Newsletter Nr. 17/Oktober 2019:
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Auf der Biennale in Venedig haben mich die Arbeiten zweier Künstlerinnen besonders berührt. Alexandra Bircken thematisiert mit dem ständigen Schneller, Höher, Weiter, das doch letztlich zum Ende der Menschheit führen kann, ebenfalls ein apokalyptisches Motiv. Hito Steyerls „This is the Future“ dagegen findet ein Gartenbild, um eine gute Zukunft zu imaginieren.
Ob Frauen eine besondere Aufmerksamkeit für die Schönheit der Natur und die Notwendigkeit ihrer Bewahrung haben, das weiß ich nicht – Gegenbeispiele gibt es genug. Aber in diesem Sommer habe ich mich über die Wahl von Beate Hofmann zur Bischöfin der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck gefreut – in den Spitzenämtern der Kirchen sind die Frauen ja immer noch eine Minderheit. In ihrer Einführungspredigt hat sie die Kirche als ein Sorgenetz beschrieben, das dazu beitragen kann, die auseinanderfallende Gesellschaft zusammenzuhalten, die Einzelnen in ihrem Alleinsein zu tragen.
Be Patient. Care Needs Time
Und auch mich beschäftigt das Thema Caring Communitys und Sorgekultur weiterhin: Gemeinsam mit Frank Dölker von der Bundesakademie für Kirche und Diakonie habe ich eine Weiterbildung aus sechs Modulen entwickelt, die Interessierten die Kompetenzen vermittelt, um zusammen mit Beteiligten vor Ort in Quartieren Sorgestrukturen zu etablieren. Wir starten mit dieser Fortbildung im Oktober 2020. Auf dem großen Fachtag Sorgende Gemeinde am 28. Oktober der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg in Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz in Potsdam halte ich ebenfalls einen Vortrag und am 2. November bin ich bei einem Workshop zur Care-Kultur in Seebad in der Nähe von Zürich. Das diesjährige Medizin-Theologie-Symposium, bei dem ich auch einen Vortrag halte, findet vom 22. bis 24. November in Wildbad Rothenburg statt. Hierzu passt auch meine Rezension zum „Sorgebuch“ der Diakonie Deutschland und mein Artikel über „Netzwerk Nachbarschaften. Über neue Formen des Miteinanders in der Single-Gesellschaft“ in Zeitzeichen. Dass es bei der Entwicklung von Gemeinschaft immer auch um die Freude an der Verschiedenheit geht, das ist Thema des nächsten Frauenmahls in Oldenburg am 8. November. Dort werde ich sehr gern wieder mit einer kleinen Tischrede zu den Tischgesprächen beitragen. Am 9. November geht es dann weiter nach Ludwigsburg zum Verbandstag des Karlshöher Diakonieverbandes, wo ich das Hauptreferat halten werde – wieder mit dem Schwerpunkt „Sorgende Gemeinde“. Das Thema boomt – es ist dran in unserer auseinanderbrechenden Gesellschaft. Im Juni erschien das neue Jahrbuch der Diakonie Schweiz. Das Schwerpunktthema widmet sich hier ebenfalls der Sorge in der Gemeinschaft. Mein Beitrag trägt den Titel „Keiner stirbt für sich allein – Sorgende Gemeinden im Quartier“. Vielleicht sehen wir uns auf dem großen EKD-Diakonie-Kongress in Hamburg? Das Thema lautet diesmal Wir & Hier. Gemeinsam Lebensräume gestalten. Beim Symposium am Tag zuvor geht es um Religion im Sozialraum Der Anmeldeschluss für das Symposium wie für den Kongress ist der 31. Oktober. Gerade erschien auch die Dokumentation der Jahrestagung 2018 der Arbeitsstelle Kirche und Gemeinwesen. Auch die Diakonie Baden widmet sich mit einer großen Aktion und einer Broschüre dem Thema Sorgende Gemeinde werden, gemeinsam alt werden und das Zusammenleben im Dorf, im Quartier, in der Stadt gestalten. Immer wieder geht es darum, welche Rolle die alte Institution Kirche in diesem Kontext spielen kann. Dazu hatte ich auch auf einer Tagung in Freiburg Ende September einen Vortrag gehalten. Im Werkstattgespräch Gerechtigkeit und Quartier wird am 15. November in Düsseldorf ausgehend vom konkreten Beispiel des Wohnquartiervereins WQ4 über das Konzept der Gemeinwohlökonomie diskutiert. Der Workshop wird von einem neu gegründeten Verein, einem tragfähigen Netzwerk um Christa Stelling, Gabriele Winter, Dieter Zisenis, Gerrit Heetderks, Christiane Grabe und anderen organisiert, die alle in der rheinischen Diakonie und Bildungsarbeit an entscheidenden Stellen Quartiersarbeit auf die Beine gestellt haben. Da ist noch viel zu erwarten! Anmeldeschluss ist auch hier der 31. Oktober.
