„[…] Was ist rührender für ein Menschenherz als der Anfang einer Welt und die Jugend voller Ungewissheit und der Anfang einer Liebe, wenn alles noch möglich ist, wenn die Sonne, noch bevor sie sich gezeigt hat, in der Luft und in den Gesichtern anwesend ist wie feiner Staub und man in der prickelnden Frische des Morgens schon die schweren Verheißungen des Tages spürt. In diesem Stall bricht ein Morgen an … In diesem Stall ist es Morgen. […]“
Diese Worte ließ Jean-Paul Sartre eine Figur in einem Weihnachtsspiel sagen – einem Text, den er 1940 in einem deutschen Internierungslager schrieb und dort auch auf die Bühne brachte.
Das neue Jahr hat begonnen, aber es ist nicht ganz einfach, das Morgen darin zu entdecken, einen neuen Anfang zu finden, eine neue Normalität vielleicht auch. Mit dem Lockdown sind auch die Debatten um Freiheits- und Bildungsrechte, um Impfprioritäten und -pflicht, um Digitalisierung und generell um politische Planung mitgegangen ins neue Jahr – wir sind mürbe geworben und dünnhäutig. Umso wichtiger ist die Suche nach dem, was trägt und uns stärkt. Die Zeit „zwischen den Jahren“ war diesmal länger als sonst und mit Briefeschreiben und -lesen, Telefonieren und Chatten haben viele ihre Kontakte erneuert, Freundschaften auf den neuesten Stand gebracht. Ich möchte das starke Gefühl der Verbundenheit nicht vergessen, das ich in diesen Tagen gespürt habe. Im „Frauenkalender 2020“ beschrieb Angelika Daiker das so: „Freunde treffen können und sich zurückziehen dürfen. Weihnachtspost lesen und in geschenkten Büchern schmökern. Auf Träume hören und Lieder im Herzen nachklingen lassen. Staunend die Fülle der Zeit wahrnehmen. […]“
Die Fülle der Zeit – vielleicht spüren wir sie tatsächlich gerade dann, wenn die Uhren scheinbar langsamer ticken, wie so oft in diesen Corona-Zeiten. Oft hatte ich im letzten Jahr das Gefühl, „zwischen den Zeiten“ zu leben – so wie vor Jahren, als ich zwei Uhrzeiten am Handgelenk trug, eine für meine Schwester in Philadelphia in den USA und eine für mich hier. Jetzt gab und gibt es im Kalender Termine, die eigentlich irgendwo im Land stattfinden sollen, aber vermutlich ins Netz verlegt werden, und solche, die spontan online dazukommen. Planung und Improvisation. Ereignisse von vor einem Jahr bezeichne ich nur noch als „damals“, weil sie so weit weg scheinen. Dazu gehört auch all das nicht Verwirklichte: Ausgefallene Konferenzen, die sich so nicht wiederholen lassen, Tagungen, die sich nicht aufschieben lassen, weil sie nicht mehr passen in die neue Realität. Corona wird „Langzeitkrise“.
Das Leben mit dem Virus ist übrigens Thema des geradezu poetischen Dokumentarfilms Welt auf Abstand, in dem elf Filmteams aus der gesamten Welt zeigen, welche Veränderungen sie beobachtet haben. Der Film zeigt viel Zerstörung. Und er zeigt die dramatischen Unterschiede bei den Folgen des Virus und der Eindämmungsstrategien. Er zeigt aber auch, was hie und da durch die Verlangsamung wieder leb- und spürbar geworden ist.
