„Darf’s ein bisschen mehr sein?“

Spiritualität in der Begleitung von Ehrenamtlichen

 

I  Die Situation deuten, die Menschen begleiten: drei Beispiele

 

A   Spiritualität und politische Verantwortung (Das Gorlebener Gebet)

Zum Widerstand gegen die Atomkraftanlagen im Wendland gehört seit 1989 das „Gorlebener Gebet“, das Sonntag für Sonntag von Gruppen und Einzelper­sonen in ganz unterschiedlicher Weise gestaltet wird. Mitten im Wald von Gorleben, in Sichtweite der möglichen Endlagerstätte – am Kreuzweg für die Schöpfung, wo zwei große Holzkreuze, davon eines aus dem AKW Krümmel, den Versammlungsplatz markieren. Es gibt keine feste Liturgie.

Bestandteile des Gorlebener Gebets sind: hören (Berichte); bedenken (Worte der Bibel, literarische Texte); schweigen; erleben der Gemeinschaft; Krafttan­ken im Gebet. Das Gebet ist nicht gemeinde- und konfessionsgebunden, son­dern Ausdruck der Bewegung und wird wesentlich von „Laien“ getragen und organisiert.

 

B   Spiritualität in der hospizlichen Arbeit

Von Anfang an (seit Mitte der 80er Jahre) setzen sich Berufliche wie Engagierte gleichermaßen mit ihrem persönlichen Lebensweg, der Bedeutung von Tod und Leben, mit ihren Kraftquellen auseinander – und zwar genauso im verbandli­chen wie im kirchlichen Rahmen und interreligiös. Diese spirituelle Unterstüt­zung und das Bewusstwerden gehören zu den Anziehungsmerkmalen der Be­wegung in einem Bereich – der Sterbe- und Trauerbegleitung –, in dem Kirche bis in die 50er Jahre fast ein „Monopol“ hatte. Anders als in der Tradition wer­den hier aber die handelnden Personen ermutigt, eigene Antworten zu finden und eigene Rituale zu gestalten.

Übungen, Rituale und Symbole spielen dabei eine wesentliche Rolle: Nachden­ken über die eigene Todesanzeige/das Lebensmotto; Versöhnungsbriefe und unerledigte Geschäfte; Aussegnung mit Zugehörigen (dazu gibt es inzwischen auch „Koffer“ mit Kerze, Segensworten, Duftöl, Salböl …); Trauerrituale im Hopiz, Krankenhaus oder Pflegeheim – gemeinsam mit den Mitarbeitenden (Steine beschriften, Rosengärten anlegen, Namensnennung, Kerzen aufstellen), Gestaltung von Särgen, Einrichtung von Sternenkinderfriedhöfen …

 

C  Spiritualität in der Arbeit mit Wohnungslosen

In Bahnhofsmissionen, Vesperkirchen, auch in Kleiderkammern und an Tafeln kann das Zuwendungshandeln selbst zu einem Ritual mit einer religiösen Tiefen­dimension werden: Jemandem Raum in einer Kirche geben; ihm ein Butterbrot streichen; ihm helfen, sich wieder gut anzuziehen. Miteinander Musik machen und singen – hier gewinnen elementare Dinge eine unschätzbare Bedeutung. Hier geschehen die „Werke der Barmherzigkeit“ nach Matth. 25 – es geht also um eine Gottesbegegnung. Entscheidend ist, dass die Handelnden sich dieser Tiefendimension bewusst sind. Vesperkirchenteams treffen sich deshalb vorab – nicht nur, um zu organisieren, sondern um sich innerlich vorzubereiten. Eine Sakristei, ein Raum der Stille, eine kurze Lesung oder ein Gebet vorab in der Grup­pe der Engagierten.

In der Arbeit der Bahnhofsmissionen/Obdachlosenhilfe geht es neben allen Fragen der Gerechtigkeit auch darum, Menschen mit anderen, mit Gott, mit ihrer Kirche zu versöhnen. Auch hier spielt der Umgang mit Verstorbenen eine entscheidende Rolle: Erinnerungsstätten, Fotos und Friedhöfe/Gräber für Men­schen, die keine Angehörigen und keinen Wohnsitz mehr hatten, werden zu tiefgreifenden Symbolen.

Ausgehend von den konkreten politischen, sozialen, persönlichen Herausfor­derungen entwickeln Gruppen und Bewegungen spezifische Rituale und Sym­bo­le an den Orten des Geschehens – meist jenseits der Ortsgemeinden, über­konfessionell und interreligiös. Dabei können aber die kirchlichen Traditionen (Aussegnung; Bestattung), wesentliche Texte und Bilder (Werke der Barmher­zigkeit) und Symbole (Kerzen, Rosen) einen wichtigen Anknüpfungspunkt bie­ten. Es kommt darauf an, sie in Erinnerung zu rufen und im jeweiligen Kontext neu sprechen zu lassen.

