Newsletter Nr. 16 / Juli 2019


THEMENÜBERSICHT IN DIESEM NEWSLETTER

VERBUNDENHEIT AUS DISTANZ UND NÄHE★ ANGST VOR DER ZUKUNFT  KIRCHE UND DEMOKRATIE  ARBEIT, PFLEGE, SORGE, DIGITAL UND ANALOG  SELBSTSORGE UND MITSORGE  DER HIMMEL SORGT FÜR MICH


Verbundenheit – aus der Distanz und in der Nähe

Plötzlich war ich wieder in Keyenberg. Die Videos von Alle Dörfer bleiben haben mich hingebracht. Und ich dachte gleich an Kuckum, Beverath, Oberwestrich, Unterwestrich – die anderen Dörfer, die wie Keyenberg einmal zu meiner Gemeinde in Wickrathberg gehörten –; an das Krankenhaus in Immerath, wo ich gelegentlich Menschen besuchte, und an den Immerather Dom, der inzwischen abgerissen wurde. Auch auf meiner Homepage wurde das Abrissvideo zigmal geklickt. Auf YouTube war ich virtuell mit Ende Gelände unterwegs im RWE-Tagebau von Garzweiler – und es erinnerte mich an den Betriebsausflug damals in den 80ern, als ich ganz real bei „Rheinbraun“ war. Der Werbefilm zeigte Kohleabbau und Umsiedlung in anderen Farben, bei Kaffee und Kuchen, versteht sich. Draußen, unter den riesigen Baggern, begriff ich, dass viele den Abbau als schicksalhaft hinnahmen. Trotz der Schneise von Zerstörung auf Feldern, in Dörfern und Wäldern. Über den Gemeinden und ihren Kirchenvorständen lag eine lähmende Ohnmacht – zu viele waren abhängig von diesem großen Arbeitgeber und Ausgleichszahler. Vom Kirchenkreis, von der Landessynode gab es dann kritische Stellungnahmen – mit mehr Abstand, mit mehr Menschen im Rücken war anderes möglich. Ein längerer Atem, gegründete Freiheit. Nur die Landwirte schienen eine ganz eigene Freiheit zu haben. Sie kämpften schon früh um den über Generationen kultivierten Mutterboden. Vergebens.

Viele Dörfer sind längst umgesiedelt, in den alten Ortschaften leben vorübergehend Migranten – hin und her gerissen die Bewohner. „Alle Dörfer bleiben“ kommt spät und erinnert daran, dass Heimat mehr ist als eine Sammlung von Eigenheimen. Heimat, das ist kultivierter Boden, aber auch eine gewachsene Sozialkultur – „Glaube – Sitte – Heimat“, die vertrauten Fahnenworte der Schützenbruderschaft, von mir immer belächelt, erinnern daran. Heimat, das begreife ich, ist eben mehr als ein Stadtentwicklungsprogramm, mehr als inklusives Quartiersmanagement, ja, mehr sogar als eine gute Schule. Heimat braucht tatsächlich ein reges Vereinsleben, eine lebendige Kirchengemeinde, eine bunte Parteienlandschaft, engagierte Geschäftsleute, vielleicht auch einen gemeinsamen Dialekt, den auch Zuziehende lernen können. Menschen, die den Geist eines Ortes prägen. Was früher einfach die Dorfgemeinschaft war, verstehen wir heute als Netzwerk aller, das alle trägt und eben Heimat bildet. Deshalb genügt es nicht, wenn in Keyenberg die Häuser stehen bleiben.

Dass Technik, Wirtschaft und Wachstum zwar weiter, aber nicht unbedingt „nach vorn“ führen, begreifen wir spät – vielleicht zu spät. „Bauer Willi“ aus Keyenberg beschwerte sich übrigens, dass die Aktivisten von Ende Gelände die Möhrenfelder zertrampelt hatten (und er reflektierte anschließend das Mediengeschehen, dessen Teil er ist). Manchmal verhindert der – kulturelle – Abstand sicher auch, dass wir gemeinsam an einem Strang ziehen, um unsere Heimat zu erhalten.

Angst vor der Zukunft – wie umgehen mit dem Druck?