Meine Zeiten – unsere Zeiten
Corona erinnert daran, dass es diese ganz anderen Zeiten gibt. Für die Kirche ist noch Weihnachtszeit und in manchen Gegenden stehen die Christbäume bis zum 2. Februar. Ich möchte die Zeit nutzen, um über die neue Realität nachzudenken, über das Morgen, das so wenig spürbar ist. Und Abschied nehmen von unserem scheinbar so selbstverständlichen Lebensstil, von Lebensentwürfen, die nicht nachhaltig sind. Beim Nachdenken über den langen Atem der Zeit und die verschiedenen Zeitwahrnehmungen, die sich überlagern, hat mich zwischen den Jahren ein Roman von Iris Wolff begleitet: Die Unschärfe der Welt: „Iris Wolff erzählt aus einer tiefen Ruhe heraus. Sie weitet dadurch die Zeit. Für ein Jahrhundert und etliche Menschenleben braucht sie nicht einmal zweihundert Seiten. Und nichts fehlt“, sagte Carsten Hueck auf SWR2. Der Roman kreist um drei Generationen zweier Familien in Siebenbürgen – vor und nach der „Wende“ und dem Ende der rumänischen Diktatur. Es geht um Liebe und Verrat, um Freundschaft und Entfremdung. Besonders faszinierend finde ich, wie die Natur mitspricht. Vielleicht liegt es daran, dass ich noch 1988 Partnergemeinden in Siebenbürgen besuchen durfte – Iris Wolffs Buch ließ vor meinem inneren Auge so viele Bilder, Düfte, Klänge entstehen von Blumengärten und schlammigen Wegen, von zerfallenden Kirchen und reich gedeckten Tischen, dass ich das Buch fast in einem Zug gelesen habe. Mit all seinen Zeitschleifen, die mit der Handlung auch die* Leser*in immer wieder in eine andere Welt führen. „Es gab eine Zeit, die vorwärts eilte, und eine Zeit, die rückwärts lief. Eine Zeit, die im Kreis ging, und eine, die sich nicht bewegte, nie mehr war als ein einzelner Augenblick“, schreibt Iris Wolff. Vielleicht ist auch das eine Lehre aus diesen Monaten: Es kommt darauf an, die Zeiten zu unterscheiden. „Meine Zeit steht in Deinen Händen“ heißt es in Psalm 31,16 laut der neuen Luther-Übersetzung. Doch wie der hebräische Text wussten auch noch die älteren Übersetzungen: Die Zeit existiert eigentlich nur im Plural: „Meine Zeiten stehen in deinen Händen.“ Mit ihnen will ich ins neue Jahr gehen. Dabei sind meine Zeiten ja immer auch geprägt durch unser aller Zeiten. Hier erleben wir an vielen Stellen gerade Zerreißproben für den Zusammenhalt – allein im letzten Jahr die entsetzlichen Anschläge unter anderem in Hanau und Trier, in Paris, Nizza und Wien, und das neue Jahr begann mit den verstörenden Bildern eines Sturms auf das Kapitol. Doch es gibt auch so viel Ermutigendes. Ich bewundere den Mut und die Ausdauer, mit denen die Menschen – unter ihnen besonders viele und besonders engagierte Frauen – in Belarus gegen einen Diktator demonstrieren – und wir dürfen nicht zulassen, dass uns ihr Anliegen aus dem Blick gerät, nur weil sie es so stetig verfolgen. In den USA ist seit jenem fürchterlichen Mord an George Floyd die Bewegung Black Lives Matter erstarkt. Und ist es nicht ein wichtiges Zeichen des Verstehens, dass die Juror*innen der Zeitschrift Art Review bei der Benennung der Power 100 – der hundert einflussreichsten people – für 2020 diese Bewegung, diese Gemeinschaft auf den ersten Platz gesetzt haben?
Wie sehr „unser aller Zeiten“ uns auch individuell berühren, das reflektiert übrigens sehr schön Hilmar Klutes Roman Oberkampf. Er handelt von einem Schriftsteller, der nach Paris geht, um dort seinen Roman zu schreiben – und der unter anderem von dem Terroranschlag auf die Redaktion von Charly Hebdo erschüttert wird.
Raum und Räume neu entdecken: Kirche im Quartier
Literatur, Theater, Kino und auch die Kirchen können unterschiedlichen Zeiterfahrungen in besonderer Weise Raum geben. Seit den achtziger Jahren gehen auch Kultur- und Sozialforschung der Bedeutung des Raums nach. Von der Kirche wünsche ich mir gerade jetzt nicht nur offene Gebetsräume in den schönen alten Kirchen, sondern auch mehr Raum für das Gespräch zwischen den Generationen – auch um die Corona-Erfahrungen zu verarbeiten. Im Internet und bald auch wieder in Gemeindehäusern, aber vielleicht auch in Tageseinrichtungen, Jugendtreffs oder Gaststätten. Immerhin war in dieser Advents- und Weihnachtszeit zu spüren, wie die Kirche die sozialräumlichen Bezüge wiederentdeckt. Zum Beispiel bei den vielen Krippenwegen, die durch die Straßen von Dörfern und Quartieren führten. Der hannoversche Bischof Ralf Meister spricht in diesem Zusammenhang von einer Veränderung der „spirituellen Landkarte“.
