Göttingen, Edition Ruprecht
Oktober 2016, 24,90 Euro
ISBN: 978-3-8469-0252-3
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Rezension
BUCHSCHAU von Christoph Barnbrock
Cornelia Coenen-Marx, Aufbrüche in Umbrüchen. Christsein und Kirche in der Transformation, Edition Ruprecht, Göttingen 2017, 336 S., – ISBN 978–3–8469–0252–3, 24,90 €.
Das Buch hat ein ungewöhnliches Format: Quadratisch liegt es vor mir auf dem Tisch. Durchaus ansprechend. Für andere, die es dort liegen sehen, ist es – auch angesichts der Farbgebung in Orange, Grün und Gelb – ein Blickfänger. Das quadratische Format mag dabei auch symbolisch für den Inhalt stehen. Denn auch bei einem Quadrat ist ja nicht klar, was die Längs- und was die Breitseite ist. Und so ist in diesem Buch auch nicht so einfach auszumachen, ob Umbrüche einfach nur Umbrüche oder nicht doch eher Aufbrüche sind, ob Krisen nur schmerzhaft sind oder auch neue Möglichkeiten versprechen. Wer dann beginnt, darin zu lesen, bekommt es mit einem sehr persönlichen Buch der Vf. zu tun, in dem sie nah an ihrer eigenen Lebensgeschichte von Aufbrüchen, Abbrüchen und Umbrüchen im Bereich von Gemeinde, Kirche und Diakonie berichtet – doch niemals so, dass es mir als Leser peinlich würde oder ich das Interesse verlöre, weil hier nun zu sehr die eigene Lebensgeschichte vor mir ausgebreitet würde. Dieser Gefahr entgeht die Vf. nicht zuletzt auch dadurch, dass sie eigene Überlegungen in Beziehung setzt zu dem, was sie selbst gelesen hat und was ihr für die Deutung von Zeiten und dieser Welt wichtig geworden ist. So liest sich das Buch als Zeitanalyse, als kleines Handbuch für kirchliche und persönliche Veränderungsprozesse, aber nicht zuletzt auch als kleiner spiritueller Wegweiser. Hier deutet ein Christenmensch sein Leben und das Leben in dieser Zeit und Welt im Angesicht der biblischen Botschaft und erkennt so in allen Umbrüchen eben immer wieder auch Aufbrüche. Das Buch will erkennbar Mut machen, sich diesen Veränderungen zu stellen und sie anzugehen. Längst nicht alle Interpretationsmuster der Vf. kann und will ich mir zu eigen machen. Für die Art und Weise, wie ich theologisch geprägt worden bin, kommen mir etwa der Wandel und das Neue – bei allem Schmerz, den sie auslösen – insgesamt zu positiv daher. Auch die Verhältnisbestimmung von Weltdeutung und Orientierung an der biblischen Botschaft würde ich an verschiedenen Punkten anders vornehmen als die Vf. Bin ich deswegen enttäuscht oder verärgert? Nein, ganz und gar nicht. Ich habe in dem Buch etwas von 128 Buchschau dem erfahren, was die Vf. selbst zum Thema „Gastfreundschaft“ schreibt: „Man braucht den Mut, im Eigenen dem Anderen zu begegnen – dem Bruder eben, der Schwester, die ganz andere Erfahrungen gemacht haben, anders denken, sich selbst, die Gesellschaft und auch Gott anders verstehen.“ (210) So möchte ich mit anderen umgehen, ihnen begegnen und auf sie hören – und hoffe, dass die anderen auch mich entsprechend wahrnehmen. Lange hat dieses Buch – trotz seines ungewöhnlichen Formats und seiner frischen Farbgebung – auf meinem Stapel der zu rezensierenden Bücher gelegen. Ich hätte es früher lesen sollen! Mir ist in der Wartezeit etwas entgangen. Es ist schon jetzt eines meiner Bücher 2018 und wird gewiss auf meiner Literaturliste zur nächsten Veranstaltung zum Thema „Spiritualität“ stehen.
