KWA-Forum: Andacht

„Heimat“ ist wieder im Trend. Nicht nur in Politik und Ministerien. Je mobiler die Gesellschaft, je mehr Optionen und Lebensstile, desto wichtiger wird Heimat. Die Zeitschrift Vital empfahl kürzlich eine kleine Silberkette, auf der man die Koordinaten der Heimatstadt eingravieren lassen kann – die Heimat immer auf dem Herzen tragen. Die heimatliche Silhouette ist ohnehin tief in die Seele eingraviert: die Münchner Frauenkirche, das Brandenburger Tor, der Hamburger Michel – nicht zufällig sind es häufig die Kirchen und Dome, die das Heimatgefühl stärken. Hier im Ruhrgebiet sind es die Silhouetten der alten Fördertürme. Auch Kirche hatte den Förderturm im Logo – in der Evangelischen Akademie in Mülheim, die inzwischen verkauft wurde.

Hier ist alles etwas anders. Heimat hat hier nichts mit Lederhosen oder Landzeitschriften zu tun. „Eine traditionelle Ruhrgebietsküche suchen Sie vergebens“ steht im Reiseführer. „Die Menschen, die von überall her ins Land strömten, haben einen kulinarischen Flickenteppich geschaffen. Dass Fremde zuziehen, als Arbeitssuchende, Migranten oder Flüchtlinge, gehört zur Region. Dass in der Kneipe die Speisekarte wechselt, dass Nachbarn eine andere Sprache sprechen – das kennt man hier. Es gibt Döner wie Frikadellen zum Bier und immer Pommes rot-weiß. Handfeste Küche und klare Ansagen. Anders käme man auch nicht klar. „Hömma! Das ist hier nich für zum Spaß“ steht auf einer Karte, die ich neulich am Bahnhof gekauft habe.

Trotzdem kann auch diese Heimat fremd werden. Das „Identifikationsgehäuse“ kann zerbrechen, der Ort, wo wir uns geistig, emotional und kulturell zu Hause fühlen. So wie in Duisburg-Marxloh, wo schon vor 25 Jahren 80 Prozent der Kinder im evangelischen Kindergarten muslimisch waren. Mitte der 90er Jahre, im Zuge der ersten Sparwelle im Rheinland, wurde die Gemeinde dort aufgegeben, und auch anderswo im Duisburger Norden, in Mülheim und Oberhausen wurden Kirchen geschlossen und verkauft, Gemeinden zusammengeschlossen, Kirchenkreise fusioniert. Ein schmerzhafter Prozess für die meist älteren Gemeindemitglieder, die in den schrumpfenden Regionen zurückgeblieben waren. Wo Thyssen-Krupp oder Mannesmann ihre Werke schlossen, waren die Mobilen längst weggezogen. In Presbyterien und Gemeindeversammlungen war die Verunsicherung zu spüren. Was bleibt, wenn Post und Sparkassen geschlossen sind, fragten sich die Leute. In Duisburg brach der Streit um den lautsprecherverstärkten Gebetsruf los. 40 Moscheen hatte irgendwer gezählt. Hier war alles etwas früher.

Es gäbe inzwischen eine Art „heimatlosen Antikapitalismus“. der zum Treiber der rechtspopulistischen Bewegungen werde, sagt Heinz Bude. Dahinter steht die diffuse Erfahrung, dass die Märkte nicht nur den Wettbewerb um Produkte, Dienstleistungen, Arbeitsplätze antreiben, sondern inzwischen auch auf Lebensbereiche übergreifen, die bislang öffentlich und solidarisch organisiert waren. Wo Stadtteilbibliotheken und Schwimmbäder geschlossen, wo Brunnen abgestellt und Bänke abgebaut werden, verschwinden gerade jene Orte, die Raum gaben für ein Miteinander in der Öffentlichkeit.

In dieser Region haben auch Fremde sich Heimat erarbeitet – Solidarität wird hier groß geschrieben, wenn tragende Strukturen brechen. Und wenn nun auch Kirchen geschlossen werden – welche Hoffnung kann der Glaube bieten? „Das ist aller Gastfreundschaft tiefster Sinn, dass wir einander Heimat geben auf dem Weg nach dem ewigen Zuhause“, hat Friedrich von Bodelschwingh geschrieben. Die Antwort der Inneren Mission auf die Umbrüche der Industrialisierung waren die Herbergen für Heimatlose, die Arbeiterkolonien und Hospize für Pflegebedürftige – Einrichtungen für die, die unter die Räder gekommen waren. Oft waren dabei die Wohnquartiere im Blick – mit Wicherns Utopie eines neuen St. Georg genauso wie mit Fliedners Gemeindeschwester. Heute wollen die offenen Stadtkirchen, die Diakonieläden und Gemeinwesenzentren genau das sein: Herbergen am Weg. Wo Menschen ihre Geschichten teilen, sich füreinander einsetzen, solidarisch zusammenarbeiten und einander auf diese Weise ein Stück Heimat geben.