Zugleich wird in immer mehr Pastoralkollegs und Akademien und auf immer mehr Zoomkonferenzen über die Rolle der Kirche im Sozialraum nachgedacht. Corona hat diesen Prozess gefördert – mit den Krippenwegen, aber auch mit Einkaufshilfen im Quartier. Ein Beispiel dafür ist „Dich schickt der Himmel“ in Witzenhausen.
In Stuttgart gibt es an der Leonhardskirche ein warmes Mittagessen für Obdachlose und auch die Möglichkeit, im Warmen Kaffee und Hefekranz zu genießen. Wie die Arbeit an der „Vesperkirche“ auch unter Corona-Bedingungen möglich ist und wie Sie spenden können, steht hier. Die Leonhardsvorstadt mit der Diakoniekirche ist übrigens auch eines der Projekte der Internationalen Bauausstellung (IBA) 2027. Alle Interessierten sind eingeladen, sich an der Planung eines lebenswerten Quartiers zu beteiligen. Eine sehr vielschichtige, aus unterschiedlichsten Blickwinkeln reflektierende Publikation zu der Bedeutung des Raums für Religion und Kirche ist Thomas Ernes und Peter Schüz’ Sammelband Die Religion des Raumes und die Räumlichkeit der Religion.
Mich selbst beschäftigt der Sozialraum schon seit langem in Form des Quartiers als Rahmen einer neuen Diakoniekultur. Zwei jüngere Vorträge dazu sind auch online präsent: „Niemand für sich allein – sorgende Gemeinschaft und Kirche“ (Hauptvortrag auf der Bernischen Diakoniekonferenz im Oktober 2020; ein Bericht dazu hier) sowie der Impuls bei der Videokonferenz „Sorgende Gemeinschaften verstetigen“, als Video hier. Weitere Texte zu dem Thema können Sie auf meiner Website nachlesen (das Menü mit den Einzeltiteln befindet sich rechts). Auch einige meiner zukünftigen Vorträge widmen sich den Zusammenhängen von Kirche, Diakonie und Quartier. Dadurch, dass sie pandemiebedingt vor allem online stattfinden, ist es vielleicht auch für Sie leichter möglich, einmal daran teilzunehmen.
Gleich am Mittwoch, 20. Januar von 19:00 bis 21:00 Uhr findet die Onlinekonferenz der Evangelischen Erwachsenenbildung im Kirchenkreis An Sieg und Rhein zum Ehrenamtkonzept „Kirche im digitalen Quartier“ statt. Auch in diesem Jahr verleiht übrigens die Initiative Deutschland sicher im Netz e. V. unter Schirmherrschaft unter anderem des Bundesinnenministeriums und der BAGSO wieder den Goldenen Internetpreis an Menschen oder Kommunen, die mit besonderen Ideen und Projekten Älteren helfen, das Internet für sich zu nutzen. Anmeldeschluss ist der 15. Mai. Aufmerksam machen möchte ich auch auf die Broschüre der BAGSO mit hilfreichen Tipps, wie Ehrenamtliche mit dem guten alten Telefon Menschen begleiten, solche Gespräche aber auch strukturiert führen können.
Das Pastoralkolleg Rheinland-Westfalen-Lippe behandelt das Thema Kirche und Quartier in einer Langzeitfortbildung. Das vierte Modul vom 25. bis 28 Januar findet nun ebenfalls online statt. Am 26. Januar dreht sich ganztätig alles um das Miteinander von Kirche, Diakonie und Zivilgesellschaft im Quartier, dabei gibt es zwei Impulse von mir und weiterführende Arbeitsgruppen. Beim Pastoralkolleg der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz vom 26. bis 28. Januar geht es um aktuelle Kirchenbilder. Dort halte ich am 27. Januar einen Impulsvortrag zum Thema „Was hat die Kirche mit dem Quartier zu tun?“. Und beim Besuchsdiensttag der Evangelischen Kirche Hessen und Nassau am 11. Februar spreche ich – ebenfalls online – über „Besuchsdienst als Türöffner ins Quartier“.