© 2018 Edition Ruprecht / 16.06.2018
http://edition-ruprecht.de
Rezension
Jahrbuch Mission 2018
Mit ihrem neuesten Buch ist die Theologin, Publizistin und ehemaligen Leiterin des Referates für Sozial- und Gesellschaftspolitik in der EKD, Cornelia Coenen-Marx, ein großer Wurf gelungen. Politisch und fromm, persönlich und kirchenstrategisch, ein ungewöhnliches Format, nicht nur wegen des quadratischen Designs. Ihre Analyse ist eindeutig: Kirche, Gesellschaft und Welt – wir leben in Zeiten umfassender Transformationen. Die Gemeinschaft ist davon ebenso erschüttert wie das Individuum irritiert. Dazu ist schon andernorts Kluges zu lesen. Erhellend finden sich in den Analysen von Coenen-Marx aber Umbrüche und Aufbrüche aus der Geschichte der Diakonie, deren Stern aufging, als die bedrückenden gesellschaftlichen Umbrüche im 19. Jahrhundert neue Antworten der Christen einforderten.
Eine aus einer Transformationsdynamik geborene Gestalt wie die Diakonie mag sich den Herausforderungen einer neuen Transformation stellen können. Was sich diakoniegeschichtlich darstellt, untermauert die Autorin, ehemals Vorstand eines großen Diakoniewerks, in zahlreichen persönlichen Facetten, ohne jedoch der Versuchung autobiographischer Verspieltheit zu verfallen. Sie reflektiert die Umbrüche in Diakonie und verfasster Kirche vor dem Hintergrund eines reifen Arbeitslebens, ob in Kaiserswerth oder im EKD-Hauptquartier in Hannover: »Es sind auch meine eigenen Erfahrungen im Umgang mit Veränderungsprozessen, die in diesem Buch Thema sind: Was hilft mir in meinem persönlichen Leben, was gehört sozialpolitisch auf die Tagesordnung und wo liegen die Herausforderungen für die Kirche?«, schreibt sie.
So spielen selbstverständlich in der Beschreibung soziologischer Phänomene wie etwa »Pendelbeziehungen – Das Unterwegssein und die Liebe« auch die eigenen Erfahrungen mit einer jahrelangen Wochenendbeziehung eine Rolle. Und Reflektionen zum Gehalt von Umbrüchen durch Krankheit und Tod sind mit zarter Feder als persönliches Credo gezeichnet: »So betrachtet ist das Sterben die letzte transitorische Betrachtung, die wir machen – auf dem Weg in ein neues, befreites Leben. Und all die Übergänge, die wir beruflich, familiär oder gesundheitlich erleben, sind eine Einübung auf diesem Weg des Loslassens, auf dem wir uns vorbereiten auf den letzten großen Neuanfang.«
Fromm liest Cornelia Coenen-Marx ihr Leben und die Läufe der Zeit mit Hilfe der Bibel, der Schatz jüdisch-christlicher Lebens- und Glaubensweisheit durchzieht das Buch wie ein roter Faden. Politisch schreibt sie, weil die Kirche sich streitbar zeigen muss in den Umbrüchen der Gesellschaft, den Schwachen nicht von der Seite gehend. Wohltuend, dass sie immerzu verfasste Kirche und Diakonie zusammen denkt, nur so kann es gelingen.
»Aufbrüche in Umbrüchen« ist keine klassische Zeitansage. Die Autorin zeigt nicht, wohin es gehen wird. Aber ihr gelingt eine Art Zeitdeutung, die beschreibt, wie es gelingen kann, in Zeiten der Transformation zu bestehen. Achtsam und im Kontakt mit den eigenen Gefühlen, Grenzen und Träumen. Neugierig auf das Neue. Und: »Nur mit Mut und Vertrauen werden wir die aktuellen Umbrüche für lebendige Gestaltung nutzen«, schreibt die überzeugte Mutmacherin Cornelia Coenen-Marx.
Friedemann Magaard
BuchMarkt / 7.02.2017
www.buchmarkt.de
Edition Ruprecht: Luther-Jahr und dann?
Luther und das Reformationsjubiläum sind in aller Munde. Doch wie geht es danach weiter? Wir sprachen mit der evangelischen Theologin Cornelia Coenen-Marx über ihr neues Buch „Aufbrüche in Umbrüchen“ (Edition Ruprecht) und darüber, wie die Kirche jetzt aktuelle Veränderungsprozesse der Gesellschaft produktiv bewältigen helfen kann.