 

II  Rituale entwickeln, Gemeinschaft fundieren

 

A  Kirchliche Jugendarbeit, Erwachsenenbildung, Kirchentag prägen nachhaltig

a) Die Jugendfreizeit in Österreich

In meiner Nachbargemeinde fährt „man“ seit 25 Jahren zu einer Jugend-Skifrei­zeit nach Österreich. Daraus entwickelte sich eine regelmäßige Konfirmanden­freizeit, inzwischen gibt es auch eine Auszeit der Jugendmitarbeiterschaft.

Der Ferienort wurde zu einer Auftankstelle, wo wesentliche Bausteine der Kate­chese erarbeitet und entfaltet werden konnten: von Psalm 23 bis zum Luther­jubiläum. Das Gottesdienstteam, das dort entstand, trägt die Erfahrungen in die Ortsgemeinde zurück. Seit kurzem gibt es eine Website, Karten und T-Shirts mit „Testimonial“-Charakter. Die Freizeit ist Ritual und hat ihre eigenen Rituale und Symbole und hat ein großes Team von Ehrenamtlichen generiert.

b) Kirchentagseinflüsse

Der Kirchentag hat mit seinen Gottesdiensten, Liedern und Symbolen das spiri­tu­elle Leben in Jugend- und Bildungsarbeit und Gemeinden geprägt: Gospel­gruppen tragen gleiche Schals und machen sich damit erkennbar, Tonanhänger mit Motto werden gestaltet, Tischgemeinschaften/Agape­feiern/Straßenmahl­zeiten verknüpfen Kochen, Mahlzeit und religiöse Tradition, Tauffeste werden gefeiert – eine Vielzahl niedrigschwelliger Möglichkeiten, Menschen – auch auf Zeit – zu begleiten.

 

B  Religiöse Traditionen neu auslegen: Kirchenjahr, Fastenzeit, Adventszeit

Mit der Sehnsucht nach Entschleunigung, Bewusstwerden und Innehalten wächst eine neue Aufmerksamkeit für „andere Zeiten“ in der Woche wie im Kirchenjahr. Projekte wie „Sieben Wochen ohne“ oder „Der andere Advent“, Projektchöre zur Passions- und Osterzeit, Osternachtsfeiern sind gefragt. Die Kirchenjahrskette, Kalender und sms zu bestimmten Zeiten, elektronische Kurzandachten, aber auch Gruppentreffen zu einem bestimmten Thema werden angenommen.

Kirchliche Gruppen widmen diesen Zeiten ohnehin eine besondere Aufmerksam­keit. Wie kann es gelingen, die Vorbereitung auf die Feste nicht nur als Service für andere, sondern als inneren Weg für die Beteiligten zu verstehen? Ein Vor­schlag: die Feier des Gründonnerstags bewusst als Mitarbeitendenfeier zu ver­stehen und zu gestalten (möglicherweise ist es ohnehin ein Treffen im engeren Kreis) – im Mittelpunkt das gemeinsame Essen, in der Eingangsliturgie die offe­nen Fragen und Spannungen, als Tischgespräch nach dem Essen wie beim World-Café neue Ideen zur Zusammenarbeit.

 

C  Die hohe Schule: Spiritualität in Leitungsgruppen, Einführung von Ehren­amtlichen im Gottesdienst …

Die Selbstverständlichkeiten kirchlichen Handelns im „inneren Kern“ der Begleitung Ehrenamtlicher sind oft erstarrt – sie sind institutionalisiert, oft exklusiv und tabuisiert. Hinter den hohen Schwellen, die damit gegeben sind, verbergen sich oft Ängste und Enttäuschungen. Die herausgehobene Situation verhindert unbefangene, persönliche Begegnungen – und leider oft auch Gottes­begegnungen. Hier halten sich die Hoffnung auf Mehr und die Angst, bloßgestellt zu werden, die Waage.

