem existenziellen Sinne um spirituelle Erfahrungen. Lars Tornstam, der in Schweden Untersuchungen zur Spiritualität älterer Menschen durchgeführt hat, spricht von Ego-Transzendenz oder auch von Gero-Transzendenz. Er meint: Das Alter bietet die Chance, sich selbst zu überschreiten. So gesehen, hat es Transzendenz nicht nur mit einem Jenseits außerhalb unserer Welt zu tun; vielmehr geht es darum, mich grundsätzlich offen zu halten für ganz neue Möglichkeiten – neue Erfahrungen und Bilder von der Welt, von mir selbst und auch von Gott.
„Viel, allzu viel Leben, das auch hätte gelebt werden können, bleibt vielleicht in den Rumpelkammern verstaubter Erinnerungen liegen, manchmal sind es glühende Kohlen unter der Asche“, hat der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung geschrieben. Denn das Erreichen eines Ziels, des beruflichen Aufstiegs zum Beispiel, erfolge eben immer auch auf Kosten der Totalität der Persönlichkeit: Wir funktionieren, passen uns an, übernehmen eine Rolle. Wenn die Kinder erwachsen sind, ein weiterer Aufstieg nicht möglich ist, wenn wir gesundheitlich an Grenzen stoßen, können wir den sozialen Panzer ablegen und andere Aspekte der eigenen Person zum Zuge kommen lassen. Der Philosoph Thomas Rentsch spricht vom Altern als einem „Werden zu sich selbst“. Jetzt, wo die Kürze des Lebens und seine Überschaubarkeit sichtbar und erfahrbar werden, gilt es, zu begreifen, dass nun die Chance besteht, das menschlich Wichtige vom vielen Unwichtigen dauerhaft zu unterscheiden. „Ich kann als Philosoph nicht unmittelbar an positive theologische Redeweisen anknüpfen“, schreibt er, „ich sage jedoch: Viel wäre vom Sinn dieser Reden schon bewahrt, wenn wir das Alter als eine Lebenszeit verstehen, in der die innige Verschränktheit von Endlichkeit und Sinn, Begrenztheit und Erfüllung erkennbar und einsichtig werden kann.“
In der Zeit meines Abschieds von der EKD hat mich Margarete von Trottas Film über Hildegard von Bingen inspiriert. Sie erzählt, wie die bekannte Klostergründerin gegen Ende ihres Lebens eine ungewöhnliche Entscheidung trifft. Sie verlässt das Kloster, in dessen Aufbau sie ihr ganzes Leben investiert hat, verlässt den Konvent und ihre Rolle als Äbtissin und bricht zu Pferd auf eine Predigt- und Seelsorgereise auf. Allein, nur von wenigen Freunden begleitet. „Wir sind hier, um das, was uns gegeben wurde, vollständig und freiwillig zurück zu geben“, sagt der Franziskanerpater Richard Rohr über die reife Reise des Älterwerdens.
3. Der Weg nach innen
Das Leben als Reise, als Pilgerschaft ist für viele heute zu einem spirituellen Bild geworden. Es passt in eine Zeit der Mobilität und Migration und der immer neuen Aufbrüche in Jobs, Partnerschaft und Familie – beruflich wie privat. Und es hat zu tun mit der Frage nach dem Wohin, die auch Christine Westermann stellt. Christine Bergmann, die ehemalige Bundesfamilienministerin, ist gerade mit ihrem 20-jährigen Enkel den Jakobsweg gegangen – ein Jahr nach dem Tod ihres Mannes, nach einer Phase vieler Ämter und Ehrenämter ging es sicher darum, dem Leben noch einmal neu auf die Spur zu kommen. Und auch die vielen Altersgenossinnen, die jetzt auf Kreuzfahrtschiffen unterwegs sind – oft von Bordseelsorgern und Bordseelsorgerinnen begleitet, wollen nicht nur entspannen, gut essen und den blauen Himmel genießen – es geht zugleich um neue, tiefere Entdeckungen. Bei einem Vortrag zum Thema Spiritualität im Alter erzählte mir ein älterer Mann, dass er seine tiefste religiöse Erfahrung am Berg Athos gemacht hatte – bei Sonnenuntergang unter Mönchen und anderen Männern. Spätestens seit den Beatles bringen viele in unserer spirituellen Generation Erfahrungen aus Ostasien mit – auch ich erinnere mich gern an die Stupas, die Windfahnen, die Tempelglocken und goldenen Buddhafiguren in Thailand. Eine Ruhe und Gelassenheit ging davon aus, die ich so bei uns selten gefunden habe. Heute finde ich sie wieder bei meiner Yogalehrerin.