BuchMarkt: Frau Coenen-Marx, warum ist die Kirche auch nach dem Jubiläum ein aktuelles Thema?
Cornelia Coenen-Marx: Eines gerät vielfach aus dem Blick: Die Reformation leitete eine große gesellschaftlicheTransformation ein – sie war aber auch selbst Folge einer Transformation. Mit dem Aufkommen des internationalen Handels sowie des Geld-und Bankenwesens war die Reformationszeit von erheblichen ökonomischen Umbrüchen geprägt. Der Preisverfall einheimischer Erze entzog den Bergleuten die Existenzgrundlage. Der Paradigmenwechsel von der Naturalien-zur Geldwirtschaft wirkte sich dramatisch aus. Die Auflösung der Ständegesellschaft im Frühkapitalismus erforderte also eine neue Ethik gesellschaftlicher Verantwortung – eine Neuordnung von der Familie bis zur Fürsorge für die Armen.
In diesen Veränderungsprozessen spielte die Kirche eine entscheidende Rolle?
Sie spielte eine entscheidende Rolle indem sie den Einzelnen Mut machte, der eigenen Berufung zu folgen und gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen, und indem sie die Gemeinschaft unter den Menschen stärkte. Diese Haltung kann auch angesichts der aktuellen Herausforderungen hilfreich sein.
Und darum geht es in Ihrem Buch?
Mein Buch Aufbrüche in Umbrüchen (Edition Ruprecht) handelt von diesen aktuellen Herausforderungen und geht der Frage nach, wie sich die gegenwärtigen Transformationsprozesse – Globalisierung, Beschleunigungsprozesse, Migration, demokratischer Wandel – auf unser alltägliches Leben wie auf das Gesellschaftliche auswirken. Ich habe beschrieben, welche gesellschaftlichen Herausforderungen dies alles mit sich bringt, und woher die Einzelnen die Kraft nehmen, damit produktiv umzugehen. Ich habe neue Wege des Gemeinschaftlichen zu erkunden versucht.
Welche Fragen stehen hierbei im Fokus?
Nicht nur soziale Fragen, sondern auch spirituelle und letztlich theologische Fragen: vom Umgang mit Zeit, der Suche nach Identität, der Begegnung mit Fremden bis zum Respekt vor den Grenzen des Machbaren. Aus eigener Erfahrung berichte ich über das, was Menschen in Umbrüchen verunsichert und umtreibt, aber auch über Hilfestellungen und Chancen, die darin liegen. Dabei geht es auch um scheinbar ganz alltägliche Fragen wie den Umgang mit dem eigenen Körper, mit Krankheit und Schmerzen, um Reisen und Rituale.
Sie gehen auch auf die Möglichkeiten der Kirche heute ein…
Genau – am Ende schaue ich auf die Möglichkeiten der Kirche heute, deren Einfluss in einer pluralen und auch säkularen Gesellschaft natürlich nicht mehr groß ist. Aber Kirche hat viel von dem, was wir in dieser Transformation brauchen: Angebote und Möglichkeiten, sich zu engagieren, Chancen zur Beteiligung und Auseinandersetzung mit anderen. Das beginnt bei den Räumen, die die Kirche in fast jedem Dorf oder Stadtteil hat und die für Begegnungen genutzt werden können.
Kirche hat alte und neue Rituale, die helfen Übergänge zu gestalten. Und sie hat eine eigene Kultur der Auseinandersetzung über Grundlagen und Werte. In der Sprache der Reformation würde man sagen: Wichtige Potenziale liegen im Priestertum aller, der Offenheit für Debatten über die Bibel, aber auch in dem noch immer lebendigen Anschluss an alte mystische Traditionen. Vor allem aber hat Kirche Erfahrung mit Übergängen – in der Begleitung Einzelner wie auch gesellschaftlich. Wir sind weniger ‚ein’feste Burg‘ als eine Pilgergruppe, die sich gegenseitig unterstützen kann. Wie sich Kirche auch ganz praktisch wandeln muss, um diese Vorzüge besser zum Leuchten zu bringen, dazu sage ich etwas aus meinen Erfahrungen in unterschiedlichen Bereichen von Kirche und Diakonie.
