Sorgende Gemeinde

Wie kirchliche Netzwerke und diakonische Arbeit das Quartier stark machen

1. Von der Gemeindeschwester zum Quartiersmanagement

Auf dem Marktplatz vor der Kirche in Rotenburg/Fulda steht das Bronzedenkmal einer Frau in Tracht mit einem Korb und Dackel an der Leine. Eingeweihte erkennen die alte Gemeindeschwester in Diakonissentracht. Sie erinnern sich an das blauweiße Pünktchen-Kleid und die gefältete Haube? Als ich das sympathische Denkmal entdeckte, war ich so fasziniert, dass ich ein Foto auf Facebook postete – und ich wurde belohnt: Freunde aus Hessen erzählten, warum die Bürger von Rotenburg Schwester Margarete das Denkmal gesetzt hatten. Die Kasseler Diakonisse, die damals Gemeindeschwester in Rotenburg war, hatte nicht nur für die Kranken und Alten, die Kinder und Sterbenden in der Stadt gesorgt. Sie hatte sich auch um die Stadt selbst verdient gemacht. 1945, in den letzten Kriegstagen, hatte sie auf dem Kirchturm die weiße Fahne gehisst. Frieden für die Stadt, ein gutes Miteinander für ihre Menschen.

Als ich das Foto machte, feierte die Diakoniestation gerade Jubiläum – und natürlich trug keine der Mitarbeiterinnen mehr Tracht und Haube. Aber das Bild der Diakonisse hat seine Attraktivität nicht verloren – im Gegenteil. Noch immer sehnen sich viele zurück nach diesen Frauen, die Pflegende und Sozialarbeiterinnen, Netzwerkerinnen und Seelsorgerinnen in einer Person waren. Sie waren Quartiermanagerinnen, lange bevor der Name erfunden wurde – und zugleich das lebendige Zeichen einer diakonischen Kirche.

In meiner Mönchengladbacher Gemeinde erinnerte man sich noch in den 80er Jahren an Schwester Johanna. Die hatte nach dem Krieg den vielen Flüchtlingsfamilien aus Ostpreussen und Schlesien geholfen, sich zu integrieren: mit Suppenküche, Kindergarten und Nähstube – und schließlich mit dem Neuaufbau eines Gemeindesaals. Alles für ein Taschengeld – und vermutlich ohne eigene Freizeit. Aber natürlich nicht allein – denn wie viele Gemeindeschwestern hatte sie ein ausgeklügeltes System ehrenamtlicher Mitarbeiterinnen aufgebaut. Ihre Bezirksfrauen in den Nachbarschaften und die Gruppenleiterinnen waren immer zur Stelle, wenn Hilfe gebraucht wurde. Und wenn sie die Kinder oder die Alten einluden zu einem Ausflug, einem Fest, dann platzte der Saal aus allen Nähten.

Auf dem Höhepunkt der so genannten Flüchtlingskrise vor zwei Jahren tauchten solche Erinnerungen wieder auf. Viele Gemeinden öffneten ihre Räume, Kleiderkammern, Mittagstische, Kindergruppen entstanden – und Ehrenamtsgruppen, um die vielen Aktivitäten abzustimmen. Kirche hat noch immer die Ressourcen, um spontan die notwendige Hilfe zu leisten: sie hat Räume, hauptamtliche Mitarbeiter, die koordinieren können, ein Netz von Ehrenamtlichen, gute Kontakte in der Nachbarschaft und vor allem ein Grundvertrauen, das da Menschen sind, die es gut meinen mit der Stadt. Das alles wird gebraucht, wenn große Veränderungsprozesse bewältigt werden müssen. So wie heute.