„Ihr da oben sorgt euch um das Ende der Welt, wir um das Ende des Monats“ ist einer der Slogans der Gelbwesten in Frankreich. Ihre Gedanken kreisen um den abnehmenden Wohlstand, die gefährdete Sicherheit, die Bedrohung durch Fremde. Die „Fortschrittlichen“ stempeln sie als rückwärtsgewandt ab. Aber ich denke, es ist der rasante Wandel, mit dem wir alle konfrontiert sind, der uns alle herausfordert und der zu so unterschiedlichen Reaktionen führt wie die der Gelbwesten, von Ende Gelände oder von Bauer Willi.

Jana Simons Buch „Unter Druck“ (mehr Informationen hier) beschreibt die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen aus der Perspektive ganz verschiedener Menschen, vom Staatssekretär bis zur Krankenschwester. Etwas komme in allen Gesprächen sehr häufig vor, sagt die Autorin in ihrem Buch: „Angst, Angst vor der Zukunft, vor Verlust, Abstieg, Armut, Alter, Krankheit, politischer Spaltung und Instabilität der Welt.“ „Die Konzerne trainieren dich, immer effizienter, immer mehr zu arbeiten. […] Krank werden geht eigentlich nicht“, sagt Jörn Reichenbach, ein Ingenieur, der wegen eines Magengeschwürs zusammengebrochen und länger ausgefallen war. Verglichen mit ihren Eltern, meint Simon, hätten die Reichenbachs heute mehr Arbeit, aber weniger Freiheiten. Es ist diese Erinnerung an uneingelöste Freiheits- und Aufstiegsversprechen, die die Zukunft so ausweglos erscheinen lässt, dass Jörn seiner Frau Kathrin wie im Scherz empfiehlt, ihn vor ein Auto zu stoßen, wenn sich Pflegebedürftigkeit abzeichnet. Die Gewissheit, bei Schwäche und Krankheit versorgt und nicht allein zu sein, ist verloren gegangen. Und so gehört die Angst, nicht mehr versorgt zu sein, wenn man selbst nicht für sich sorgen kann, zu den größten Ängsten der Deutschen. Jana Simon begleitet die Krankenschwester Bozena Block vom Pflegedienst „Home instead“ einen Tag lang und fühlt sich am Ende selbst so, „als hätte einem jemand die Faust in den Magen gerammt, so stark, dass es einem die Luft nimmt“. Es ist schlimm, in Deutschland alt und krank zu sein, schreibt sie – und noch schlimmer, dabei einsam zu sein.

Das meiner Ansicht nach verheißungsvollste Konzept, um Angst und Einsamkeit zu begegnen, sind die Caring Communitys. Sorgende Gemeinschaften für und mit Älteren, nicht zuletzt im Blick auf die Themen Pflege und Hospiz, beschäftigen mich auch in diesem Sommer und Herbst:

4. Juli, Bad Herrenalb, Haus der Kirche, 20. Süddeutsche Hospiztage: „Umsorgt – versorgt. Ausgesorgt?“. Mein Vortrag: „Tragfähige Netze in gesellschaftlichen Umbrüchen: Was die Hospizbewegung zum Aufbau sorgender Gemeinschaften beitragen kann“

27. September, Freiburg, Evangelische Hochschule, Fachtagung der Evangelischen Landeskirche in Baden, „Kirche im Sozialraum – die neue Rolle einer alten Institution“. Mein Vortrag: „Kirche und ihre Kompetenzen im Sozialraum. Kirchengemeinden sind der Dreh- und Angelpunkt?“

19. Oktober, Ismaning, VHS, Fachtag für Hospizbegleiter (ARGE Hospiz) „Durch die Zeit der Trauer“. Mein Vortrag: „Keiner stirbt für sich allein – Sorgende Gemeinde im Quartier“

26. Oktober, Nordhorn, Kloster Frenswegen, Diakonische Konferenz der Evangelisch-reformierten Kirche „Ehrenamtliche, die Stützen der Gemeinde – freiwillig verantwortlich – Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen (Gal 6,2)“. Mein Vortrag: „Engagement aus Verantwortung“

28. Oktober, Potsdam, Landtag, Landeskirchlicher Fachtag Sorgende Gemeinde. „Begegnung der Generationen fördern, Netzwerke knüpfen und eine gute Nachbarschaft gestalten“. Mein Vortrag. „Wer sorgt, gewinnt … Potenziale der sorgenden Gemeinden weiter heben“