Am meisten brennt es wohl nach wie vor bei der Pflege – auch wenn die Politik das Thema sichtbar aufnimmt: mit der integrierten Pflegeausbildung, mit Plänen für Tarifeinheit oder Mindestlohn und mit Konzepten zur Entlastung der pflegenden Angehörigen zum Beispiel. Doch die bisherigen Aktivitäten muten noch an wie der bekannte Tropfen auf den heißen Stein. Es begeistert mich, welche Formen Pflegende finden, um auf die Problematik aufmerksam zu machen – die letztlich die gesamte Gesellschaft angehen. In Dresden brachten sie sie theatralisch auf die Straße! Gott sei Dank nehmen auch immer mehr Landeskirchen diese Fragen auf – in Publikationen, Synoden und auch mit Gottesdiensten. Ich freue mich, dass die Gemeinde Hannover-Burgdorf das Thema in ihrem Buß- und Bettagsgottesdienst am 20. November ansprechen wird und mich zur Predigt eingeladen hat.
Beim Thema Sorgekultur geht es vor allem um Beziehung, um Begegnung und Empathie – um das, was nicht berechenbar und nicht funktionalisierbar ist. Ohne die „Seele des Sozialen“ wird es uns nicht gelingen, eine Pflegekultur zu entwickeln, bei der der Mensch tatsächlich im Mittelpunkt steht. Gerade angesichts des Pflegenotstands ist dies eine große Herausforderung – und von der Digitalisierung kann hier nur eine Unterstützung, keineswegs jedoch eine Lösung erwartet werden. Mitten in der mobilen Welt geht es um Präsenz, in der digitalen um Unmittelbarkeit. Präsenz ist auch ein zentrales Thema im Coaching: Es geht darum, Wissen nicht mit Tiefe zu verwechseln und Information nicht mit Transzendenz. Darum, Transformation zu ermöglichen – nicht nur im Netz, sondern in den Personen. „Nur transformierte Menschen ermöglichen anderen Transformation“, schreibt Richard Rohr. Oder: „Man kann andere nur so weit führen, wie man selbst gegangen ist.“ Rohrs Buch „Pure Präsenz“ habe ich neulich „zufällig“ auf einem Büchertisch-Flohmarkt in Fürstenried entdeckt – während einer Coachingwoche. Die spirituelle Dimension in Coachingprozessen ist mir wichtig; immer wieder entdecke ich Zusammenhänge. Wie wir die Schwelle zu einer Kirche übertreten und wie diejenige zu einem Gespräch, das hat viel miteinander zu tun. Doch gerade in professionellen Kontexten von Sorge und Pflege kann es nicht dem Einzelnen allein überlassen bleiben, die eigene Arbeit wahrhaft menschlich zu gestalten. In ihrem Interview im „Kraftorte-Blog“ hat Veronika Drews-Galle darüber nachgedacht, was auf organisationaler Ebene geschehen kann, damit das Diakonische auch in einem durchgetakteten Arbeitsalltag gelebte Realität werden kann. Auf ganz andere Weise geht es Beate Baberske um Spiritualität. Sie ist die Leiterin der paramentischen Werkstatt in Neuendettelsau – übrigens der weltweit ältesten evangelischen Paramentik – und ihr Interview wird ab Mitte November meine Seite mit den Beiträgen über diakonische Kraftorte bereichern.
Wach in der Gegenwart
Arbeit 4.0. Auch die Arbeit selbst verändert sich ja. Wo die Digitalisierung einzieht, wo Beschäftigte mehr auf Bildschirme schauen als auf Werkzeuge und Materialien, wo Arbeitszeiten flexibel werden, aber auch die sozialen Zusammenhänge unsicherer zu werden drohen, da ist es notwendig, über die Kulturen der Kommunikation und des Miteinanders wie auch über das Verhältnis zu sich selbst nachzudenken. Darum geht es am 3. Dezember beim Frank-Schirrmacher-Forum in Darmstadt. Zusammen mit dem Netzökonomen Holger Schmidt diskutiere ich über die Frage „Zwischen Mithalten und Mitnehmen. Wie viel Geschwindigkeit ist auf der digitalen Reise verträglich?“.