Also nur eine Lektüre für Fachleute und Theologen?
Nicht nur. Angesprochen werden sollen engagierte Christen und Christinnen und diejenigen, die sich fragen, ob und wie Kirche beitragen kann, die gegenwärtigen Veränderungsprozesse produktiv zu bewältigen: für die Einzelnen wie für die Gesellschaft.
Weitere Rezensionen finden Sie hier:
Evangelisches Frankfurt vom 17.11.2016
Hessisches Pfarrblatt: April 2017, Martin Zentgraf
Cornelia Coenen-Marx:
Aufbrüche in Umbrüchen. Christsein und Kirche in der Transformation.
Göttingen: Edition Ruprecht 2017. 336 S., broschiert für 24,90 Euro; ISBN 978-3-8469-0252-3.
Wer kennt nicht moderne Unheilspropheten, die angesichts eines oft rasanten Wandels in Kirche und Gesellschaft nur Negatives sehen, Vergangenem nachtrauern und Früheres nur idealisieren und vergolden.
Krisen gelten als Gefahren, die Bewährtes bedrohen und zum Einsturz bringen.
Wie der Titel des Buches schon zeigt, geht die Verfasserin den anderen Weg, in den Umbrüchen der Gegenwart Chancen für Aufbrüche und Transformationen des Christseins und der Kirche zu entdecken. Dabei reflektiert die Autorin ihre Erfahrungen als Gemeindepfarrerin, aus Leitungspositionen ihrer rheinischen Landeskirche und der EKD sowie als Vorstand der Kaiserwerther Diakonie in Düsseldorf. Weitere Angaben zu ihrer Vita können den biografischen Notizen auf der letzten Seite entnommen werden.
In der Alten Kirche gab es die aus der antiken Rhetorik gespeiste Gattung der Exhortatio etwa zur Philosophie als Lebensgestaltung. In dieser Tradition plädiert die Verfasserin in vielen Variationen dafür, die Zeichen unserer Zeit nicht zu übersehen und die sich bietenden Chancen zu nutzen. Einem billigen Optimismus um jeden Preis wird durch Berücksichtigung auch ernster Themen entgegengewirkt. Wer vielleicht gelegentlich an der Gegenwart verzweifelt, sollte das Buch lesen; es wird ihm/ihr guttun.
http://evangelischesfrankfurt.de/2016/11/mut-vertrauen-neugier-und-lust-auf-neues/
Mut, Vertrauen, Neugier und Lust auf Neues
„Aufbrüche in Umbrüchen – Christsein und Kirche in der Transformation“: Ein Plädoyer für Mut und Vertrauen, Neugier, Lust und für Bereitschaft, Dinge zu verändern und Neues zu wagen – als Christ und Christin, als Kirche und als Gemeinschaft aller.
Nimmt man das große Ganz in den Blick, die vielen Facetten des gesellschaftlichen Miteinanders, kann es schnell komplex und unübersichtlich werden. Die Frage danach, in welcher Gesellschaft wir leben wollen, muss sich an alle Akteurinnen und Akteure einer Gemeinschaft richten. An die Einzelnen wie an die unterschiedlichen Institutionen einer Gesellschaft. Dem Zugrunde sollte ein Wertekanon liegen, mit dem sich die Mehrheit aller identifizieren kann oder der zumindest eine Orientierung bietet.
Cornelia Coenen-Marx sieht hier vor allem die Kirche in der Pflicht. Sie sollte den Menschen eine erkennbare, glaubwürdige und hilfreiche Identität bieten. Wichtig hierbei sei die ständige und ehrliche Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Veränderungen und deren Bedeutung für ein gutes Miteinander. Werte schöpft die Kirche aber auch aus dem Stetigen, den Ritualen, den heiligen Räumen. Sie geben Halt und gehören zu ihrem Schatz, so die Autorin.