Die Neuentdeckung der Gemeinschaft und der Wunsch nach Heimat fordern auch die Kirchen heraus. Seit Erscheinen der Freiburger Studie Kirche im Umbruch. Zwischen demografischem Wandel und nachlassender Kirchenverbundenheit werden in Synoden, Diakonie und Verbänden Leitbilder diskutiert, neue Angebote entwickelt und Netzwerke geschaffen. Im Zentrum steht dabei der Gedanke der sorgenden Gemeinde – wie neulich bei der Synode der Evangelischen Kirche in der Pfalz, bei der Ralf Kötter aus Villigst (Autor des Buchs „Das Land ist hell und weit. Leidenschaftliche Kirche in der Mitte der Gesellschaft“) beschrieb, wie lebendig in den Dörfern seiner Gemeinde ein Cluster aus Diakonie, Kommune, Gewerbetreibenden, Kitas, Schulen, Ärzten, dem Amtsgericht, Landesbehörden und Forschungsinstituten funktioniert. Wird eine kleiner gewordene Kirche in aller Demut zum Zusammenwachsen der Menschen im Quartier beitragen? Das Projekt „Kirche geht“, das von Christian Hennecke, dem Leiter Pastoral des Bistums Hildesheim inspiriert wurde, macht Mut dazu. Ermutigt hat mich auch, dass sich in Speyer gerade siebzehn Diakonissen und Diakone haben einsegnen lassen, um im ehrenamtlichen Dienst tätig zu werden – und zugleich eine neue Form des Diakonats aus der Taufe gehoben haben. Am Standort Zürich-Seebach, wo seit vielen Jahren kleine christliche Gemeinschaften in der Nachbarschaft aufgebaut werden, darf ich bei einem Zukunftstag am 2. November mit überlegen, was die nächsten Schritte sind. Klar ist: Es geht um das Empowerment aller Getauften, um einen gemeinsamen Weg des Volkes Gottes und damit auch um einen Beitrag der Kirchen zur Demokratie.

Zwischenfrage: Und der demokratische Charakter der Kirche?

Ob Kirche sich selbst demokratisch organisieren kann, wie lebendig die Demokratie in der Kirche ist, darüber hat Arnd Henze ein spannendes Buch geschrieben („Kann Kirche Demokratie? Wir Protestanten im Stresstext“). Als Garbsener war er über lange Zeit – nicht zuletzt durch seine gerade verstorbene Mutter Helga Henze – mit der Quartiersarbeit in Berenbostel, meiner Nachbargemeinde, verbunden. In ihrer Demokratiefähigkeit sei Kirche, analysiert Henze, gerade jetzt stark durch den Rechtspopulismus herausgefordert. Da böten nicht alle Landeskirchen in gleicher Weise Rückhalt für den Widerstand vor Ort, führt er aus. Und wenn er konkret macht, was das für einen Pfarrer in Sachsen bedeuten kann, dann wird mir wieder bewusst, wie wichtig der Zusammenhalt in der Landeskirche war, als wir uns gegen die Zerstörung der Natur bei Garzweiler wehrten. In einem der vorigen Newsletter habe ich bereits auf weitere Publikationen hingewiesen, die sich mit dem Umgang der Kirche mit rechten Gruppierungen und mit der AfD auseinandersetzen. Gerade hat die deutsche Bischofskonferenz eine Arbeitshilfe veröffentlicht, die Hilfestellung für das Gespräch mit Rechtspopulisten leisten soll. „In der Frage von Heimat und Identität wenden sich die Bischöfe gegen ein exklusives Verständnis, das dem universellen Geist der Kirche und der gleichen Würde aller Menschen vor Gott widerspreche“, heißt es in der Ankündigung des Papiers. Und ganz aktuell haben bei der Trauerfeier für den ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke Tausende Menschen gegen Hass und Hetze demonstriert und auch Vertreter der evangelischen und der katholischen Kirche, Bischof Martin Hein und Bischof Michael Gerber, haben klare Worte für eine Kultur der Wertschätzung gefundenZum Thema „Kirche und Demokratie“ halte ich selbst einen Vortrag am 22. Oktober in Bergen.