Und tatsächlich geht es z. B. bei der „Andacht“ zu Beginn einer Sitzung nicht nur um Spiritualität, sondern auch um die Eröffnung des gemeinsamen/offiziel­len Rahmens. Bei der Einführung/Vorstellung Ehrenamtlicher (Kirchenvorste­her*innen oder Gruppenleiter*innen) geht es nicht nur um eine Segenshand­lung als Stärkung, sondern auch um die Hervorhebung und Bestätigung einer Funktion usw. Die Frage, wie es gelingen kann, kraftvolle und erfrischende Erfahrungen lebendiger Spiritualität in diesem Rahmen aufleben zu lassen, ist deshalb nicht banal. Nur ein paar Hinweise:

  • Die „Mauern“ öffnen – Impulse von außen nach innen geben: Ein Kirchenvorstandswochenende, einmal im Vierteljahr ein gemeinsames Essen im KV (mit einem besonderen Gericht, Musik, einem Text …). Nicht nur KV-Mitglieder oder Gruppenleiter*innen, sondern auch Mitarbeiten­de an der Tafel oder in der Flüchtlingsarbeit werden eingeführt – ihre Berichte und Erfahrungen werden öffentlich und wertgeschätzt. Gäste werden eingeladen. Jede/r, der/die in der Gemeinde eingeführt wird, bekommt ein bestimmtes Symbol oder Zeichen zur Stärkung (einen Handschmeichler, einen farbigen Stein).
  • Die Vielfalt der Erfahrungen nach vorn stellen: Ordinierte nutzen ihre Kompetenz, um ANDERE/S zur Sprache kommen zu lassen: Ein Kirchen­vorsteher hat Glockentöne von überall her aufgenommen, lässt sie zu Beginn einer Sitzung erklingen und erzählt, was Glocken ihm bedeuten. Ein Geschichtskenner setzt sich mit Krieger- und Friedensdenkmalen auseinander und fügt einen Bibelvers an, der ihn prägt. Eine andere hat einen Sommerblumenstrauß gepflückt und bringt dazu Fotos von Marien­bildern mit Blumen mit. Jeder und jede sagt zu Beginn des Jahres, was ihm die Jahreslosung bedeutet, usw.

 

D  Eine kleine Thesenreihe: Spiritualität und Engagement

  • Das Folgende gilt grundsätzlich nicht nur für ehrenamtlich Engagierte, sondern auch für beruflich Mitarbeitende. Allerdings sind der Verpflich­tungscharakter/die Loyalitätserwartungen bei beruflich Mitarbeitenden stärker. Das kann beruflich Mitarbeitende in die Rolle der „Gebenden“ bringen, ohne dass diese Rolle schon durch einen eigenen spirituellen Weg oder entsprechende Praxis gedeckt ist.
  • Spiritualität wird hier verstanden als „Gotteskommunikation“ – unmit­telbar verbunden mit der Kommunikation zwischen den handelnden Per­sonen wie mit der Selbstwahrnehmung (körperlich, biografisch, in der Reflexion).
  • Spirituelle Erfahrungen (persönlich, familiär, kirchlich) sind oft der Wur­zelboden für das eigene Engagement (Jugendarbeit, Hospizarbeit, Ves­per­kirche …). Umgekehrt erschließen Erfahrungen im Engagement einen neuen Zugang zu Spiritualität (Ohnmacht und Angewiesenheit, Wand­lung und Veränderung, Staunen und Begeisterung, die eigene Berufung entdecken, Gemeinschaft erleben …).
  • Engagement ist also nicht nur „Frucht des Glaubens“, sondern Glaubens­erfahrungen wachsen auch im Engagement. Deshalb ist es wichtig, als Spi­ritual*in, Geistliche Begleiter*in, Mentor*in, Gruppenlei­ter*in bei den Erfahrungen der anderen anzuknüpfen, zugleich aber Schätze aus der Tra­dition (Bibelverse, Rituale) und Symbole anzubieten, die deuten, tra­gen und begleiten können. Diese Rolle des/der Lehrenden kann von „Haupt­amtlichen“ wie von Ehrenamtlichen übernommen werden. Wünschenswert ist eine entsprechende Aus- oder Fortbildung.
  • Kontextsensibilität ist gefragt: Rituale müssen offen bleiben für neue Deutungen, Alltagsgegenstände können zu Symbolen werden.
  • Bedacht werden sollten: der Ort (Kirche, Sakristei, Einsatz- und Arbeits­ort?), der Kontext (innerkirchlich – gesellschaftlich?), die Erfahrungen der Einzelnen (auch und gerade mit der Kirche) – von dorther entwickeln sich Settings, Symbole und Rituale.
  • Interkulturelles Lernen lohnt und öffnet den Horizont: Ein Beispiel dafür ist die Hospizarbeit, in der Sterbe-und Trauerrituale aus ganz unter­schied­lichen Zusammenhängen wahrgenommen werden.
  • Wer andere begleiten will, muss sich über die eigenen Kraftquellen klar sein.

 

Cornelia Coenen-Marx , Kassel, 4.3.17