Publikationen von Freunden: Gabriele Bartsch coacht und unterstützt Führungskräfte – und hat dazu zusammen mit Dorothee Moser ein neues Instrument entwickelt: Werteorientiert führen. Bei der Debora-Führungskräfte-Fortbildung am 17. und 18. November in der Akademie Stuttgart-Hohenheim werden wir zusammenarbeiten. Empfehlen möchte ich auch das Buch meiner Facebook-Freundin Martina Lammers. Sie ist seit langem im Wendland für Umweltfragen engagiert. Nun stand sie vor einer persönlichen Herausforderung: Vor fünf Jahren erhielt sie eine Brustkrebsdiagnose. In ihrem Buch „Die Frau, die ich im Spiegel seh“ schildert sie, wie das Malen für sie ein Zugang war zu einer Spiritualität, die ihr neue Kräfte, aber auch neue Erfahrungsmöglichkeiten im Umgang mit ihrer Erkrankung eröffnete. Ihr Malen veränderte sie selbst und ihre Bilder veränderten sich im Lauf des Krankheits- und Heilungsprozesses. Martina Lammers verkauft die Bilder und spendet die Einnahmen für die Seenotrettung von Geflüchteten.
Mit der Krise der Demokratie beschäftigt sich Alexander Görlach in seinem Buch Homo Empathicus. Im Umgang mit der Finanzkrise von 2008 sieht er den Grund für die bittere Enttäuschung vieler an Globalisierung und Marktwirtschaft: Eine Konsumgesellschaft auf Pump, die ein Drittel der Menschen außen vor lasse, führe zur Erfahrung von Demütigung und Rückzug auf überschaubare Bindungen. Die Erosion des Rechtsstaats durch populistische Strömungen sei letztlich die Konsequenz eines verantwortungslosen Umgangs mit Schuld und Schulden.
Gerhard Trabert ist bei denjenigen, an denen andere vorbeigehen oder deren Leid wir nur aus den Bildern im Fernsehen ahnen: In Deutschland ist er auf den Straßen unterwegs und kümmert sich um Obdachlose, zudem hilft er an den unterschiedlichsten Orten der Welt, wo Kriege und andere Verheerungen das Leben der Menschen zerstören. In seinem Buch „Der Straßen-Doc“ berichtet er von seinen Erlebnissen. Dazu sagt er im Interview (auf der selben Webseite): „Die Betroffenen selbst werden oft nicht gehört, wirklich wahrgenommen, es wird ihnen kein Raum der Selbstdarstellung gegeben, dies möchte ich quasi stellvertretend mit diesem Buch ermöglichen. Dass der Leser diese, an den Rand dieser Wohlstandsgesellschaft gedrängten und damit ausgegrenzten Menschen in ihrer Individualität, in ihrer Einzigartigkeit, auch in ihren Schwächen und Stärken ein wenig besser kennenlernt.“ Ich habe Gerhard Trabert bei einer Veranstaltung von syrischen Jesiden kennengelernt, die von den Terroristen des sogenannten Islamischen Staates verfolgt worden waren. Noch bis vor kurzem, bis zu Trumps Rückzug der amerikanischen Truppen und der völkerrechtswidrigen Invasion der Türkei in Nordsyrien, war er dort in einer Ambulanz bei den Kurden, die gegen den IS gekämpft hatten.
Die EKD-Synode, die in diesem Jahr in Dresden stattfindet, widmet sich dem Thema Frieden. Angesichts der Brüche und Grenzüberschreitungen, angesichts der Gewalt, die wir gerade erleben, ist es beängstigend aktuell: Nach Jahrhunderten des Nachdenkens über einen gerechten Krieg beschäftigen sich die Kirchen heute mit der Frage nach dem gerechten Frieden, zuletzt nach dem Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, der gerade in Zeiten von deren Zerstörung so deutlich wird. Was bedeutet das für uns, die wir über Jahrzehnte in Frieden leben, während Menschen im Süden oder im Nahen Osten unter Kriegen litten und leiden? Was sehen wir, wenn wir ihre Perspektive einzunehmen versuchen? In der Besinnung auf die Bibel wird uns bewusst, dass der Kampf der Völker untereinander, das Leiden am Krieg und die Sehnsucht nach wie das Ringen um Frieden die Menschen schon immer beschäftigt haben – ganz ähnlich wie die Gedanken über das Weltende, mit denen ich diesen Newsletter begonnen habe. Das soll die Sorge nicht relativieren. Aber vielleicht hilft es, dem Gefühl der Aussichtslosigkeit, das uns manchmal befallen kann, eine andere Kraft entgegenzusetzen. Die EKD hat anlässlich der Synode ein friedenstheologisches Lesebuch veröffentlicht: Auf dem Weg zu einer Kirche der Gerechtigkeit und des Friedens. Meine Gedanken zur Woche am 15. November im Deutschlandfunk werden das Thema aufnehmen (DLF, 6:35 Uhr).