Wie im Bonni in Gelsenkirchen-Haspel. Da hat die Bürgerstiftung „Wir in Hassel“ ein Gemeindehaus übernommen und zum Gemeinwesenzentrum weiterentwickelt: mit Fahrradwerkstatt und Kantine für die Schule, mit kleinem Theater und Generationentreffs. Und auch mit Gottesdiensten – im Zentrum und auf dem nahen gelegenen Markt. Zum Trägerverein gehören auch BP und die DITIB. Das blieb nicht ohne Kritik – aber hier brummt das Leben. Kirche hat sich neu entdeckt – als Plattform für Teilhabeprozesse, als Lebensmittelpunkt, als Ermöglicherin und als Herberge auf dem Weg. Das Restaurant im Bonni, wo es lecker Mittagessen gibt, heißt übrigens „Dietrichs“ – denn das Haus ist noch immer nach Dietrich Bonhoeffer benannt, dem Kirche für und mit anderen so wichtig war. „Wenn ich einen Traum von der Kirche habe, so ist es der Traum von den offenen Türen gerade für die Fremden, die anders sprechen, essen, riechen“, hat auch Dorothee Sölle gesagt. „Heimat, die wir nur für uns selbst besitzen, macht uns eng und muffig.“

Beheimatung braucht Beteiligung. Das weiß man nicht nur in Gelsenkirchen. Dafür braucht es runde Tische und Räume der Begegnung, vor allem aber ein neues Denken. Manchmal müssen wir uns selbst in Erinnerung rufen, was wir als Kirche dazu beitragen können – und welches Kapital Gemeinden noch immer haben – an Räumen, aber auch an Kontakten, Netzwerken und Beziehungen. Kirchen können können Raum geben für Initiativen oder spontane Hilfe, für Mittagstische, Tafeln, oder Deutschkurse. Die ersten Kapitel der Apostelgeschichte erzählen davon, wie die Gemeinde Schranken überwindet. „Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte. Und sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort in den Häusern, hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen und lobten Gott und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk.“ Die Gemeinde teilt und organisiert Teilhabe. Armut ist kein Hindernis am Tisch des Herrn und Menschen mit Behinderung werden genauso einbezogen wie Migrantinnen und Migranten. Das geht auch damals nicht ohne Konflikte ab. Die Apostelgeschichte erzählt von den griechischen Witwen. Frauen, Migrantinnen – sie sitzen ganz unten an der Tafel und müssen von dem leben, was da ankommt. Die Bibel erzählt, welche Kräfte frei werden, wenn Menschen bereit sind, sich nach unten zu bücken, statt zu treten – wenn Menschen, die am Rande stehen, integriert werden. Die griechischen Männer, die sich für die Witwen einsetzen, werden Teil der Gemeindeleitung und beginnen, das Evangelium in einer Sprache zu predigen, die ihre Leute verstehen. Die Gemeinde öffnet sich und sie wächst.

„Denn euch und euren Kindern gilt die Verheißung und allen, die fern sind, so viele der Herr, unser Gott, herzurufen wird“, hat Petrus gesagt. „Eine Stadt ist dann gut, wenn sie Menschen miteinander verbindet“, sagt der Psychiater Mazla Adli von der Fliedner-Klinik in Berlin. Wenn man auch mal Bänke zusammenschieben und zusammensitzen kann. Das entscheidende geschieht am gemeinsamen Tisch, wo sich Männer und Frauen, Juden und Griechen finden – alle auf der Suche nach einem neuen Miteinander. Alle verbunden in der großen Hoffnung auf die neue Stadt, das neue Jerusalem. Da werden Tränen abgewischt, blutige Kleider ausgewaschen, das beschädigte Leben wird gewürdigt. In der Mitte stehen keine Geldtürme, keine Fördertürme, aber auch keine Kirchtürme; in der Mitte steht das Lamm mit seinen Verwundungen. Der Gekreuzigte. Der Mensch.

Hier in den Ruhrgebietskirchenkreisen wurde immer wieder darüber gestritten, was eigentlich in der Mitte stehen muss, wenn unsere Städte Heimat werden sollen. Was zeichnet eine menschliche Stadt aus? 1994 entschloss sich der Kirchenkreis Oberhausen, ein ökumenisches Kirchenzentrum hier im Centro einzurichten, in der neuen Mitte. Darf man das, fragten viele? In diesem Tempel des Konsumismus, der die alte Innenstadt entleert? Oder muss das sein, um zu zeigen, wo wir Heimat finden? Und worauf es dabei ankommt? „Auch wenn wir noch auf den neuen Himmel und die neue Erde warten – lasst uns anfangen, die neue Stadt zu bauen, die Stadt von Frieden und Gerechtigkeit“, sagt, Anthony Pilla, Bischof von Cleveland, in einer Rede über die Kirche in der Stadt. Daran arbeiten wir, dafür setzen wir uns ein. Amen.

 

Cornelia Coenen-Marx, Oberhausen 16.6.18