Keiner stirbt für sich allein – Sorgende Gemeinde im Quartier

1. Das letzte Tabu

Der Tod hat keinen festen Ort und viele Gesichter. Wie ein Nomade zieht er durchs Land, kommt an jede Tür und macht, was er will. Das natürliche Ende des Lebens ist in jeder Hinsicht unberechenbar und unvorhersehbar. Er verlangt inmitten der jeweils besonderen Situation die Bereitschaft, sich dem Geschehen offen zu stellen. Nichts ist versprochen, aber vieles ist möglich. So merkwürdig es klingt: Kreativität ist gefragt. Tun, was möglich ist und lassen, was nicht nötig ist… Es geht darum, die gemeinsame Sorge jenseits der erfolgreichen Medizin, jenseits von Staat, Kirchen und Wohlfahrtsverbänden, zu einem zivilgesellschaftlichen Leben aller Menschen zu machen.“ Das schreiben Annelie Keil und Hennig Scherf in ihrem Buch: „Das letzte Tabu – Über das Sterben reden und den Abschied leben lernen.“

Ich weiß nicht, wie es Ihnen ging, als Sie die Sätze gerade hörten und lasen – ich spüre etwas Ungezähmtes und darum wohl Unheimliches, das mich berührt. Der Tod macht, was er will – keine Planung und Routine, keine Verwaltung und Professionalität kann ihn bannen oder in den Griff bekommen. Er bleibt so wild wie das Leben; darum eben gibt es nur eine Ebene, auf der wir ihm begegnen können: Schöpferische Kreativität. Mut zum Entscheiden. Gemeinsames Handeln und Miteinanderreden. „Dass wir miteinander reden können, macht uns zu Menschen“, zitiert Amelie Keil den Philosophen Karl Jaspers.

Ich muss bekennen, dass ich zunächst gezögert habe, das „Letzte Tabu“ zu kaufen. Kann man denn nach 35 Jahren Hospizbewegung noch ernsthaft von einem Tabu reden? Was mich gelockt hat, war die neue Verortung, die Scherf und Keil dem Thema geben – wie manche andere jetzt auch. Die Hospizbewegung ist bei den Silver Agern angekommen, sie ist im Quartier angekommen. Und da zeigt sich das Sterben aus einer anderen Perspektive. Nicht bürokratisch geordnet und standardisiert, nicht hinter einer Zimmertür gepflegt, geplant und berechnet, erwartet und befürchtet, sondern tatsächlich unvorhersehbar. Lebendig. Und mitten unter uns. Was muss sich ändern, damit wir dieser Erfahrung Raum geben? Damit wir uns selbst und anderen Zeit geben, damit umzugehen?

Vor 20 Jahren kam die Hospizbewegung zurück in die Kliniken, vor 15 Jahren kam sie in den Altenpflegeeinrichtungen an. Es gab heftige Debatten um die Differenzierung von Palliativstationen und Hospizen wie auch um die Frage, wie man denn ansonsten im Krankenhaus stirbt – jenseits der Onkologie oder der Lungenklinik. Als wir damals (Anfang der 2000-er Jahre) im Florence-Nightingale-Krankenhaus der Kaiserswerther Diakonie einen Palliative-Care- und Ethik-Prozess mit dem IFF in Wien (Andreas Heller) starteten, da ging es um die Frage, ob und wie es gelingen könnte, die Altenpflege und darüber hinaus die Behindertenhilfe einzubeziehen. Und es sollte noch einige Jahre dauern, bis in Deutschland die ambulante Palliativversorgung interdisziplinär aufgestellt, bis auch Spiritualität als Dimension anerkannt und refinanziert wurde. Seitdem geschieht hospizliche Arbeit in den Quartieren – leider oft an den Kirchengemeinden und ihren Seelsorgekräften vorbei. Zunächst also war die Hopizbewegung buchstäblich aus dem Gesundheitssystem ausgezogen, dann ging es darum, die Haltung und Kompetenzen und auch die Erfahrungen der Bewegung in die Regelversorgung einzubeziehen, ja, sie zu einem Qualitätsmerkmal der Regelversorgung zu machen. Das scheint mir in der ambulanten Versorgung am besten, in der Altenpflege noch am wenigsten gelungen. Bald schon aber zeigte sich: die Konzentration auf Patienten mit Krebserkrankungen hat breite Gruppen außen vorgelassen: Neurologisch Erkrankte, chronisch Kranke, pflegebedürftige alte Menschen, zunächst auch die Kinder. Mit Recht wurde und wird gefragt, ob es denn nun ein Sterben erster und zweiter Klasse gäbe. Gerade für die Wohlfahrtsverbände mit Krankenhäusern und Altenzentren, stationärer und ambulanter Versorgung, bleibt das eine herausfordernde Frage. Es bleibt aber auch ein großes Thema für Patienten und Angehörige. Palliative Unterversorgung in der Altenhilfe oder in der häuslichen Pflege führt noch immer zu Überweisungen in die Klinik.