Dabei dürfe die Kirche aber nicht zum Museum verkommen. Sie soll ihre „Türen und Fenster nicht schließen, um so Glauben und Tradition zu schützen“. Dann nämlich „wird es eng und stickig“, mahnt Coenen-Marx. Sie muss dran bleiben, die Kirche. Mit neuen, unkonventionellen Ideen zum Beispiel in der Gemeindearbeit. Sie muss Netzwerke spinnen, neue Formen von Kooperationen eingehen. Allen voran sollte sie ihr Profil schärfen. Ihre Stärken, das Wissen über Gemeinschaft und Zusammenhalt, über Engagement und Solidarität und über Nächstenliebe. Diese Schätze zu bündeln und damit „professionell auf den Markt gehen – den Sozial- und Gesundheitsmarkt wie den Sinnmarkt.“
Cornelia Coenen-Marx weiß, wovon sie spricht. Aus ihrer langjährigen innovativen Arbeit in verschiedenen Positionen innerhalb der Kirche bringt sie viel Erfahrungen und praktisches Know-How mit. Ihre eindeutige Botschaft ist: Fast alles ist möglich. Jede und jeder muss einzig dafür bereit sein. Mut haben, sich aus Gewohnheiten zu lösen. Neugierig sein, was das Neue bringen wird. So die fast zu einfach klingende Formel.
Die Autorin berichtet viel über Aufbrüche, Umbrüche, Zeiten von Veränderungen, Wendepunkten, von Krisen und Neuanfängen – im Kleinen und ganz persönlich. Ihre Beschreibungen und alltäglichen Berichte scheinen eine universelle Gültigkeit zu haben. Es lässt sich Trost finden, aber auch Kraft schöpfen aus diesem Buch. Coenen-Marx wird nicht müde zu raten und dem Leser und der Leserin ans Herz zu legen die Notwendigkeit zu begreifen, mit Veränderungen positiv umzugehen oder dies zu lernen. Hier verberge sich die Chance, die Dinge bewusst zu denken und sich mit seiner kulturellen und religiösen Identität aufs Neue auseinander zu setzen.
Mit ihrem neuen Buch veröffentlicht Cornelia Coenen-Marx einen ungewöhnlich daher kommenden Ratgeber der eine vielfältig geprägte gesellschaftliche Realität in den Blick nimmt: Die Institution Kirche, nicht ohne Kritik und in ihrer strukturellen Wahrheit, ausgestattet mit unverzichtbaren Ressourcen, zielgerichtet und im Aufbruch. Die unterschiedlichen Menschen in ihr, mit ihren körperlichen und spirituellen Persönlichkeiten und scheinbar bereit, Veränderungen anzupacken.
„Es ist alles schon da!“ könnte eine passende Antwort von Marx-Coenen sein auf die Frage: In welcher Gesellschaft wollen wir leben?
Cornelia Coenen-Marx: Aufbrüche in Umbrüchen: Christsein und Kirche in der Transformation. Edition Ruprecht, 2016, 339 Seiten, 24,90 Euro.
Wie ein Buch mit einem Titel wie „Aufbrüche in Umbrüchen – Christsein und Kirche in der Transformation“ auch noch trösten kann
Für mich stand immer fest: Kirche ist und war in Europa – bei allen Brüchen, Fehlern und sogar Verbrechen – eine unverbrüchlich Identität stiftende spirituelle, kulturelle und sozial wie gesellschaftlich, manchmal sogar politisch relevante Größe. Das hat einerseits mit meiner eigenen Sozialisation zu tun – von evangelischem Kindergarten bis Gymnasium -, andererseits mit meinem Studium unter anderem der Philosophie und Geschichte. Dass und warum „die Kirche“ – zu der ja auch Diakonie und Caritas mit all ihren Hilfsangeboten gehören – mit der ihr sozusagen „von Natur aus“ zugrunde liegenden einzigartigen Stellung in unserer Gesellschaft all den Prozessen von Ungerechtigkeit, Kriegen, Konsumdenken, Egoismus etc. so selten entschieden Paroli bietet, etwa nach dem Motto: „Wir stehen für ein ANDERES Leben!“, das habe ich noch nie verstanden. Ich weiß nur: Sie könnte es. Und tut es viel zu selten. Doch das ist ein Thema, für das ich hier gar nicht genug Platz finden würde…
Die Autorin: Cornelia Coenen-Marx
Tatsache ist: Ich war und bin froh und glücklich, 15 Jahre als stellvertretende Leiterin der Pressestelle für einen großen evangelischen Verband gearbeitet zu haben. Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit sind nun mal „mein Thema“. Aus dieser Zeit kenne ich auch Cornelia Coenen-Marx. Sie war immer so etwas wie ein Vorbild für mich: ihre unglaubliche Vernetzungsfähigkeit – schon in einer Zeit, als die Definition von „Vernetzung“ im Sinne einer unverzichtbaren Fähigkeit der Kommunikation noch in den Kinderschuhen steckte –, ihre Neugierde und der Mut, immer wieder Neues zu wagen, all das hat mich damals schon beeindruckt. Ganz zu schweigen von den überaus zahlreichen, engagierten Büchern, Sachtexten, Rundfunksendungen, der redaktionellen Mitarbeit an fast allen wichtigen Kommunikations-Schaltstellen evangelischer Kirche. Und der Tatsache, dass sie all das tat, obwohl (ja, Absicht!) sie eine Frau ist in einer – zumindest in den „oberen Rängen“ – leider immer noch stark männlich geprägten Welt….