„Es lohnt sich nur der Weg nach innen“, heißt eines der Bücher von Sam Keen über „Das kreative Potenzial der Langeweile“. Keen legt den Finger in die Wunde einer Zeit, in der immer etwas los sein muss, damit man sich spürt. Nur keinen Stillstand aufkommen lassen, nur nicht zur Ruhe kommen. Dabei ist genau das die Voraussetzung, unsere Erfahrungen zu reflektieren und uns zu verändern. Nichtstun und Träume haben, anderen mit Empathie begegnen – für Sam Keen sind das Haltungen auf dem Weg nach „oben“, zu mehr Gesundheit, Lebendigkeit und Engagement.
Darum geht es, wenn Menschen im Alter noch einmal neu beginnen und für andere, aber auch für sich selbst Verantwortung übernehmen – nun aber in einem Sinne, dass sie sich selbst zugleich realisieren und überschreiten. Sie erinnern sich Jakob, den Zweitgeborenen, der seinem Bruder Esau das Erbe abluchste – und seinem Vater Isaak den Segen. Ein junger Mann, voller Hunger nach Leben, dem jedes Mittel Recht scheint, um zu bekommen, was das Schicksal ihm verweigert: Land und Herden, die dem Erstgeborenen zustehen, eine große Familie und viele Nachkommen, eben Erfolg und Segen. Der Schwindel fliegt auf und Jakob flieht durch die Wüste zu seinem Onkel Laban. Er wird sich durchkämpfen durch die Widrigkeiten der kommenden Jahre und es wird ihm tatsächlich gelingen, sich nach und nach den Reichtum aufzubauen, von dem er geträumt hatte – und es scheint tatsächlich, als stünde ihm der Himmel offen. Davon erzählt der Traum von der Himmelsleiter, den er auf der Flucht geträumt hatte.
Monika Bauer macht in ihrem Arbeitsbuch zur Spiritualität im Alter darauf aufmerksam, dass wir diesem Jakob noch einmal begegnen – in einer anderen Nacht, gegen Ende seines Lebens. Es ist eine Art Gegengeschichte – denn Jakob ist auf dem Weg zurück, um sich mit Esau zu versöhnen. Seine Herden, seine Frauen und Kinder hat er am Ufer gelassen; er ist allein, als er in der Nacht am Fluss Jabbok mit seiner unbekannten Macht ringt. Noch einmal geht es um den Segen – jetzt aber nicht mehr in diesem äußeren Sinne von Erfolg, Land und Besitz, sondern in einem inneren Sinn. Es geht um die eigene Integrität, um das Akzeptiertwerden – nicht nur von der Familie, sondern letztlich von Gott. Am Ende ist Jakob verletzt – er hinkt, aber er geht der Sonne entgegen. Und er ist ein anderer geworden oder in einem tieferen Sinne er selbst: Von jetzt an trägt er den Namen Israel. Einen anderen Namen bekommen – das ist wohl das Symbol einer grundlegend neuen Weichenstellung. Wir kennen das von Konversionen und Ordensgemeinschaften. Oder auch von Cat Stevens, der zum Islam konvertierte, aufhörte zu singen und sich dann Yusuf Islam nannte – und nun, nachdem er beides integriert hat, wieder „Morning has broken“ singt.