Im Jahr 2013 starben in Deutschland 2- 3 Prozent der Patienten im Hospiz und 3- 4 Prozent auf einer Palliativstation, 48 Prozent starben m Krankenhaus, ca. 20 Prozent in Pflegeinrichtungen und etwa 25 Prozent zu Hause. Bis auf die Zahlen im Krankenhaus Schätzungen – nicht alle Sterbeorte werden statistisch erfasst. Noch immer gilt das Paradox, dass die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger zu Hause sterben will – während die meisten tatsächlich in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen sterben.

„Ich will alt werden und sterben, wo ich gelebt habe“ – Klaus Dörners eingängiger Satz steht bis heute paradigmatisch für einen neuen Umgang mit Alter, Pflegebedürftigkeit und Sterben. Vor 25 Jahren forderte der Gütersloher Sozialpsychiater die Auflösung der stationären Einrichtungen in der Altenhilfe – wie vorher schon die Ambulantisierung der Psychiatrie und Behindertenhilfe. Es war übrigens die Zeit, in der im Europarat die Charta der Rechte von Todkranken und Sterbenden verabschiedet wurde, in der es um den Schutz ihrer Würde geht. Menschen, die vorher als Objekte der Hilfe verstanden wurden, kamen endlich als Subjekte in den Blick.

 

2. Quartier und Caring Communities

„Ich will alt werden und sterben, wo ich gelebt habe“. Dörners Vision wurde zunächst als Provokation verstanden. Aber seitdem haben sich die Einrichtungen der Altenhilfe differenziert; mit betreutem Wohnen und Kurzzeitpflege, ambulanter Pflege und hauswirtschaftlichen Hilfen, aber auch mit Cafés und vielfältigen Kooperationen haben sie sich immer mehr ins Quartier, in ihre Nachbarschaft geöffnet. Fachlich und sozialpolitisch ist Konsens: Niemand soll in ein Heim gehen müssen, nur weil er oder sie sich selbst nicht mehr versorgen kann; keiner soll isoliert sein, wenn er stirbt. Die Dienstleistungen sollen zu den Menschen kommen und nicht länger umgekehrt. Auch Stadtplanung, Architekturbüros und Wohnungsbaugesellschaften machen inzwischen ernst damit, dass in den neuen Wohnquartieren Rollatoren wie Kinderwagen über die Schwelle kommen und Häuser so barrierefrei sein müssen, dass auch Rollstuhl oder Krankenbett Platz finden.

Und dennoch: „die Hochbetagten, Dementen und Pflegebedürftigen sind von zunehmender Exklusion betroffen und brauchen Unterstützung, um auch weiterhin Teil der Gemeinschaft zu bleiben“, sagt Prof. Eckart Hammer aus dem Beirat des Projekts „Alter neu gestalten“ der Evangelischen Kirche in Württemberg. Offenbar gibt es auch eine gegenläufige Entwicklung. Und das hat mit der Entdeckung der dritten Lebensphase, des jungen, aktiven Alterns zu tun. In diesem Zusammenhang rückte die Hochaltrigkeit als vierte Lebensphase weiter nach hinten – und oft genug wird sie verdrängt. Denn zugleich ist in der Bevölkerung die Angst vor Pflegebedürftigkeit und Demenz gewachsen und sie wird von den Debatten um Pflegenotstand und assistierten Suizid weiter angeheizt: Viele fürchten sich davor, nicht gut versorgt zu sein, wenn sie sich selbst nicht mehr versorgen können. Umso mehr genießen die jungen Alten die geschenkten, gesunden Lebensjahre: Reisen, Sport, neue Freundschaften und Beziehungen, ehrenamtliches Engagement – die Powerager sind aktiv. Sie wollen als Gestalter ihres Lebens wahrgenommen und eben nicht nur auf die zunehmende Gebrechlichkeit und Verletzlichkeit reduziert werden. Und tatsächlich bedeutet alt zu werden ja nicht unbedingt Pflegebedürftigkeit und Demenz. Nur 15 Prozent der 80-84jährigen und 26 Prozent der 85-89jährigen sind von Demenzerkrankungen betroffen. Und auch Pflegebedürftigkeit nimmt zwar mit dem Alter zu – aber bei den 80 bis 86-jährigen sind es 20 Prozent und erst über 85 steigt der Anteil auf 40 Prozent. Dennoch: Das macht vielen Angst und man möchte sich nicht damit beschäftigen. Deshalb besteht die Gefahr, dass diese Gruppe vom gemeinsamen Leben ausgeschlossen wird. Nicht nur im Pflegeheim, sondern auch in der Nachbarschaft. Und mitten in unseren Gemeinden.