Man könnte auch sagen: Sie hat sich immer gekümmert. Ja, sie ist Theologin. Das erwartet man von einer Pfarrerin. Aber das Ausmaß des „Kümmerns“ ist bei Cornelia Coenen-Marx durchaus größer als üblich. Davon zeugt auch die Tatsache, dass sie heute mit ihrer Agentur Seele und Sorge noch immer Workshops und Beratung anbietet – obwohl die 1952 geborene Oberkirchenrätin eigentlich schon im Ruhestand ist. Dort bietet sie – nur ein Beispiel der breiten Angebotspalette – etwa diakonische Pilgerreisen zu Kraftorten an.
Ihr Haupt- Thema aber sind Übergangssituationen, Aufbrüche und Umbrüche. Genau dazu ist soeben ihr neues Buch erschienen: „Aufbrüche in Umbrüchen – Christsein und Kirche in der Transformation“, Göttingen 2016.
Das Buch: Aufbrüche in Umbrüchen
Es ist fast quadratisch. Es ist umfangreich. Und gehaltvoll. Denn Coenen-Marx unternimmt hier nichts weniger als den Versuch, „die Kirche“ (wohlgemerkt vorwiegend aus evangelischer Sicht) und den Menschen in ihr mit all seinen Befindlichkeiten, das Ganze dann auch noch in der Welt von heute plus einem Blick in die Zukunft zusammen zu denken.
Versuch? Ich gebe zu: Die ersten Seiten zu lesen fiel mir schwer. Denn das Buch geht vom Allgemeinen ins ganz Persönliche, Plastische, Konkrete. Das Thema ist groß, sehr groß: „Christsein und Kirche in der Transformation“. Da müssen erst einmal Rahmenbedingungen genannt werden, da muss Bestandsaufnahme gemacht werden. Ohne Frage notwendig. Und vermutlich bin ich nicht die „klassische Leserin“ – für mich waren das schlicht Fakten, die ich schon kannte. Doch dort, wo sie beginnt, persönlich zu werden, wo sie vom Scheitern, von „Umzügen und Neuanfängen“, vom „Potenzial des Älterwerdens“, von Wendepunkten und „Eigenzeit“, von der „wirklichen Berufung“, von „sorgenden Gemeinschaften“, „Sehnsuchtszielen“, der „Diakonie im Quartier“, der Arbeitswelt von heute, dem „Ja- und Nein-Sagen“ schreibt, da hatte sie mich ganz schnell gepackt: Nein, kein Versuch, sondern rundum gelungen. Wohlgemerkt: Sie erzählt dabei keineswegs die ganze Zeit von sich, sie spricht von ihren Erfahrungen, Begegnungen und Erkenntnissen aus all den Einblicken in zahlreiche, ganz unterschiedliche gesellschaftliche Realitäten, die sie wirklich in ihrem überaus facettenreichen Leben hatte. Das hat – zumindest für mich – ganz schnell gleichzeitig universelle Gültigkeit UND einen sehr persönlichen Bezug zu meinem Leben, der Realität, wie auch ich sie täglich sehe, wahrnehme. Zu dem, was auch mir aufstößt, mich wundert oder gar verletzt.