Arbeit, Pflege, Sorge: digital und analog in die Zukunft

In ihrem Buch „2037. Unser Alltag in der Zukunft“ beschrieb die Unternehmensberaterin Birgit Gebhardt schon 2011 eine globalisierte und digitalisierte Gesellschaft. Auf einer Tagung im Domkloster Ratzeburg löste sie jetzt spannende Diskussionen aus. Die Frage, was „den Menschen zu tun bleibt“ in der Digitalisierung, beantwortet sie so: Den hochqualifizierten Leistungsträgern bleiben das kreative Konzipieren, die sensible Analyse, die kundenorientierte Lösungsfindung, die transdisziplinäre Forschung. Den Geringqualifizierten bleiben ihr taktiler Vorsprung und komplexe Bewegungsmechanismen. Und allen bleiben Achtsamkeit, Gefühl und Empathie, abgestimmt auf die jeweilige Situation. – Aber stimmt das so? Oder ist das Netz am Ende eine große Arbeits- und Aufmerksamkeitsvernichtungsmaschine? In welchem Maße Digitalisierung die Individualisierung vorantreibt, wurde bei der Tagung schnell deutlich. Umso zentraler ist die Frage nach Zusammenhalt, Gemeinschaft und Ritualen in der Gesellschaft der Einzigartigkeit und der Vielfalt.

Möglichkeiten, Austausch und Zusammenhalt über das Netz zu gestalten, reflektiert das Buch von Christiane Brandes-Visbeck und Susanne Thielecke „Fit for New Work. Auf dem Weg zur neuen Arbeitswelt“ – und unterscheidet zwischen den neuen, fluiden Netzwerken, in denen vor allem Eigenverantwortung zählt, und den klassischen Unternehmen und Organisationen mit ihrer Nachbarschaftsverantwortung, die seit langem auf dem Rückzug sind. Aber auch und gerade in den Firmen des Silicon Valley gibt es wieder Angebote für Gemeinschaft und Caring. Dafür verlassen die Menschen dann auch die Welt des Digitalen: Leibliche Erfahrungen der Gemeinschaft beim Kochen und Mittagessen, kleine Rituale und Kunstprojekte, Betriebskindergärten und Fitnessstudios bleiben nach wie vor auf das räumliche Miteinander angewiesen.

Das gilt natürlich auch für das Miteinander der Generationen und die sozialen Dienstleistungen. Vielleicht bieten ja gerade die Digitalisierung der Wirtschaft und die Robotnik in der Pflege die Chance, die Humandienstleistungen auszubauen und den Fachkräftemangel in Erziehung und Pflege zu überwinden? Diakonie Deutschland hat sich gerade mit einem eigenen Konzept in die Pflegedebatte eingeschaltet, und die BAGSO hat sich auf dem Kirchentag in Dortmund zu Wort gemeldet und eine Resolution eingebracht. Die Diakonie schlägt die Einführung einer Pflegevollversicherung vor. Im Gegensatz zum bestehenden System sollen nach der Auffassung des evangelischen Wohlfahrtsverbandes alle notwendigen Leistungen der Pflege und der Betreuung durch die Pflegeversicherung abgesichert sein. Die pflegebedürftigen Menschen sollten sich an den Kosten mit einem begrenzten und kalkulierbaren Anteil beteiligen, erklärte die Diakonie. Die BAGSO schlägt vor, die Pflegezeiten wie Erziehungszeiten zu finanzieren: Eine bessere Refinanzierung der Sorgezeiten in Erziehung und Pflege und eine ehrliche Wahrnehmung der zunehmenden Brüche in unseren Berufsbiografien wären auch entscheidend, wenn es um neue Konzepte für die Alterssicherung geht. In der Debatte um die Grundrente fehlt mir oft diese Diskussion. Umso begrüßenswerter sind hellsichtige und gut recherchierte Diskussionsbeiträge wie Kristina Vaillants „Die verratenen Mütter. Wie die Rentenpolitik Frauen in die Armut treibt“.