Denn nicht nur Flüchtlinge und Migranten, auch viele andere fühlen sich inzwischen überfordert und fremd in unserer Gesellschaft. Manche sprechen von bis zu einem Drittel Abgehängter: Jugendliche ohne Abschluss und Berufsausbildung; junge Erwachsene in befristeten Arbeitsverhältnissen; Alleinerziehende, die neben der Erwerbsarbeit noch Kinder oder hilfebedürftige Eltern zu versorgen haben; allein lebende Ältere, die hilfebedürftig werden und mit dem täglichen Alltag überfordert sind. Nur noch bei einem Viertel leben die erwachsenen Kinder am selben Ort und bei einem weiteren Viertel sind die Wohnungen mehr als zwei Stunden voneinander entfernt. Dass Familien über mehrere Generationen an einem Ort wohnen, ist seit langem keine Selbstverständlichkeit mehr. Meine Mutter zum Beispiel ist hier in Opladen geboren – aber ich bin eine Fremde in dieser Stadt. Wer häufig umzieht, oder auch nur wochenweise pendelt, verliert die alltägliche soziale Einbettung in Familie und Nachbarschaft. Und dabei wechseln ja nicht nur wir selbst unsere Wohnorte, auch die Nachbarschaften verändern ihr Gesicht. Fremde ziehen zu – als Arbeitssuchende, Migranten oder eben Flüchtlinge. Und bei vielen wächst die Angst vor dem Verlust des „Eigenen“ – des eigenen Arbeitsplatzes, der eigenen Kultur, der gewohnten Nachbarschaft.

Sie werden also wieder gebraucht – Menschen wie Schwester Margret, die zupacken, Netzwerke knüpfen und Räume öffnen, damit Bürgerinnen und Bürger einander gegenseitig helfen können. Menschen, die anderen helfen, sich zu beheimaten, und ihnen das Gefühl ihrer Würde zurückgeben. Aber die alten Gemeindeschwestern gibt es nicht mehr. Mit der Professionalisierung der Pflege und ihrer Einbindung ins Gesundheitswesen sind die Aspekte der Gemeindeschwesternarbeit weggefallen, die eher Sozialarbeit waren oder auch Beratungscharakter hatten. Auch deshalb, weil es dafür keine Refinanzierung aus dem Gesundheitssystem mehr gab und weder Kommunen noch Kirchen die Notwendigkeit oder die Möglichkeit sahen, Ersatz zu schaffen. Inzwischen sehen wir, wie wichtig es ist, die professionelle Pflege mit Hauswirtschaft und Betreuung zu verknüpfen, aber auch mit anderen Dienstleistungen im Quartier und mit bürgerschaftlichem Engagement. Oder – um ein andere Arbeitsfeld zu nehmen – wie notwendig es ist, Kindertagesstätten und Angebote für Familien zu verknüpfen. Oder Pflegeheime und Kindertagesstätten in Kontakt zu bringen. Nicht alles lässt sich dem einen oder anderen System zuordnen, nicht alles ist professionalisierbar – wir leben eben auch von informellen Netzwerken.

Und tatsächlich engagieren sich immerhin 25 Prozent der Bürgerinnen und Bürger sich in der nachbarschaftlichen Hilfe bei Einkäufen, Handwerksdiensten bis Kinderbetreuung – und es sind, bis auf die Unterstützung Pflegebedürftiger, mehr Männer als Frauen und eher Jüngere als Ältere. In einer Untersuchung dazu wird deutlich: die wechselseitigen Unterstützungsleistungen verbessern die Lebensqualität aller Beteiligten. Es tut gut, gebraucht zu werden und Freunde zu haben. „Die Sorge füreinander kann uns helfen, reicher, lebendiger und sinnvoller zu leben.

 

2. Zurück ins Gemeinwesen: Sorgende Gemeinschaften

Sorgende Gemeinschaften, „Caring Community“ sind zu einem internationalen Leitbegriff geworden, um auf regionaler und lokaler Ebene Verantwortungsstrukturen neu zu beleben und zu gestalten. In Deutschland ist auch von „Sorgenden Gemeinden“ oder von „Verantwortungsgemeinschaften“ die Rede. Kommunen, Kirchengemeinden, Schulen und Unternehmen sind gefragt und greifen das Thema auf. Und es ist kein Zufall, dass auch die Idee der Gemeindeschwester in anderer Gestalt wiederkehrt- als Quartiersmanager oder Ehrenamtskoordinatorin. Sie entstand ja in einer Zeit, in der für viele Menschen die sozialen Netzwerke zusammenbrachen. Die Schattenseite der neuen Produktivität und des steigenden Wohlstands im 19. Jahrhundert waren Arbeitslosigkeit und Armut, Wohnungsnot und überforderte Familien. Als in Kaiserswerth die ersten Diakonissen für die Gemeindepflege ausgebildet wurden, entwickelte Johann Hinrich Wichern in Hamburg ein ganz neues Wohnquartier – mit Schule, Krankenhaus und Gemeinschaftshaus. Er hatte vor allem Familien in Armut im Blick. Und auch heute geht es in den Sorge-Netzwerken um ganz unterschiedliche Notlagen. Es gibt Welcome-Netzwerke mit frühen Hilfen für Neugeborene und ihre Familien, aber auch Inklusionsnetzwerke, die Kinder und Erwachsene mit Behinderung im Blick haben – von der Schule bis zur Ausbildung oder auch zu Freizeitangeboten. Und natürlich Demenznetzwerke für Betroffene und ihre Angehörigen. Wohlfahrtsverbände, Ehrenamtsgruppen und Städte machen sich auf den Weg. Es gibt Bürgerkommunen, Alternsgerechte Kommunen, Familienfreundliche Städte.