Und dann geschieht etwas Wundersames: Sie schafft es mit diesem schier unmöglich großen (sprich: thematisch groß angelegten) Buch, mich zu trösten.
Kirche, ich, wir und die Gesellschaft
Dieses Buch ist kein Ratgeber, der nur einen kleinen Bereich meines Lebens in den Blick nimmt, es ist wirklich „ganzheitlich“ – auch wenn dieser Begriff normalerweise anders gebraucht wird. Coenen-Marx schafft es nämlich, alle für mich wichtigen Bereiche des Themas gleichzeitig in den Blick zu nehmen: Kirche von innen, ihre Werte, Strukturen und Ziele. Und den Menschen in alledem: von seiner körperlichen bis zu seiner geistigen/spirituellen und gesellschaftlichen Realität.
Damit nicht genug, beschreibt sie auch noch, wo Kirche in ihrer Rolle, mit ihren Zielen und Aufgaben mit Blick auf die Gesellschaft wie auf andere Gemeinschaften steht, gleichzeitig universell wie ganz pragmatisch, mit vielen Best-Practice-Beispielen. Das aber keineswegs kritiklos: Mit Blick auf das „lebenswerte Miteinander im Quartier“ sagt sie etwa: „Noch sind Kirchengemeinden zu selten in Netzwerken und Modellprojekten engagiert“. Oder mit Blick auf die Leistungen von Diakonie und Caritas: Wir haben uns zu lange nur auf „Fachlichkeit und Wirtschaftlichkeit konzentriert und über Religion, Ethik und Spiritualität oft geschwiegen – und damit möglicherweise Suchende allein gelassen.“ Ganz wichtig ist: Die beiden Zitate stehen unter der Überschrift „Es ist alles schon da!“ Damit meint sie „die Ressourcen der Kirche für die Bewältigung gesellschaftlicher Umbrüche.“ Und genau das finde ich so tröstlich, besagt es doch, dass alle, die sich den Zielen von Kirche in irgendeiner Form verbunden fühlen, durchaus die Chance haben, die anstehenden Umbrüche gut zu bewältigen.
Die Formulierung „Kirche in irgendeiner Form verbunden“ habe ich nicht zufällig gewählt, denn auch das ist Coenen-Marx wichtig: Dass Kirche ernst macht mit der biblischen Erkenntnis, dass „auch – und vielleicht gerade – die, die wir für schwach halten, eine Berufung mitbringen, die Welt zu gestalten.“
Umbrüche und Identität
Tröstlich sind aber natürlich noch viel mehr all jene Passagen, in denen es um den „Menschen an sich“ geht. Jedenfalls mich tröstet es immer, zu wissen, dass meine eigenen Prozesse – des Umbruchs beispielsweise – sich in den größeren Umbruchsprozessen des biologischen Lebens (soll heißen: des Älterwerdens) ebenso spiegeln wie in den gesellschaftlichen Umbruchsituationen, in denen wir uns zweifelsohne jetzt (wie immer wieder) befinden. Dem geht Coenen-Marx auf allen Ebenen nach: Sei es, dass sie – mit Blick auf ihr eigenes Leben – schreibt: „wieder einmal geht es darum, ein altes Stück Identität loszulassen – eine gewohnte, vielleicht auch überlebte Rolle“. Die Identität aber kann für Coenen-Marx (wie übrigens auch für mich) nie wirklich verloren gehen, denn „Gottes Identität ist im Wandel – nicht anders als unsere“, sagt sie. Und meint das keineswegs konfrontativ, sieht sie doch zum Beispiel auch in den Stationen eines Pilgerwegs ein Abbild der Stationen jenes Wandels, dem wir selbst alle, wie vermutlich jedes Geschehen auf dieser Welt, auf die ein oder andre Weise unterworfen sind. Und von dem wir – allein durch unsre Existenz – immer wieder Zeugnis ablegen. Ob wir das nun wollen oder nicht…
Sie wird noch viel konkreter, etwa in den Kapiteln „Gefühle ernst nehmen“ – „den Körper wahrnehmen“ – „die eigne Stimme finden“ – „den Träumen auf der Spur“ – „Ballast abwerfen und loslassen“. Und vielen mehr. Kann ich natürlich nicht alles nacherzählen… Bitte selber lesen!