In der Sendung Am Sonntagmorgen am 21.3. von 8:35 bis 8:50 Uhr schaue ich auf das Sterben im Quartier. Denn – die Corona-Pandemie führt es uns wieder drastisch vor Augen – der Tod gehört zum Leben. Aber er findet meist hinter verschlossenen Türen statt, auf Intensivstationen, in Pflegeheimen und Hospizen. Dabei wissen wir gerade aus der Hospizbewegung: Um würdig sterben zu können, brauchen wir Gemeinschaft – und um unser Leben voll zu erleben, dürfen wir die Konfrontation mit dem Tod nicht ausblenden. So wie wir seit vielen Jahren darüber nachdenken, wie wir in der gewohnten Nachbarschaft gut alt werden können, so gilt es auch darüber zu sprechen, wie wir gut begleitet zu Hause sterben können – ohne für die letzten Stunden noch ins Krankenhaus zu müssen. Es geht darum, Pflege- und Unterstützungsangebote im Quartier zu vernetzen und sorgende Gemeinschaften zu fördern. In diesem Zusammenhang gefallen mir übrigens auch die zivilgesellschaftlichen Initiativen, die an die vielen Menschen erinnern, die an Corona gestoben sind, etwa Kerzen für Corona-Tote in Berlin oder die Aktion „Corona-Tote sichtbar machen“ in Köln, über die Irene Wülfrath-Wiedenmann am 11. Januar in einem Interview im Domradio sprach. Ich hätte mir übrigens gewünscht, dass die Kirchen schon früher öffentlich erinnert hätten – so wie die evangelische Kirchengemeinde Rheydt in Mönchengladbach, die zum ersten Advent im Hof der Sparkasse öffentlich Kerzen aufstellte und anzündete: eine für jede*n der verstorbenen Bürger*innen in der Stadt.
Was wir tun können, um sorgende Gemeinschaften im Quartier aufzubauen oder zu stärken, darum geht es schließlich auch in der schon ab 2020 geplanten Weiterbildung zum Thema Caring Communities, die ich gemeinsam mit der BAKD veranstalte. Sie startet nun mit dem ersten Modul am 13. bis 17. April in Berlin. Ehrenamtliche und professionelle Interessierte erhalten hier vielfältige Unterstützung darin, solche Verantwortungsgemeinschaften zu organisieren. Wer sich noch anmelden mag: Weitere Informationen sowie die Daten zur Anmeldung finden Sie hier.
Der Düsseldorfer Verein Wohnquartier 4 denkt die Bereiche Wohnen, Gesundheit, Partizipation und Bildung/Kultur zusammen und hat daraus auch eine Wohnschule entwickelt, um neue Impulse unter anderem zum Thema Seniorenwohnen und Mehrgenerationenwohnen zu geben. Hilfreiches Material, um Familien und Mikro-Communities als verlässliche soziale Räume zu stärken, findet sich auf einer Website des Amtes für Gemeindedienst der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Wie Familien, gerade auch Alleinerziehende, gestärkt werden können, ist auch Thema in meinem Gespräch mit Bischöfin Beate Hofmann in dem von Ralph Charbonnier, Ulrike Gebelein, Astrid Giebel und Insa Schöningh herausgegebenen Band Alleinerziehende Familien in Gesellschaft, Kirche und Diakonie.
Zum realen sozialen Raum gehören auch die zufälligen Begegnungen, die Gespräche mit Menschen, die wir vielleicht gar nicht kennen, die sich einfach so ergeben – bei einem Gottesdienst, in einer Ausstellung, im Theater. Wir werden wohl noch lange ohne diese Begegnungen leben müssen. Ein sehr schönes Angebot, um trotz räumlicher Distanz mit anderen, auch zuvor nicht bekannten Menschen im Kontakt zu sein, ist die Website spiritandsoul.org, die die beiden Berliner Pfarrerinnen Anja Siebert-Bright und Lioba Diez entwickelt haben. Dort gibt es Angebote zum Lesen, Podcasts sowie Einladungen zu Zoomtreffen, die es uns ermöglichen, im Miteinander zu bleiben und einander zu unterstützen bei der Reflexion ganz grundlegender Fragen des Menschseins.
Alter, Pflege und Corona
Eine Gruppe von Studentinnen der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Technischen Hochschule Nürnberg hat es sich zur Aufgabe gemacht, für die Situation von älteren Menschen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie zu sensibilisieren und auch Vorurteile in Frage zu stellen. Dazu zogen sie los, fotografierten interessierte Teilnehmer*innen und fragten nach deren Meinung zum Thema Altsein und wie sie sich in den Covid-19-Zeiten wahrgenommen fühlen. Wir hatten das Glück, dass Alexandra Kadlubowski uns im Rahmen meines Onlineangebots vom Spätsommer „Oma trotzt Corona“ von diesem Projekt berichtete und uns einige der Bilder zur Verfügung stellte. Auf meiner Seite zu Oma trotzt Corona können Sie noch mehr von den wunderbaren Fotografien und Texten sehen und sich über das Projekt informieren. Vielleicht gibt es ja doch noch mal eine Gelegenheit, die Bilder und Zitate, wie von den Studentinnen ursprünglich geplant, in einer Ausstellung zu präsentieren.