Der Maler Max Beckmann hat die beiden Gottesbegegnungen Jakobs in einem einzigen Holzschnitt dargestellt – er zeigt Gott mit Jakob auf der Leiter. Wie Jakob sich festhält an dieser Gottesgestalt und doch zu fallen droht in die Tiefe und Dunkelheit des Flusses. Von oben aber, von der Spitze der Leiter, strahlt Licht ins Bild – die aufgehende Sonne. Es ist, als zöge sie den Fallenden nach oben. „Ich bin in meinem Leben oft gefallen, sei es in Beziehungen oder im Beruf, emotional oder körperlich, doch immer gab es einen Trampolineffekt, der bewirkte, dass ich letztlich nach oben gefallen bin“, schreibt dazu der Franziskanerpater Richard Rohr.
Jakobs Weg wird beschrieben wie die Schrittfolge in einem Coaching-Prozess; sie ist mir zum Symbol für Wege des Wandels und der Veränderung geworden: Wir werden herausgerufen aus dem Gewohnten. Wir finden Mentorinnen, die uns über die Schwelle begleiten. Wir müssen Prüfungen und Kämpfe bestehen und haben Erfolge. Und dann kehren wir mit allem, was wir erreicht haben, den Rückweg an und müssen noch einmal eine Schwelle überschreiten – uns auch mit unseren Schatten auseinandersetzen – und mit unserer tiefsten Sehnsucht. Und dabei wird spürbar: wir sind ein anderer geworden. Während wir im Außen unterwegs waren, sind wir zugleich einen inneren Weg gegangen.
4. Alles zu jeder Zeit?
Im 19. Jahrhundert waren die sogenannten Lebenstreppen populär. Wie auf einem Schwippbogen stellten sie den Lebenslauf als auf und ab dar – meist in zehn Stufen zu je zehn Jahren. Ganz unten an den Seiten standen Kind und Greis, unmündig das Kind, hilfebedürftig der Greis – auf dem Höhepunkt in der Mitte die Menschen in den so genannten besten Jahren zwischen 40 und 50. „Von da an ging‘s bergab“, wie Hildegard Knef einmal gesungen hat. Da hieß es, zurückzutreten und der neuen Generation Platz zu machen – in der Firma, auf dem Hof, als Großeltern auf dem „Altenteil“. Die Lebenstreppen sind in den Museen verschwunden, aber in unserem Denken werfen sie noch Schatten. Trotz aller Rede über die Chancen des dritten Lebensalters: auch im beruflichen Kontext ist Altersdiskriminierung ein Thema. Gerade in den letzten Berufsjahren halten viele Arbeitnehmer*innen dem Druck nicht mehr stand – viele kommen über Frühverrentung, Krankheit und Reha oder Arbeitslosigkeit in den Ruhestand. Und das liegt nicht nur an dem wachsenden Zeitdruck – es hat entscheidend damit zu tun, dass die Kompetenzen der Älteren noch immer nicht anerkannt werden. CLARA – Clever und Aktiv in Richtung Alter, heißt ein Projekt, das Andreas Kruse zusammen mit der Deutschen Bahn aufgesetzt hat. Darin benennt er die Stärken älterer Kolleginnen und Kollegen. Zum Beispiel diese: Sie erkennen den Gesamtzusammenhang von Ursachen und Gesetzmäßigkeiten schneller als jüngere und sind deswegen auch schneller bei der Entwicklung von Handlungsstrategien. Auch Urteilsvermögen und Verantwortungsbewusstsein nehmen mit dem Alter zu – genauso wie konzeptionelles Denken, Kooperations- und Teamfähigkeit. Ältere sind geübt, ihr Wissen zu teilen, Mitarbeitende zu informieren und zu motivieren. Das gilt übrigens nicht nur im Beruf, sondern auch im Ehrenamt – aber auch da wird die Kompetenz der erfahrenen Älteren noch nicht hinreichend geschätzt. Dabei können sie Modellfunktion für andere übernehmen. Das alles sind Fähigkeiten, die man in Leitungspositionen braucht – die aber auch beim Mentoring oder für Trainer und Trainerinnen wichtig sind.