Mehr als Eigenverantwortung: Selbstsorge und Mitsorge

„Bitte ziehen Sie zuerst die Atemmaske zu sich herunter und helfen Sie dann Kindern, Schwächeren, Ihren Nachbarn“, erklären die Flugbegleiter, bevor wir abheben. Bei meinem letzten Flug saß auf der anderen Seite des Gangs eine blinde Frau. „Bitte fassen Sie die Atemmaske einmal vorher an“, erklärte ihr die Stewardess, „damit Sie wissen, wie sie sich anfühlt, wenn sie rausfällt.“ „Und dann achten Sie bitte darauf, dass Sie sie hier befestigen“, weist sie dann die Begleiterin der Dame ein. Der Zusammenhang zwischen Selbstsorge und Empowerment wurde greifbar deutlich.

Ganz bewusst für uns selbst zu sorgen, ehe wir uns anderen zuwenden, das müssen wir vielleicht auch in der sozialen Arbeit wieder lernen. Ein Lehrbuch zur Thaimassage fiel mir ein, das ich vor Jahren aus Bangkok mitgebracht habe. Es zeigt die Gesten und Haltungen der Vorbereitung: Reinigungsgesten, Gebetshaltungen. Für diese Selbstsorge brauchen wir jedoch auch Räume oder andere Formen der Mitsorge. Ich dachte an die regelmäßigen Gebetszeiten in den Klöstern, die ganz selbstverständlich die Arbeit unterbrachen. Gelegenheiten, die Gedanken zu klären. Es ist hundertfünfzig Jahre her, dass der Elisabethorden in München mit seinen Geldgebern darüber stritt, ob diese Gebetszeiten wie die gemeinsamen Mahlzeiten zur Arbeit gehörten. Ein unvorstellbarer Gedanke in der ökonomisierten Gesundheitsbranche – im Silicon Valley allerdings werden inzwischen wieder Rückzugsorte und Ritualräume für die Beschäftigten eingerichtet.

Dass Fürsorge ohne Selbstsorge nicht nachhaltig ist, wurde uns erst in den letzten Jahrzehnten bewusst. Dazu haben Kritiker beigetragen wie Wolfgang Schmidbauer mit seinen Untersuchungen über „Hilfslose Helfer“, aber auch Krankheitsstatistiken über Rückenprobleme und Burnout und schließlich die Berufsflucht von Pflegenden, die Alexander Jorde in „Kranke Pflege“ so gut beschreibt. Inzwischen gibt es eine Reihe von Möglichkeiten, sich Freiräume zu schaffen: von Selbständigkeit über Jahresarbeitszeitkonten bis zum Sabbatjahr. Um diese Freiräume nicht auch noch zur Selbstoptimierung zu nutzen, brauchen wir aber die Bereitschaft, loszulassen und andere ans Ruder zu lassen. Das gelingt nur, wenn wir uns selbst, unseren Körper und unsere Gesundheit respektieren – und die Möglichkeiten der anderen einbeziehen. Selbstachtung und Kooperation gehören zusammen.

Claudia Lutschewitz hat gerade ihre Masterarbeit zur Kooperation unter Verschiedenen in Leitungspositionen veröffentlicht, für die sie auch ein längeres Interview mit mir geführt hat. „Kooperativer Umgang unter Führungskräften“ beschreibt die Zusammenarbeit von Frauen und Männern als Führungskräfte, die sich unter anderem durch individuelle Einstellung und Haltung sowie gemeinsame Ziele, Empathie, Vertrauen und Kommunikation auszeichnet. Auf Verschiedenheit setzt auch die Diakonie Baden-Württemberg mit ihrem Personalentwicklungsprojekt Debora. Am 18./19. November werde ich für das Projekt in der Akademie Stuttgart-Hohenheim ein Seminar zum Thema „Diakonische Unternehmenskultur“ für Frauen in Führungspositionen geben. Margaret Heckel, mit der ich beim Kirchentag ein Podium über die Arbeit in einer älter werdenden Gesellschaft gestalten durfte, hat ein Buch zum Thema Respekt geschrieben: „Aus Erfahrung gut. Wie die Älteren die Arbeitswelt erneuern“. Es geht beim Thema Diversity nicht mehr nur um die Anerkennung unterschiedlicher Gruppen, sondern um die Gaben verschiedener Personen mit ihren jeweiligen Kompetenzen, Erfahrungen, Brüchen. Übrigens ist die Orientierungshilfe des Rates der EKD zur Inklusion von 2014, „Es ist normal, verschieden zu sein“, jetzt mit dem Untertitel „Wir wollen Inklusion“ bei der Evangelischen Verlagsanstalt in Leichter Sprache erschienen.