Ganz in der Linie dieses Projekts fordert die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Altenarbeit in der EKD mit ihrer Verlautbarung „Alter auf Augenhöhe“ einen Paradigmenwechsel im Umgang mit alten Menschen und insbesondere einen differenzierten Blick auf (Lebensweisen im) Alter. Darum geht es auch in meinem Interviewpodcast mit der Apothekenrundschau.
In zahlreichen Veranstaltungen geht es auch in diesem Frühjahr wieder um die Potenziale von älteren und alten Menschen und um neue Formen des Miteinanders im dritten Lebensalter. „Die Kirche und die Babyboomer“ heißt eine Onlinetagung der Fachstelle zweite Lebenshälfte in der Evangelischen Kirche Kurhessen-Waldeck, wo ich unter dem Titel „Powerager – die Woodstockgeneration“ den Impulsvortrag halte am 26. Februar, 9:30–11:00 Uhr. Vom 9. bis 10. April wird es hoffentlich wieder möglich sein, einander im realen Raum zu begegnen. Für die zwei Tage lade ich Menschen ab 55 ein, in einer Retrait im schönen Stephansstift in Hannover Vorstellungen zu aktivieren und Netze zu knüpfen für den Übergang in die dritte Lebensphase.
Zu den kontroversen Debatten in der Corona-Krise gehört die Situation in den Pflegeheimen. Unter welchen Rahmenbedingungen können Besuche von Angehörigen zugelassen werden trotz der hohen Ansteckungsgefahr? Nachdem die FFP2-Masken und Tests leider sehr spät dort ankamen, gibt es nun eine Entscheidung, die Bundeswehr einzusetzen, um die über die Maßen geforderten Pflegenden bei Tests und Besuchsorganisation zu entlasten. Aber wie umgehen mit Konfliktsituationen? Die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck hat die Institution der Ethiklotsen etabliert: Seelsorger*innen, die, in einer Weiterbildung speziell geschult, zwischen Heimleitungen, Bewohner*innen, Mitarbeitenden und Angehörigen vermitteln – ein wunderbar einleuchtender praktischer Schritt, der vielleicht auch Nachahmung in anderen Landeskirchen finden wird.
Aktuell werden die Impfstrategien diskutiert. Von Anfang an stand fest, dass bei der Verteilung der zunächst begrenzten Impfdosen diejenigen zuerst berücksichtigt werden, die am verletzlichsten sind, die alten Menschen. Ich beobachte mit Sorge, dass nun eine Impfpflicht für diejenigen ins Spiel gebracht wird, die sie pflegen und versorgen. Die Position der Vorsitzenden des deutschen Ethikrats, Alena Buyx, erscheint mir hier angemessen: Nur indem die Fragen, Überlegungen und Sorgen derjenigen ernst genommen und auch erneut in die Forschung eingebracht werden, die einer Impfung skeptisch gegenüberstehen, wird es gelingen, sie dafür zu gewinnen. (Differenzierte Informationen des Bundesgesundheitsministeriums zur Sicherheit der Impfungen finden Sie hier.) Und wir müssen endlich die Forderungen der Pflegenden (aktuell hier als Petition und hier) hören und umsetzen: Mehr Personal, bessere Ausstattung, mehr Anerkennung, bessere Bezahlung – eben eine strukturelle Verbesserung der Bedingungen der Pflegeberufe sind endlich an der Zeit! Hier können Sie die Bundestagspetition zur Verbesserung der Pflege der Zeitschrift Stern unterschreiben. Wie es den Pflegenden in den Einrichtungen und ambulanten Diensten während der Krise geht, zeigt eine Ad-hoc-Pflegestudie der Diakonie Deutschland vom Dezember.