Genau das ist in unserer Gesellschaft gefragt – das Life-Coaching zum Beispiel boomt. Zugleich aber erleben wir die so genannte Juvenalisierung der Gesellschaft: Eltern übernehmen Kleidungsstil, Sprache und Sportarten ihrer „Kids“. Alles scheint möglich in jedem Alter – in der Kleidung wie im Lebensstil. Inzwischen gibt es nicht nur „junge Väter“ im Großvateralter, sondern auch Mütter von Mitte 40, Trennungen und Scheidungen nach der „Silberhochzeit“ sind nicht mehr ungewöhnlich und späte Lebenspartnerschaften fast schon erwartbar. Ein „zu spät“ scheint es nicht zu geben, wenn es darum geht, den Lebensruf zu hören, der eigenen Berufung zu folgen.
Solange wir lernen und uns verändern, bleiben unser Gehirn wie unser Lebensstil plastisch. Noch im Alter können wir uns neu erfinden. Dazu gehört aber auch, dass wir Versäumtes verabschieden und Verlorenes betrauern – Kinderlosigkeit oder der Verlust eines Lebenstraums sind eben nicht einfach „reparierbar“. Auf dem Hintergrund einer spirituellen Psychologie hat James Fowler Anfang der 80er Jahre beschrieben, dass wir auch im Glauben Entwicklungsschritte durchlaufen – vom intuitiven und mythischen „Kinderglauben“ über die reflektierte Auseinandersetzung mit Religion bis hin zu einer universellen Perspektive, in der wir die bloße Identifikation mit den eigenen Traditionen überwinden und zu einer umfassenden Liebe, einem „grenzenlosen Vertrauen in den Sinn des Seins“ finden können. Und eine Studie katholischer Soziologen zeigt: „Der strenge Vater-Gott der Kindheit macht immer mehr einer Vorstellung von Gott Platz, in welcher der Mensch als Partner ernst genommen wird“ (Fürst u.a. 2003). 60 Prozent der in diesem Rahmen Befragten gaben an, dass sich die Gestalt ihres Glaubens im Lauf des Lebens geändert hat.
5. Herzensgebet und Achtsamkeit
Das Christentum der Zukunft wird mystisch sein, schrieb Karl Rahner. Und die Kieler Praktische Theologin Sabine Bobert will mit ihren Übungen einladen, sich ganz und offen auf das Leben, auf Gott einzulassen. Sie sieht das orthodoxe Herzensgebet als eine Möglichkeit, uns auf das Wesentliche zu zentrieren und Ruhe, Gelassenheit und Frieden zu finden. Es geht dabei nicht um viele Worte, sondern eigentlich nur um eine Gebetsformel wie das 1500 Jahre alte „Jesus Christus, erbarme dich meiner“ oder das „Liebe umgibt mich“ aus der Wolke des Nichtwissens. Diese Form des Gebets und der Meditation hat viel gemeinsam mit der mystischen Versenkung und den Mantren im Buddhismus, der die Generation der 68er Blumenkinder mitgeprägt hat. Auch hier geht es um die Konzentration auf den Atemrhythmus, eine Erfahrung von Führung aus der Mitte, die gerade im Übergang in einen neuen Lebensabschnitt sehr wichtig ist.