Das ganz Große. Und das scheinbar Kleine
Ich denke, es ist schon spürbar geworden: Dieses Buch ist ein ganz besonderes Projekt. Ich jedenfalls kenne nur wenige Bücher, die sich so gekonnt wie elegant zwischen dem „ganz Großen“ und dem scheinbar „ganz Kleinen“ hin und her bewegen. Hier liegt auch die Erklärung für meine anfängliche Irritation auf den ersten Seiten. Die Erklärung ist simpel: Sie ist allein in der Art begründet, wie Coenen-Marx denkt. Sie hat alle Faktoren des vernetzten Denkens so sehr verinnerlicht und gleichzeitig ein so breites Fachwissen wie persönlich ausgereifte Statements, dass die notwendige Linearität eines Buches all diesen Faktoren gar nicht gerecht werden kann. So finden sich beispielsweise alle für mich wichtigen Passagen im hinteren Teil des Buches, so dass ich mich zunächst irritiert fragte, warum sie die nicht an den Anfang gestellt hat. Bis ich erkannte: Ich befinde mich mitten in einem gedanklichen Netzwerk mit so vielen internen Querverweisen, dass eigentlich nur ein Online-Projekt mit allen virtuellen Vernetzungsmöglichkeiten – sozusagen dreidimensional – diesem in sich vernetzten Gedankengut gerecht werden könnte. (Denn selbstverständlich spielen auch Internet und Soziale Netzwerke in den Gedanken der Cornelia Coenen-Marx eine Rolle….)
Transformationsprozesse. Oder: Ich bin nicht allein!
Dass dazu all die Lebenserfahrung einer 64-Jährigen gehört, ist der eine Aspekt. Dass es dabei um Kirche und Gesellschaft geht, der wohl viel wichtigere: Denn das Thema ist groß, geht uns alle an, ist genauso umfassend wie tief verwurzelt in unser aller (Seelen-)Biographie, zu der – ob wir nun Christ/in sind oder nicht – immer auch der „Transformationsprozess“ gehört, dem wir als Person wie als Gesellschaft ausgesetzt sind. Diese universelle Definition von Transformation ist die eigentliche Klammer, die das Buch zusammenhält. Und da auch ich immer schon glaubte, dass jeder einzelne Mensch immer Teil eines größeren Ganzen ist/sein muss (das man natürlich nicht zwingend Gott nennen muss…), besteht der dritte Aspekt dafür, dass ich dieses Buch so tröstlich finde, eben genau darin – und die lautet knapp gefasst: Ich bin nicht allein.
Ein wirklich wichtiges Buch
Dieses Buch zwingt seine Leser/innen fast dazu, ihre eigene Biografie zu ihm (oder seiner Autorin) in Bezug zu setzen, wie ich das eingangs getan habe. Es beinhaltet unglaublich viele Aspekte – die einzeln gelesen oder eben als „großes Ganzes“ gesehen werden können. Zu Fragen, die uns wirklich alle angehen. Sei es, weil wir älter werden, oder nicht wissen, wie wir mit Hilfsbedürftigkeit umgehen sollen, mit Armut oder „dem Fremden“, von der optimalen Nachbarschaft oder gleich einer „besseren Welt“ träumen, noch immer keinen Weg gefunden haben, um unser vielleicht ganz verstecktes Bedürfnis nach Spiritualität zu leben, gern ehrenamtlich sinnvoll aktiv werden wollen, oder, oder… Jede/r von uns wird es vermutlich anders lesen. Und aus all diesen Gründen finde ich, dass es ein wirklich wichtiges Buch ist.
http://unruhewerk.de/christsein/
Interview auf der Frankfurter Buchmesse zu „Aufbrüche in Umbrüchen“
22.10.2016
Live von unserer Buchpräsentation zu „Aufbrüche in Umbrüchen“, gerade auf der Bühne der Deutschen Bibelgesellschaft bei der Frankfurter Buchmesse. Dort plaudern die Autorin Cornelia Coenen-Marx und Benjamin Lassiwe (gerade noch als Journalist bei der Israel-Pilgerreise von EKD und katholischer Bischofskonferenz). Über Neuanfänge im eigenen Leben, über das Engagement in Kirche und Gesellschaft.