Mit dem Beginn der Impfkampagne richtete sich der Blick aber auch noch einmal auf die pflegenden Angehörigen, die Pflegebedürftigen zu Hause und die Älteren, die allein leben. Denn natürlich lebt nur ein kleiner Teil der Hochaltrigen und Pflegebedürftigen im Heim. Und noch immer ist die private Sorgearbeit nicht hinreichend im Blick – das zeigt sich in dieser Krise ganz besonders bei der Betreuung der Kinder und der Sorge für die Pflegebedürftigen. Wie eine Wirtschaft aussehen könnte, die die Sorge in den Mittelpunkt setzt – „von allen, für alle. Ökologisch und sozial“ –, darum drehen sich die Blogs und Aktionen des Konzeptwerks neue Ökonomie. Dass noch immer 80 Prozent der Pflegenden Frauen sind, hat auch mit der Geschichte der Diakonie zu tun. Es ist mir ein Anliegen, auch dem immer wieder nachzugehen, beispielsweise in meinem Vortrag „Zur Nächstenliebe geboren? Empathische Pflege hat kein Geschlecht“ in: Leicht und Sinn, Oktober 2020. Wenn wir verstehen, wie scheinbar Selbstverständliches historisch entstanden ist, dann, so die Hoffnung, fällt es leichter, eine neue Wirklichkeit zu denken und zu schaffen. Dies erfordert auch einen offenen Blick auf Menschen mit Behinderung. Warum wurden beispielsweise aktuell bei der Entwicklung der Impfstrategien Menschen mit Behinderung nicht genauer mit bedacht? Darüber sprach der Aktivist Raul Krauthausen in einem Interview mit dem Deutschlandfunk.
Assistierter Suizid?
Während wir noch über die knappen Ressourcen in der Pflege diskutieren, kocht in den Kirchen die Diskussion um das Thema „Assistierter Suizid“ hoch. Dahinter steht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020, mit der das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe (§ 217 StGB) aufgehoben wurde. Es ist notwendig, dass auch und gerade die Kirchen sich dazu verhalten, ob bzw. in welcher Weise dem assistierten Suizid Grenzen gesetzt werden sollen – oder anders gesagt: wie wir die Werte Freiheit und Schutz bei der Frage nach der Menschenwürde gegeneinander abwägen können. Dazu erschien nun in der FAZ ein Artikel von Isolde Karle, Reiner Anselm und Ulrich Lilie, die formulierten, dass kirchliche Einrichtungen – neben der bestmöglichen Palliativversorgung – sich dem Suizid nicht verweigern sollten, kurz darauf noch ein Interview mit Lilie, der Präsident der Diakonie Deutschland ist, im Deutschlandfunk. Der Vorsitzende des Rates der EKD, Heinrich Bedford-Strohm, und Vertreter der katholischen Kirche widersprachen dieser Position. In ihren Verlautbarungen unterstreichen sie, dass sie sich in dieser ethischen Debatte als Kirchen nicht entzweien lassen wollen. Der Umgang mit dem Leiden und mit dem Tod sei eine gemeinsame Herausforderung gegenüber dem säkularen Staat. Die Debatte, die das unter anderem auf Facebook auslöste, macht deutlich: Es ist wesentlich, die unterschiedlichen Positionierungen zu diskutieren – mit Universitätstheolog*innen, Kirchenleitungen und Einrichtungen von Caritas und Diakonie, um die es in dem FAZ-Beitrag wesentlich ging –, nicht hinter verschlossenen Türen, sondern in aller Breite bis hinein in Familien und Nachbarschaften. Thomas Mäule von der Evangelischen Heimstiftung in Stuttgart, der sich auch bei „Oma trotzt Corona“ engagierte, hat zu den ethischen Fragen in diesem Kontext einen interessanten Artikel geschrieben. Trotz aller Notwendigkeit der Debatte habe ich allerdings das Gefühl, dass die Diskussion gerade jetzt zur Unzeit kommt. Ich habe Sorge, dass sie die Ängste verstärkt, die gerade in der Corona-Krise viele Menschen befällt – Angst vor knappen Ressourcen, vor dem Mangel an Pflegekräften, Angst anderen zur Last zu fallen, der Angst, deshalb vielleicht menschenunwürdig sterben zu müssen. Diese Ängste brauchen aber eine sozialpolitische Antwort. Schon viel zu lange ist nun – nach dem Urteil des BVG – die gesetzliche Situation offen. In den Gedanken zur Woche im Deutschlandfunk habe ich – auch als Reaktion auf Ferdinand von Schirachs Film „Gott“ und die damit verbundene Publikumsabstimmung – meine Überlegungen, aber auch meine Unsicherheit in Worte zu fassen versucht. Sicher bin ich: Vielleicht gibt es keine Pflicht zu leben, aber ganz sicher eine Pflicht zu Schutz und Beistand. Hilfreich in der zugespitzten Debatte finde ich aktuell den Versuch, Leitlinien zu formulieren, wie sich Reflexionen zur Ethik in den Institutionen des Gesundheitswesens verankern lassen. Dazu haben Patrick Schuchter, Thomas Krobath, Andreas Heller und Thomas Schmidt nun ein Konzeptpapier vorgelegt. Und hilfreich ist es sicher auch für Betroffene und Angehörige, zu lesen, wie eine einfühlsame Begleitung am Lebensende aussehen kann, ganz konkret. Wie es Claudia Weik-Schäfer schildert, kann vielleicht manchen Sterbenden die Angst nehmen.