Ich bin dankbar, dass die christliche Tradition mir einen Deutungsrahmen gibt, in dem ich zu Hause bin, den ich zugleich immer neu füllen kann. Für die alten Lieder und Choräle, die ich gelernt habe. Aber ich freue mich auch daran, religiöse Traditionen des Judentums und des Islam erlebt zu haben: die Ramadan-Leuchten in den Straßen von Kairo oder Beirut, die festlichen Iftar-Essen, die Stille auf den Straßen am Großen Versöhnungstag in Jerusalem. Und auch die buddhistischen Tempelglocken in Thailand. Das alles hat auch meinen Blick auf das Christentum bereichert – auf das Fasten und Feiern, auf Veränderung und Versöhnung. Ich kann dem Gedanken von Willigis Jäger viel abgewinnen, der Religion mit einem Glasfenster vergleicht. „Es bleibt dunkel, wenn es nicht von hinten durch das Licht erhellt wird. Dieses Urlicht ist selbst nicht sichtbar, bekommt aber im Glasfenster der Religion Struktur und wird für jeden Menschen begreifbar. (…) Wir sollten aber „nie vergessen, dass nicht das Glasfenster das Letzte ist, sondern das Licht, das dahinter leuchtet.“
„Die mystische Erfahrung der Unio setzt voraus, dass wir von Barrieregefühlen frei geworden sind“, schreibt sie – von Gefühlen wie Hass, Angst, Wut, Neid, Lähmung und Zweifel. Solche Gefühle entfremden uns voneinander und von uns selbst; sie schneiden uns von unserer Wesensmitte und von Gott ab. Im Alltagsstress unterdrücken wir sie oft, schieben sie einfach beiseite – aber wenn plötzlich Zeit und Raum dafür ist, am Beginn der dritten Lebensphase zum Beispiel, können die alten Gespenster noch einmal richtig munter werden. „Sie wollen uns keine Angst einjagen; vielmehr wollen sie endlich in Rente gehen“, schreibt Brigitte Hieronimus in ihrem Buch „Mut zum Lebenswandel“, das dabei helfen will, die biographischen Erfahrungen im Alter sinnvoll zu nutzen. Situationen und Menschen, die uns schwierige Erfahrungen in Erinnerung rufen, nennt sie deshalb „Entwicklungshelfer“, „weil sie dazu beitragen, das Blockierte in uns wieder wahrzunehmen.“ Und zu versöhnen mit alten Widersachern, uns auszusöhnen auch mit den Ecken und Kanten auch des eigenen Lebens. Persönlich, aber auch politisch. Mit unserem Dasein und mit der Zeit, in der wir geprägt worden sind.
Der Weg bildet sich im Gehen. Das entspricht unserer heutigen Alternserfahrung, die ja gerade nicht so selbstverständlich auf geprägte Altersbilder zurückgreifen kann. Auch wenn ich nicht weiß, woher der Wind demnächst weht und wie hoch die Wellen schlagen werden – ich verlasse mich darauf, dass sie mich am Ende ans Ufer spülen ich meine Füße wieder auf Land setzen kann. Surfer empfehlen, sich im schlimmsten Fall den Wellen lieber zu überlassen, als dagegen anzukämpfen – und einfach nur darauf zu achten, dass man genügend Luft bekommt und atmet. Und darauf zu vertrauen, dass das Wasser trägt. Dieses Vertrauen ist eine entscheidende Dimension der Spiritualität. In der Praxis zeigt es sich in der Meditation und im Singen von Chorälen wie in Gebeten, im Tagebuchschreiben, beim Wandern und auch in der Begleitung anderer. Es geht darum, von Zukunftsangst frei zu werden und im eigenen Hier und Jetzt die Gegenwart der Ewigkeit zu spüren.
6. Kirche als Raum für Neues
„Wenn wir nicht allein bleiben und nicht nur privatisieren wollen“, schreibt Lisa Frohn in ihrem Twitter-Buch „Ran ans Alter“, dann brauchen wir Räume, wo wir hingehen können. Um andere zu treffen. Um uns auszutauschen. Um gemeinsam etwas zu tun. Um uns als gesellschaftliche Wesen zu erleben.“ „Nehmen wir mal an, einige interessieren sich für ein gemeinsames Wohnprojekt. Andere für ein Kulturzentrum, einen Club. Nehmen wir mal an, Sie sind sich einige, dass Sie das, was Sie wollen, selbst gründen müssen. Könnte da nicht Freude aufkommen? Ja, Begeisterung?“ Kann die Kirche dieser Begeisterung Raum bieten? Wird sie die Freiheit geben, unterschiedliche Wege und Formen der Selbstorganisation und auch der Spiritualität ausprobieren?