Aber der Bewegungsspielraum vieler Kommunen ist inzwischen gering. Viele sind kaum noch in der Lage, ihre Pflichtaufgaben in ausreichendem Maße zu erfüllen – geschweige denn, den wachsenden Erwartungen nachzukommen. Günstige Wohnungen, Ganztagsbetreuung in Kitas und Schulen, möglichst angepasste Pflegeangebote und eine alternsgerechte städtische Infrastruktur und gute Beratungsangebote.

Auf diesem Hintergrund wurde das Wohnquartier wiederentdeckt. Im Stadtteil, in der Nachbarschaft, wo Menschen einkaufen, ihre Kinder zur Tageseinrichtung bringen, wo Schulen und Sportvereine Anknüpfungspunkte bieten und Ärzte medizinische Versorgung bereitstellen, begegnen sich unterschiedliche Menschen noch immer ganz selbstverständlich. Hier gibt es Angebote für Bildung, Gesundheit und Freizeit, die jeder braucht. Wer bestimmte Zielgruppen unterstützen will – die Älteren zum Beispiel, Menschen mit Behinderung oder Familien in Armut, muss die Angebote verknüpfen und transparent machen. Runde Tische und Netzwerke sind nötig, aber auch Einrichtungen der Begegnung und Beratung. Das gelingt nur, wenn Kommunen, soziale Dienste und die Wohnungswirtschaft, aber auch Verkehrsbetriebe und Einkaufszentren, Ärzte oder Nachbarschaftscafés zusammen arbeiten und sich auch mit ehrenamtlich Engagierten vernetzen. Ein Beispiel dafür ist Wohnquartier 4 hier in Rheinland-Westfalen-Lippe, das vor allem Ältere, aber auch Menschen mit Behinderung im Blick hat. Solche Netzwerke brauchen allerdings ein Management. Die Erfahrung zeigt: Das geht nicht ohne Flyer, Website und Newsletter. Und auch nicht ohne Hauptamtliche, ohne einen Stundenanteil der Arbeit im Quartiersmanagement oder in einem Mehrgenerationenhaus. Hier sind Kirche, Diakonie mit ihren Ressourcen gefragt.

In der Zusammenarbeit von Kirche und Diakonie liegt ein großes Potenzial, die quartiersbezogene Entwicklung für Familien, Pflegende und Pflegebedürftige oder auch für von Armut Betroffene und Flüchtlinge zu unterstützen. In diesen Feldern haben wir nicht nur eine lange Tradition diakonischer Arbeit mit Kindergärten, Pflegediensten, Sozialarbeit. Die Gemeinde bringt auch ein ungeheures Kapital an Kontakten, Netzwerken und ehrenamtlich Engagierten ein. Fast an jedem Ort gibt es Kirchen und Gemeindehäuser, öffentliche Räume mit ungeheuren Möglichkeiten für Begegnungen, Basare, Cafés und Büros. Begegnungsräume, die zugänglich sind, ohne Eintritt zu bezahlen. Und die Diakonie bietet noch mehr: professionelle Dienstleistungen, Unternehmensgeist und Offenheit und sozialpolitisches Know-how. Ich weiß wohl: die Zusammenarbeit hakt immer wieder – die Mitarbeitenden in Kirche und Diakonie sprechen eine andere Sprache und haben oft auch andere Menschen im Blick. Denn auch wenn die Aufbrüche der Inneren Mission im 19. Jahrhundert vom Quartier ausgingen – die Entwicklung des Sozial- und Wohlfahrtsstaats führte zunächst zu den Anstalten, in denen Hilfebedürftige fernab von ihren Gemeinden versorgt wurden, und dann zu den Dienstleistungen auf dem Sozialmarkt, die wir heute kennen. Und die Kunden dieser Dienste – aus den Pflegediensten oder den Familienberatungsstellen – kommen in der Ortsgemeinde oft gar nicht vor. Viele sind Mitglieder der Kirche, aber sie haben das Gefühl nicht dazu zu gehören. So wie damals die griechischen Witwen. Wenn wir beides zusammenzubringen – die Lebensweltorientierung der Gemeinde und die Professionalität der Diakonie, aber auch: Orientierung an denen, die in die Gemeinde kommen, und denen, die das besondere Engagement der Kirche brauchen – dann können wir viel bewegen. Die Zusammenarbeit von Kirche und Diakonie in der Person der Gemeindeschwester kann da beispielhaft sein. Angestellt im Mutterhaus arbeitete sie in der Ortsgemeinde.