„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“ (Lk 6,36) heißt die Jahreslosung 2021 – sie stellt übrigens auch Geschlechterrollen in der Care-Arbeit in Frage! .
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Weitere Veranstaltungen
Ob in Präsenz, online oder hybrid – wir können etwas bewegen!
Die Verbreitung eines Virus, das von Tieren auf den Menschen übertrat, sollte uns eigentlich daran gemahnen, und doch scheinen mir die Fragen von Umwelt- und Naturschutz gerade erschreckend in den Hintergrund zu geraten. Das Gorlebener Gebet will sich ihnen wieder zuwenden. Ob es tatsächlich am 28. Februar stattfinden kann, wissen wir noch nicht. Sehr gern würde ich es wie geplant zusammen mit Martina Lammers gestalten.
Der Tag rheinischer Presbyter und Presbyterinnen am 13. März findet jedenfalls als Hybridveranstaltung statt. Ich freue mich, dass ich den Eingangsimpuls halten darf: „Kann Kirche Ehrenamt“ ist der Titel. Was mir für die Zukunft der Kirche wichtig ist, darum ging es in einem sehr inspirierenden Gespräch mit Pastor Steffen Kühnelt von der Johannes-Gemeinde in Hamburg-Rissen.
Übrigens: Auf der Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland wurde gerade gewählt. Der neue Präses, Dr. Thorsten Latzel, tritt im März die Nachfolge von Manfred Rekowski an, der in den Ruhestand geht. In seiner neuen Position wird der jetzige Direktor der Evangelischen Akademie Frankfurt mit großen Aufgaben konfrontiert sein, auch hier geht es – angesichts einer komplexen Welt und ständig geringerer Mitgliederzahlen – darum, die Position der Kirche neu zu bestimmen, um das Verhältnis von Theologie und Kirchenentwicklung. Mit seiner theologischen und zugleich lebensweltbezogenen Position – nachzulesen beispielsweise in seinem Blog oder in den vier Büchern allein des letzten Jahres – wird er hier, davon bin ich überzeugt, wichtige Impulse einbringen. Dabei kann er sicher auch an die aktuellen Impulspapiere der EKiR (hier ein Bericht zu einem impulsgebenden Bild von Kirche jenseits der Volkskirche) anknüpfen, die der Synode vorgelegt wurden – vielleicht auch an das aktuelle Thesenpapier der EKD-Synode „Hinaus ins Weite“. Ich wünsche meinem ehemaligen EKD-Kollegen jedenfalls von Herzen Gottes Segen auf diesem neuen Weg!
Vom Schreiben, von der Gemeinschaft
Die Neuentdeckung der Gemeinschaft. Chancen und Herausforderungen für Kirche, Quartier und Pflege ist der Titel meines neuen Buchs, das nun bei der Lektorin Jana Harle im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht liegt, um ein letztes Mal korrekturgelesen, gestaltet und zwischen zwei Buchdeckel gebracht zu werden. „Inwiefern ist Gemeinschaft ein unverfügbares Geschenk, etwas, das sich ereignet? Inwiefern ist sie gestaltbar? Wo entstehen durch aktuelle Entwicklungen wie die Coronapandemie neue Formen von Gemeinschaft und was haben Diakonie und Kirche damit zu tun? Wie können Gemeinden an unterschiedlichen kirchlichen Orten als communio sanctorum, als Gemeinschaft der Heiligen, konkrete Erfahrungen von Gemeinschaft ermöglichen und beleben? Und welche Rolle und Zukunft haben diakonische Gemeinschaften als eine besondere Form der gemeinsam gestalteten Spiritualität und sozialen Verantwortung?“ So hat Beate Hofmann, Bischöfin von Kurhessen-Waldeck, in ihrem Vorwort die zentralen Fragen meines Buchs prägnant zusammengefasst – herzlichen Dank!