Bei der Kommunalwahl im letzten Jahr wurde mir klar, dass die allgemeine gesellschaftliche Debatte um Nahverkehr, Schwimmbäder und Ärzte im ländlichen Raum, um Energieversorgung und Abfallwirtschaft gerade hier entschieden wird – von Menschen in meiner Nachbarschaft. Und dass viele von denen, die sich engagieren, Freiberufler, Hausfrauen und Migranten sind – oder eben Menschen über 60. Die jungen Alten verfügen nicht nur stärker als andere über ihre Zeit, sie bringen vielfältige Kompetenzen aus Beruf und Familie mit und nicht zuletzt sind sie oft Kennerinnen und Kenner des Quartiers. Gerade die Nachkriegskinder engagieren sich, um die Eckpfeiler des nachbarschaftlichen Lebens aufrechtzuerhalten, etwa Dorfläden, Nachbarschaftscafés oder Bürgerbusse – ganz so, wie sie es 68 eingeübt haben. Dabei hat das Thema „Wohnen“ besonderes Gewicht bekommen – von den Seniorenwohngemeinschaften bis zu den Mehrgenerationenhäusern. Denn etwa 40 Prozent der Älteren wohnen allein, bezahlbarer Wohnraum wird knapp, und Familie und enge Freunde wohnen oft weit weg. Jetzt wohnen junge Studierende günstig bei älteren, kaufen im Gegenzug ein dafür einkaufen oder pflegen den Garten. Im letzten FWS wurde zum ersten Mal die informelle, außerfamiliale Unterstützung in Freundschaft und Nachbarschaft abgefragt, soweit sie eben unentgeltlich und außerhalb beruflicher Tätigkeiten erfolgt. Es ging also nicht um gering bezahlte „Jobs“ in der Pflege – auch wenn der Übergang manchmal unscharf und der gesellschaftliche Druck gerade hier immens ist. Dabei zeigte sich: immerhin 25 Prozent engagieren sich in der nachbarschaftlichen Hilfe bei Einkäufen, Handwerksdiensten bis Kinderbetreuung – und die wechselseitigen Unterstützungsleistungen verbessern die Lebensqualität aller Beteiligten. Sie nehmen die Angst vor dem Alter und vor der Einsamkeit.
Könnten Kirchengemeinden Caring Communities werden? Es gibt gute Beispiele wie die „Inklusive Solidarische Gemeinde in Reute“ mit ganz unterschiedlichen Angeboten und über 80 Ehrenamtlichen aus allen Generationen. Ein Bürgerverein mit über 500 Mitgliedern unter dem Dach der katholischen Gemeinde, der vom Fahrdienst bis zum Besuchsdienst oder zu Oma-Opa-Enkel-Wanderungen immer neues organisiert – getragen von Beiträgen und Drittmitteln. In den Nachbarschaften zeigen sich aber auch die Grenzen des Informellen. Die Sorgenden Gemeinschaften brauchen Sorgestrukturen. Die EKD-Orientierungshilfe „Im Alter neu werden können“, formuliert, es gehe um „die Re-Sozialisierung und Revitalisierung von Kirchengemeinden, damit sie eben nicht erst auf soziale Notlagen reagieren, sondern aktiv daran mitarbeitet, funktionierende Sozialräume zu gestalten und Notlagen präventiv zu verhindern.“
Tatsächlich organisieren sich Freiwillige über 65 noch immer besonders stark in Kirche und Religion. Die Rolle der „Ältesten“, die in der Kirche eine lange Tradition hat, kehrt wieder in den vielen Mentorenaufgaben, die in unserer Gesellschaft immer wichtiger werden. Die Leihomas und Lesepaten gehören dazu. Die Pflegebegleiter, die in Abstimmung mit einer Sozialstation für hauswirtschaftliche und nachbarschaftliche Dienste sorgen. Oder die Jobpaten, die schwer vermittelbaren Jugendlichen durch die Ausbildung bis in ein festes Arbeitsverhältnis begleiten. Und neben denen, die sich im sozialen Ehrenamt engagieren, stehen die kulturell Interessierten: die Kirchenkuratoren, aber auch Friedhofspaten oder Stifterinnen und Stifter aus den etablierten Milieus. Auf ganz unterschiedliche Weise knüpfen sie die losen Fäden zwischen den Generationen wieder neu – ganz unmittelbar im sozialen Ehrenamt oder auch mittelbar mit ihrem Einsatz für Kultur und Geschichte vor Ort. „Ich für mich. Ich mit anderen für mich. Ich mit anderen für andere. Andere mit anderen für mich“ schreibt Margret Schunk aus Württemberg. „Weil wir uns vorgenommen haben, etwas gemeinsam zu tun, was uns allen nützt, was uns allen hilft.“ Eine Gemeinschaft, ein Netzwerk soll entstehen und wachsen können, das uns allen etwas bringt
