Wer öfter umgezogen ist, vielleicht auch ins Ausland, der weiß, welche Plätze die ersten Anlaufstellen sind in der neuen Stadt. In unserer Familie ist das so – und meine Schwester ist Meisterin, was internationale Umzüge angeht. Die Läden, in denen man Putzmittel und Lebensmittel kaufen kann, muss man zuerst finden, dann Arbeitsplatz, Schule und Kindergarten, Elektriker, Klempner und Ärztinnen muss man kennen und natürlich die Nachbarn, die die kürzesten Wege wissen. Man brauche 33 Menschen, um sich an einem Ort zu Hause zu fühlen, habe ich neulich gelesen – Nachbarn gehören dazu, aber bald auch andere Mütter und Väter, Baby- und Hundesitter und die nette Kellnerin in der Stammkneipe. 33 Menschen – im Schnitt dauert es ein Jahr, bis man die mit Namen kennt. Ob die Pfarrerin auch dazu gehört, wenn nicht gerade ein Kind getauft oder konfirmiert werden soll? Im Ausland bestimmt – da sind die deutschen Gemeinden kulturelle Heimat, Kontaktbörse und Netzwerk. Hier findet man, was gegen Heimweh hilft – Weihnachtplätzchen, einen Adventskranz oder Ostereier. Um zu wissen, was einem „Mach hoch die Tür“ bedeutet oder „Geh aus mein Herz“ muss man wohl einmal in einer anderen Kultur gelebt haben. Aber auch hierzulande kann die Kirche Brücken schlagen – und die Sonntage so gestalten, dass Zugezogene sich bald zu Hause fühlen. Meine reformierte, rheinische Gemeinde hat das nach dem Krieg getan, als sie für die vielen Vertriebenen eine lutherische Abendmahlsliturgie einführte.
Nicht erst die Kriege haben die Deutschen durcheinander gewirbelt, auch zuvor schon die Industrialisierung. Dass Familien über mehrere Generationen an einem Ort wohnen, ist seit langem keine Selbstverständlichkeit mehr. Junge Leute ziehen der Arbeit nach in die Städte – und zurück bleiben die Alten mit Wohneigentum, das sich in schrumpfenden Regionen kaum verkaufen lässt. Väter pendeln von Ost nach West zur Arbeit – Mütter bleiben mit den Kindern zurück. Und jedes dritte kinderlose Paar in der ersten Berufsphase pendelt. Und wer häufig umzieht, verliert die alltägliche soziale Einbettung in Familie und Nachbarschaft und damit auch den selbstverständlichen Zugang zu Kirche und Gemeinde.
20 Jahre ist es nun her, da standen wir im Osten Londons vor einer verrammelten Kirche. Eine Gruppe rheinischer Theologinnen und Theologen auf der Suche nach Impulsen für die Kirche der Zukunft. Was damals in der Church of England geschah, ist inzwischen bei uns angekommen: Kirchen werden geschlossen, aufgegeben und verkauft. Und manche werden umgewidmet – zu Synagogen, zu Moscheen oder zu Gemeinschaftshäusern. Die Kirche in London stand mitten in einem globalisierten Viertel mit Menschen aller Hautfarben und Religionen, in dem die Armut offensichtlich groß war. Kein Wunder, dass der Bischof von London der Meinung war, diese Kirche werde nicht mehr gebraucht und sei auch nicht mehr zu finanzieren. Aber die Menschen, die wir hier trafen, waren ganz anderer Auffassung. Sie hatten eine Bürgerinitiative gegründet, um die Kirche zu erhalten. Dabei lebten viele von ihnen längst anderswo – hier aber waren sie getauft und getraut worden waren, hier hatten auch ihre Kinder den Segen bekommen. Hier waren sie wer – und gehörten dazu. So etwas gibt man nicht einfach auf.
Das bewegt auch die Kirchenkuratoren und Kirchenkuratorinnen, die inzwischen bei uns dafür sorgen, dass Dorfkirchen in Brandenburg oder in Mitteldeutschland saniert werden – die Orgelpaten suchen, Veranstaltungen planen, die Kirchen offen halten, auch wenn sie selbst gar nicht Mitglied sind oder längst anderswo wohnen. Was würden Sie antworten, wenn man nach ihrer kirchlichen Heimat fragt? Fällt ihnen Ihr Wohnort ein oder der ihrer Eltern – oder auch ihre Traukirche? Es scheint, als hätte unser Herz seine eigenen Landkarten.