Der Himmel sorgt für mich – die Erde genießen

Als ich neulich einen Vortrag über Selbstsorge und Fürsorge hielt, wurde mir bewusst, dass es in der Bibel noch ein Drittes gibt: Gottes Sorge um uns. Es tut gut, in Stille und Meditation, irgendwo im Grünen oder auf einer Yogamatte, den Ort aufzusuchen, an dem meine Seele zur Ruhe kommt. Dieser Raum ist immer da – wir tragen ihn in uns. Meiner ist eine Bergwiese. Vielfältig bunt, mit dem Summen von Grillen. Am Rand steht eine alte Holzbank. Ein Steinbrunnen mit Bergwasser plätschert. Ich liege da und schaue in den Himmel. Nichts fehlt mir. Der Himmel sorgt für mich. Wie für die Spatzen und den Klatschmohn.

Und ich – sorge mich immer mehr um die Erde. Und Sorge ist auch politisch. Ich sehe die Schönheit der leuchtenden Bergblumen vor mir, denke weiter hinauf zu den Bergspitzen und Gletschern – und schon wächst die Sorge. Ich denke an die wenigen Jahre, die bleiben, bevor die „Kipppunkte“ erreicht sind, von denen an die Erderwärmung nicht mehr aufzuhalten sein wird, die Artenvielfalt noch dramatischer abnimmt. Was können wir tun, um die Schönheit zu erhalten? In seinem Buch „Alles könnte anders zein“ hat Harald Welzer gerade Mut gemacht, es mit Liebe, Begeisterung zu versuchen – und neue Modelle zu entwickeln.

Die Sommerreisen sind eine gute Gelegenheit, Augen und Ohren aufzumachen für die Schönheit der Schöpfung, die Inspiration fremder Kulturen. Ilja Trojanow hat übrigens eine wunderbare „Gebrauchsanweisung fürs Reisen“ geschrieben, die anregt, das Reisen wieder als Kunst zu entdecken. Und im Museum in Groningen fand ich neulich „How to be a better Tourist“, ein Buch über das Reisen jenseits von Hauptstädten, Touristenströmen und falschen Erwartungen. Wie man zu Fuß und ganz in der Nähe neue Entdeckungen machen kann, davon erzählt „Slow Journeys“, das schon 2009 erschien. Keri Smith’ ungewöhnliches Buch „The Wander Society“ erfindet eine Gesellschaft, der wir selbst angehören können, wenn wir uns durch die eigene Nachbarschaft oder über die nahen Felder bewegen und uns vom Zauber der Zeichen, die andere hinterließen, in einen stillen Dialog hineinziehen lassen.

Nein, man muss nicht fliegen, um die großen Entdeckungen zu machen. Aber wir sind doch gefangen im Doublebind: Wir wollen entschleunigen und wir wollen die Umwelt schonen, aber wir wollen auch mitten in dieser beschleunigten Welt Termine einhalten, Freunde treffen und wir wollen auch andere Länder, Menschen, Kulturen entdecken. Und so fliege ich eben auch noch immer. Und es tröstet nicht wirklich, dass wir die Erderwärmung auch nur um fünf Prozent reduzieren könnten, wenn der gesamte Flugverkehr gestrichen würde. Trotz allem: Der Erde treu bleiben, am Boden bleiben, darum ging es auch Franz von Assisi, über den Volker Leppin gerade ein einsichtsvolles Buch geschrieben hat. Sommerlektüre – nicht nur auf dem Weg nach Italien.