„Existenziell-religiöse Kommunikation, das Gespräch über den Sinn des Lebens, gilt inzwischen als persönliches, intim empfundenes Thema, das in erster Linie mit dem Partner/der Partnerin besprochen wird, dann auch mit Freunden/Freundinnen und schließlich mit der Familie“, stellt die 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung fest. „Dabei zeigt sich, dass es „über die Generationen hinweg zu einer kontinuierlichen Abnahme sowohl der Verbundenheit mit der Kirche als auch der Religiosität kommt. Je jünger die Befragten sind, umso seltener geben sie an, religiös erzogen worden zu sein. Von den Evangelischen ab 60 Jahren wurden nach eigene Angaben etwa 83% religiös erzogen, von den Kirchenmitgliedern unter 30 Jahren sagen das nur noch 55%.“ In manchen Gemeinden gibt es inzwischen Konfirmandenarbeit mit Goldkonfirmanden – und ich wünsche mir viel mehr Gelegenheiten, bei denen sich die Generationen auch über ihre Glaubenserfahrungen austauschen. Auf einer lebendigen Suche nach dem lebendigen Gott – Zweifel eingeschlossen. Die Sinus-Studie für Baden und Württemberg, die die unterschiedlichen Milieus analysiert zeigt: sowohl das Hedonistische als auch das prekäre Milieu der Kirche stehen der Kirche kritisch gegenüber. Die einen würden gerne mit leben in Kirche, aber ihnen fehlen vielfach die Ressourcen. Die anderen sehen in Kirche den Inbegriff von Konvention und Bürgerlichkeit und lehnen sie deshalb als „Spaßbremse“ ab. Und für die Pragmatischen ist Kirche schlicht nicht relevant für die eigenen Lebenszusammenhänge. Es wäre also neu zu entdecken, was Spiritualität oder Gotteskommunikation mit Engagement zu tun hat. Immerhin zeigt die KMU 5: 22 Prozent derer, die sich engagieren, reden mit anderen über ihren Glauben – bei den Nichtengagierten sind es nur 10 Prozent.
Im Vergleich der beiden Studien hält Heinz-Peter Hempelmann fest, dass der Zusammenhang zwischen Verbundenheit mit der Kirche, Glaube und Engagement sehr unterschiedlich aussehen kann.
- Es gibt eine hohe Verbundenheit mit der Kirche ohne aktive Praxis – wie es schon beim Typus des traditionellen Kirchgängers der Fall ist.
- Es gibt hohe Verbundenheit mit christlichem Glauben und eine entsprechende ehrenamtliche Praxis, verbunden mit einer deutlichen Distanz zur verfassten Kirche.
- Und es gibt intensive religiöse Praxis ohne Engagement im Raum der verfassten Kirche. Der Mitgliedschaftstypus des spirituell Suchenden, v.a. im expeditiven Milieu beheimatet, sei weder an der Institution Kirche als solcher interessiert, noch an ehrenamtlichem Engagement, er sei aber sehr offen für alles, was Kirche im weitesten Sinne hier zu bieten hat.
Offenheit ist gefragt, und Neugier. Nicht nur von Seiten der Älteren, sondern vor allem von Seiten der Kirche. Neugier auf neue Formen von Gemeinde, Spiritualität und Gemeinschaft – in Vesperkirchen und Filmgottesdiensten, auf spirituellen Reisen oder bei Konzerten in einer nächtlichen Kirche, beim Surfen oder Wandern oder bei einem Fest der Generationen. Es gibt so viele Möglichkeiten und das beste ist: Wir können sie gemeinsam gestalten.
Cornelia Coenen-Marx, Frankfurt 2018