Und dabei wechseln ja nicht nur wir selbst unsere Wohnorte, auch die Nachbarschaften verändern ihr Gesicht. Fremde ziehen zu – als Arbeitssuchende, Migranten oder Flüchtlinge. Manche, wie die Einwanderer der 60er Jahre aus Südeuropa oder aus der Türkei, leben mit ihren Familien seit Generationen unter uns – und dennoch gehören sie nicht überall wirklich dazu. Ich erinnere mich an die wütenden Briefe, die ich im rheinischen Landeskirchenamt erhielt, als die Stadt Duisburg den lautsprecherverstärkten Muezzinruf erlaubte. Wo die Arbeitslosigkeit hoch ist wie im Ruhrgebiet wächst die Angst vor dem Verlust des „Eigenen“ – des eigenen Arbeitsplatzes, der eigenen Kultur, der gewohnten Nachbarschaft, ja auch der eigenen Kirche. Da wird spürbar, was Heimat ausmacht: sich auskennen, gebraucht werden, dazugehören.
Die Erfahrung von Identitätsverlust gehört zu den Schattenseiten der Transformation. Und eine verrammelte Kirchentür kann zum Symbol für Entwurzelung werden. Denn viele unserer alten Kirchen waren doch längst vor uns da. Gefühlt: schon immer. Aber das ist ein Irrtum. Das Neue Testament erinnert an eine ganz andere Geschichte. „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“, heißt es im Brief an die Hebräerinnen und Hebräer. Die arme Kirche der ersten Jahrhunderte war nicht der Mittelpunkt des Dorfes. Sie hat sich als Weggemeinschaft verstanden, als Netzwerk. Vielleicht war gerade das ihre Anziehungskraft, dass sie das Unterwegssein kannte und auch Armen, Flüchtlingen und Vertriebenen Heimat gab. Vielleicht machte das ihre Stärke aus, dass sie ein anderes Verständnis von Heimat hatte. „Unsere Heimat ist im Himmel“. Sie ist Sehnsuchtsort und Seelenheimat. Wer den Jakobsweg gegangen ist, weiß: Die neue Heimat muss erwandert werden – und das verändert unseren Blick auf die alte.
Vielleicht haben wir heute einen neuen Zugang zu dieser Erfahrung. Unterwegssein, Umziehen, Pendeln ist für viele normal geworden. Ich weiß, was ich im Gepäck haben muss, um mich zu Hause zu fühlen: mein kleines Kissen, meinen Teekocher, meinen Kerzenhalter, mein Handy und ein Buch. Und vor allem die Kontakte, die mir helfen, Verbindung zu halten zu den 33 Menschen, die ich brauche. Zu Hause, aber eben auch unterwegs. Ich erinnere mich, dass ich einmal mit einer Kollegin in Kairo den Flieger verpasste – ganz selbstverständlich konnten wir bei einem Mitglied der deutschen Gemeinde übernachten. Ein frisch bezogenes Bett hätten wir auch im Hotel gefunden; aber die deutsche Suppe und das Tischgebet ganz sicher nicht.
Was Menschen brauchen, wenn sie sich heimatlos und entwurzelt fühlen, das kann man von den Auslandsgemeinden lernen. Bekanntlich passiert das vielen auch im eigenen Land. Was Menschen spüren lässt, dass sie nicht allein gelassen sind, wenn ihre alte Welt zusammen bricht, das habe ich in der Diakonie gelernt. Nachbarschaftsinitiativen und Stadtteilcafés, Demenznetzwerke, Bürgerbusse und Bündnisse für familienfreundliche Städte zeigen, wohin die Reise gehen muss. Da ist die Kirche gefragt; sie kann Heimat geben – für Neuzugezogene und für Alteingesessene. Ich erinnere mich an ein Gemeindefest in Mönchengladbach. Es stand unter dem Titel „Heimat suchen – Gemeinde finden“. An einer Tafel waren die Wege von Gemeindegliedern in diese Gemeinde aufgezeichnet – aus Ostpreußen, aus Spanien, aus Schlesien und aus Köln. Gemeinde ist nicht einfach die alte Heimat – aber manchmal ist sie sogar besser als die.
Cornelia Coenen-Marx, Böblingen 24.10.2015, www.seele-und-sorge.de