Aber natürlich leben wir nicht mehr in den 1950er Jahren, geschweige denn im 19. Jahrhundert. Unsere Umwelt ist bunt und vielfältig geworden, kirchliche Einrichtungen sind oft in der Minderheit. Es geht also um die Entwicklung eines neuen Selbstverständnisses – offen, inklusiv und quartiersbezogen. Es geht darum, zu schauen, was andere schon tun, sich zu vernetzen und dann die eigenen Stärken einzubringen. Kirche? Da sind doch nur noch alte Menschen, sagen manche. Vielleicht liegt da aber auch eine besondere Stärke der Kirche. Denn ältere Menschen sind stärker ortsgebunden; sie engagieren sich in Vereinen und Verbänden, wo junge Leute immer schwerer Anschluss finden, aber zunehmend auch in Bürgerinitiativen und Genossenschaften oder in der Kommunalpolitik. Und noch immer engagieren sie sich stärker als in anderen Bereichen in Kirche und Religion. Vielleicht ist noch zu spüren, dass die Rolle der „Ältesten“ in der Kirche eine lange Tradition hat. Früher wurden Kirchenvorsteher so genannt. Heute kehrt die Rolle wieder in den vielen Mentorenaufgaben, die in unserer Gesellschaft immer wichtiger werden. Ausbildungsmentoren, Lesepaten, ehrenamtliche Betreuer, Stadtteilmütter. Die Liste ist lang, es gibt unglaublich viele spannende Projekte in Kirche und Diakonie. Die Pflegebegleiter, die für hauswirtschaftliche und nachbarschaftliche Dienste sorgen. Oder die Jobpaten, die schwer vermittelbaren Jugendlichen durch die Ausbildung bis in ein festes Arbeitsverhältnis begleiten. Ein enormes Potenzial. Denn es sind ja die jungen Alten, die für den Aufbau von Sorgenden Gemeinschaften gebraucht werden. Allerdings sind manche da bei auf Übungsleiterpauschalen oder 450-Eurojobs angewiesen, weil sie sich Ehrenamt einfach nicht leisten können.

„In Kirche und Diakonie werden gemeinsam Konzepte entwickelt für die Re-Sozialisierung und Revitalisierung von Kirchengemeinden, damit sie eben nicht erst auf soziale Notlagen reagieren, sondern aktiv daran mitarbeitet, funktionierende Sozialräume zu gestalten und Notlagen präventiv zu verhindern“, heißt es in der EKD-Orientierungshilfe „Im Alter neu werden können“. Ein Beispiel dafür ist die Gemeinde Lindlar, die ihr altes Gemeindehaus und ein Pfarrhaus abreißen ließ und auf dem Gelände ein Mehrgenerationenwohnen und einen neuen Treffpunkt errichtete. Nicht nur mit eigenen Kräften, sondern in einem starken Netzwerk mit einer Wohnungsbaugenossenschaft und einem Pflegedienst und mit der Beratung von Wohnquartier 4 und dem Kuratorium Deutscher Altershilfe. Da hat eine Kirchengemeinde Verantwortung im Quartier übernommen – und damit einen eigenen Wachstumsschub erlebt. Und ein hohes Ansehen am Ort. Ja, Gemeinden können Caring Communities werden. Es fängt damit an, dass sie sich ihren Auftrag erneut bewusst machen.

 

Cornelia Coenen-Marx, Opladen 3.9.17