Tagungshäuser. Auch diesmal erzähle ich zum Schluss gern noch von den Tagungshäusern, die ich zuletzt besuchen durfte. So mochte ich den Bernhäuser Forst in der Nähe von Stuttgart. Es ist eine Einrichtung in einfachem, aber gediegenem Jugendherbergsstil, dazu gibt es sehr gute, mit allen Medien ausgestattete, Tagungsräume, ein Café-Bistro als Treffpunkt im Eingangsbereich und ein gutes Restaurant. Das Haus eignet sich sehr gut für Gruppenfortbildungen. Das Exerzitienhaus Schloss Fürstenried ist eine barocke Anlage aus dem frühen 18. Jahrhundert mit großartigen alten Sälen in einem herrlichen Park. Die Tagungsräume sind gut ausgestattet, die Zimmer erinnern ein wenig an Klosterzellen – einfach, aber funktional. Neben Tagungen finden dort Einzel- und Gruppenexerzitien in der Tradition des Begründers des Jesuitenordens Ignatius von Loyola statt. In beiden Tagungshäusern gibt es kein Fernsehen auf dem Zimmer – dafür viele Chancen zu Begegnung und Reflexion.
Zu Hause in meinem Sekretariat hat es übrigens am 1. September eine Veränderung gegeben: Frau Katrin Rudolph, für deren Unterstützung beim Aufbau von Seele und Sorge in den letzten fünf Jahren ich aus tiefstem Herzen dankbar bin, konnte auf eine 20-Stunden-Stelle wechseln. Ich wünsche ihr viel Glück auf ihrem Weg – und freue mich sehr, dass ich Nathalie Volborth als neue Assistentin gewinnen konnte. Auch sie erreichen Sie über office@seele-und-sorge.de und die Mobilnummer.
Noch lange ist das Jahr nicht zu Ende. Aber viele denken und planen schon für das neue. Eine Geschenkempfehlung: der Frauenkalender, an dem ich wieder mitgearbeitet habe. Weil der bisherige Verlag die Kalenderproduktion eingestellt hat, erscheint er dieses Jahr zum ersten Mal im Selbstverlag und so ist das Thema auch eine Selbstermutigung: Was wagen! Mit Gedichten und Geschichten, Bildern und Reflexionen gibt der Kalender Monat für Monat neue Impulse, anders in die Welt zu schauen. Können Frauen das besser als Männer? Nein, eigentlich glaube ich das nicht. Aber es erscheint mir doch wichtig, in unserer Gesellschaft die Stimmen von Frauen hörbarer werden zu lassen. Dafür erscheinen mir solche Projekte hilfreich und ich unterstütze sie gern, indem ich dazu beitrage.
Möge auch Ihre Stimme trotz kühler werdender Tage und Erkältungswetter klar bleiben – stark, wo es um unser Engagement für eine bessere Welt geht, leise oder nachdenklich in kleineren Räumen – eben einfach so, wie es Ihnen und Ihrer Stimmung entspricht! Vielleicht finden Sie sie auch wieder, Ihre Stimme, bei einem Besuch in einem herbstlich leuchtenden Garten, bei einer intensiven Lektüre oder der Auseinandersetzung mit Kunst. Gerade in diesem Sommer habe ich wieder gespürt, wie sehr das stärken kann, war wieder so dankbar für die Energie, die Zeit, die Fantasie und den Mut, die darin auf so unterschiedliche Weise spürbar sind und wieder neue Energien freisetzen.
The stronger we become
The higher you build your barriers
The taller I become
The further you take my rights away
The faster I will run
You can deny me, you can decide
To turn your face away
No matter ‘cause there’s
Something inside so strong
Labi Siffre (1987)
Teil des Pavillons Südafrikas auf der Biennale.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen schönen Herbst!
Ihre Cornelia Coenen-Marx Wir danken der Biennale für die Erlaubnis, einige Kunstwerke hier zu präsentieren. Alle Fotografien – bis auf die vom Pflegetheater – stammen von Cornelia Coenen-Marx.