Es war eine eigentümliche Erfahrung, dieses Buch zu schreiben: an Gemeinschaft zu denken, während ich doch die meiste Zeit allein an meinem Schreibtisch saß. Sicher, Schreiben ist immer ein einsames Tun, aber in anderen Zeiten wäre es doch unterbrochen gewesen durch Erlebnisse von Gemeinschaft in Gottesdiensten, auf Tagungen und in Workshops, bei privaten Treffen und Festen. Die Onlinebegegungen, die ja weiterhin stattfanden, waren natürlich nicht dasselbe. Doch zugleich habe ich gerade bei diesem Buch auch die Erfahrung gemacht, mit dem Wissen, der Erfahrung und der Originalität anderer bereichert zu werden. So sind in dem Buch einige Interviews mit Expert*innen und Praktiker*innen aus den unterschiedlichsten Feldern von Quartiersarbeit, Pflege, Gemeindearbeit und diakonischen Gemeinschaften aufgenommen, die mit mir brisante Fragen reflektiert und fundamentale Erfahrungen eingebracht haben. Auf diese Gespräche, die sich ja immer auch im Mailwechsel fortsetzten, schaue ich mit großer Dankbarkeit zurück. Und freue mich darauf, sie voraussichtlich ab Ostern fortzusetzen, denn einige Gesprächspartner*innen haben sich schon bereit erklärt, dann für weitere Interviews zur Verfügung zu stehen, die ich in einer Podcastserie veröffentlichen möchte – dann sicherlich schon mit weiteren Erfahrungen aus der Krise und vielleicht zusehends auch mit Reaktionen auf mein Buch, das am 21. April in die Buchhandlungen kommen soll. Wann und wo der Podcast erscheint, steht dann ab Mitte März auf meiner Website. Ich freue mich auch schon auf die Lesungen, die ab Mai/Juni vermutlich stattfinden können und bei denen wir dann sicherlich auch gemeinsam ins Gespräch kommen werden – melden Sie sich doch gern bei mir, wenn Sie Interesse an einer Lesung in Ihrer Kirchengemeinde, Ihrem Buchladen, Ihrem Unternehmen oder an einem anderen besonderen Ort haben.
Nach allem kann ich nur aus tiefstem Herzen den Worten zustimmen, die Papst Franziskus in seiner Enzyklika Fratelli tutti geschrieben hat und die ich ans Ende meines Buchs gesetzt habe: „Niemand kann auf sich allein gestellt das Leben meistern. […] Es braucht eine Gemeinschaft, die uns unterstützt, die uns hilft und in der wir uns gegenseitig helfen, nach vorne zu schauen. Wie wichtig ist es, gemeinsam zu träumen! […] Allein steht man in der Gefahr der Illusion, die einen etwas sehen lässt, was gar nicht da ist; zusammen jedoch entwickelt man Träume.“ Und so mache ich sehr gern auch aufmerksam auf die große Kampagne der Caritas Das machen wir gemeinsam. Einen Grundsatzbeitrag dazu von Marc Boos und Maja Roth finden Sie hier. Wie notwendig die Kampagne ist, zeigt die aktuelle Umfrage der Caritas: Während im ersten Lockdown der Zusammenhalt gestärkt wurde, zeigen sich jetzt umso stärker die Zerreißkräfte in unserer Gesellschaft: „Risikogruppen gegen die, welche sich gegen das Virus gut geschützt fühlen, ‚Systemrelevante‘ gegen alle anderen, Regeltreue gegen Maskenmuffel, Impfgegner versus Impfwillige, Geimpfte gegen nicht Geimpfte“, spitzte es der Vorsitzende der Caritas Peter Neher in der FAZ zu. Dem von ihm für das Wahljahr befürchteten noch stärkeren Auseinanderdriften der gesellschaftlichen Gruppen können wir tatsächlich nur das gemeinsame Denken und Handeln entgegensetzen.
Das International Handbook on Ecumenical Diakonia entstand in einer für mich sehr beeindruckenden und inspirierenden, die Kontinente übergreifenden Zusammenarbeit und fragt nach einer Theologie der Diakonie ebenso wie nach Konzepten, um die Leidenden dieser Welt zu erreichen, und nicht zuletzt nach Möglichkeiten der Bildung und Ausbildung für Diakonie. Ich habe mich gefreut, drei Beiträge zu diesem Werk beisteuern zu dürfen.
Weitere Publikationen von mir finden Sie auf meiner Website.
Neue Bücher von Freund*innen