Die guten Orte

Wie immer möchte ich Ihnen in diesem Newsletter einige gute Orte ans Herz legen, an denen ich selbst Ruhe und Schönheit, aber auch wohltuende Gemeinschaft erfahren habe:

Wenn Sie mit dem Zug beispielsweise nach Italien unterwegs sind, dann schauen Sie doch am Zürcher Hauptbahnhof mal in der Bahnhofskirche vorbei. Das ist tatsächlich ein Ort der Ruhe und des Gesprächs für Menschen aller Religionen.
Für eine kleine Reise in Deutschland kann ich die Lüneburger Heide empfehlen, jetzt, wenn die Heide blüht. Es lohnt sich, am Hundertwasserbahnhof in Uelzen Pause zu machen und dann das Arno-Schmidt-Haus in Bargfeld zu besuchen.
Eine großartige Entdeckung für mich war auch das Tagungshaus Domkloster in Ratzeburg. Die alten Gebäude, gleich über dem See, strahlen so viel Ruhe aus …
Immer wieder komme ich auch gern ins Haus Villigst, wo man im Studienwerk, Pastoralkolleg, sozialethischen Braintrust und natürlich im herrlichen Park an der Ruhr Gott und die Welt treffen kann.

Mehr über Kraftorte und Pilgerorte finden Sie auf meiner Homepage, zurzeit mit einem Interview mit Thomas Mäule über den Raum der Stille in seiner Einrichtung als Ort jenseits des Alltags.

Bücher von Freunden

Zum Schluss noch einige Bücher von Freunden und Bekannten für weitere Urlaubslektüren. Ich habe mich darüber gefreut, sie in der Kirchentagsbuchhandlung zu entdecken – genauso wie meine eigenen Bücher:

Der Theologe und Akademiedirektor in Bad Boll Jörg Hübner hat eine Biografie des religiösen Sozialisten Christoph Blumhardt geschrieben, die dessen sehr politische und kirchenkritische Haltung herausarbeitet – nachdem er lange von einer konservativen Kirche vereinnahmt worden war. Hier ein Interview mit Hübner zu seinem Buch.
Henning Theißen, Theologe an der Universität Greifswald und selbst Vater von Adoptivkindern, hat ein nachdenkliches und differenziertes Buch über „Die Ethik der Adoption“ geschrieben.
Von früh gestorbenen eigenen Kindern handelt Katharina Gellerts Kinderbuch „Im Herzen Vier“. Es erzählt aus der Perspektive eines Kindes, wie eine Familie sich auf ein Baby freut – und damit umgehen muss, dass die Schwangerschaft durch eine Fehlgeburt endet. Die Autorin hat das Buch mit eigenen Illustrationen bereichert.
Und Okko Herlyn, reformierter Theologe und Kabarettist, schreibt über „Die Zehn Gebote. Verstehen, was wir tun können“. Das Buch liegt auf meinem Nachtisch und ich bin gespannt auf seine Überlegungen zum Bilderverbot.

Angesichts des Iconic Turns, den wir gerade erleben, denke ich viel darüber nach, wie wir das Geheimnis wahren, während die Bilder uns immer wieder überwältigen. Deshalb hier noch „was auf die Ohren“: Am 31. August bin ich wieder zu hören mit einem „Lebenszeichen“ im SR2, diesmal zum Thema „Nicht alle Dörfer werden bleiben“. Und vom 2. bis 7. September will ich mit Morgenandachten und Gedanken zur Woche im Deutschlandfunk einen wohltuenden Gruß für den Tag mitgeben.

Bis dahin aber lassen Sie uns den Sommer genießen! Und den Himmel. Endlich leben. Denn
„es ist viel klüger, Du entziehst Dich von Zeit zu Zeit Deinen Beschäftigungen, als dass sie Dich ziehen und Dich nach und nach an einen Punkt führen, an dem du nicht landen willst. Du fragst an welchen Punkt? An den Punkt, wo das Herz anfängt, hart zu werden. Frage nicht weiter, was damit gemeint sei: wenn Du jetzt nicht erschrickst, ist Dein Herz schon so weit“, heißt es in einem Brief von Bernhard von Clairvaux. Nicht an irgendwen, sondern an einen Papst, Papst Eugen III.

„End-lich leben“ heißt eine neue Website auf Facebook, in der es um unsere Endlichkeit geht. Und auch um die der Schöpfung. Das soll uns keine Angst machen, uns nicht immer mehr hetzen, bis wir er-schöpft sind; es soll uns staunen lassen über die fantastische Schönheit des vergänglichen Lebens. Jeden Tag.

Ihre Cornelia Coenen-Marx

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Texte und Bilder, wo nicht anders angegeben: © Cornelia Coenen-Marx