In Deutschland leben mehr als 40 Prozent der über 70-jährigen allein – und nicht alle können am Ort auf Familienmitglieder, tragfähige Freundschaften und Nachbarschaftsnetze zurückgreifen. Die Wohnentfernung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern hat in den letzten Jahren ständig zugenommen; die über 70-jährigen erhalten immer seltener praktische Hilfe. Die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen, die wachsende berufliche Mobilität und geringere Kinderzahlen haben die familiären Netze fragiler gemacht.

Wie können wir verhindern, dass Menschen nur deswegen in stationäre Einrichtungen ziehen, weil sie ihren Alltag nicht mehr allein bewältigen? Weil die Wohnung nicht barrierefrei ist oder die Versorgung zu Hause nicht gewährleistet? Weil sie mit ihren chronischen Erkrankungen nicht mehr richtig umgehen können oder ihre knappen Finanzen nicht mehr übersehen und mit Anträgen überfordert sind? Diese „Lösung“ ist extrem teuer, nicht nur für die Betroffenen selbst, sondern auch für die Kostenträger, für die gesamte Gesellschaft „Ein Zuhause ist der einzige Ort, wo die eigenen Prioritäten unbeschränkte Geltung haben“, schreibt der amerikanische Arzt Atul Gawande. „Zu Hause entscheidet man selbst, wie man seine Zeit verbringen will, wie man den zur Verfügung stehenden Platz aufteilt und wie man den eigenen Besitz verwaltet.“

Wenn wir wollen, dass wir auch im Alter möglichst lange in unserem Umfeld bleiben können, dann braucht es mehr Beratung, besser vernetzte Angebote und andere Wohnformen, wie sie jetzt schon erprobt werden. Die neuen Wohngenossenschaften, aber auch Architektenentwürfe und Ausstellungen wie kürzlich in München zeigen, worauf es ankommt: Wer nicht in einer Familie lebt, braucht eine gute Kombination von eigenen, privaten Rückzugsräumen und gemeinschaftlichen Angeboten vom Bistro bis zu Bibliothek und Gästewohnung. Das ist nicht nur für Senioren interessant, sondern auch für Studierende und Alleinerziehende – und warum nicht für die verschiedenen Gruppen gemeinsam. Vielleicht wird ja auch ein Kinderhort angeschlossen oder eine Pflegestation. Notwendig ist aber auch eine tragfähige Infrastruktur im Stadtteil mit Läden, öffentlichem Nahverkehr, Cafés. Vor allem aber eine aktive Bürgerschaft, die sich auch selbst um Dorfläden und Bürgerbusse kümmert, wo die Kommune sich zurückzieht und der Markt versagt. Starke Nachbarschaften, in denen man einander unterhalb der Schwelle professioneller und bezahlter Dienstleistungen wechselseitig hilft. Beim Einkaufen, bei kurzen Erkrankungen, beim Babysitten, bei einer Fahrt zum Arzt. Der jüngste Freiwilligensurvey in der Bundesrepublik zeigt: Immerhin 25 Prozent helfen Nachbarn von kleinen Handwerksdiensten bis Kinderbetreuung – und es sind, bis auf die Unterstützung Pflegebedürftiger, mehr Männer als Frauen und eher Jüngere als Ältere. Die Befragungen zeigen: diese wechselseitigen Unterstützungsleistungen verbessern nicht nur das Miteinander in der Nachbarschaft, sondern die Lebensqualität aller Beteiligten. Zu wissen, dass andere da sind, die uns kennen und auf uns achten, nimmt die Angst vor Einsamkeit.

In unserer Gesellschaft, die stark geprägt ist vom Wunsch nach Selbstbestimmung und Selbstoptierung, geht es um ein Gegengewicht: um wechselseitige Unterstützung und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen – für sich selbst, für andere und auch für die gesellschaftliche Entwicklung. Das ist der Grund, warum die „Caring Communities“ Konjunktur haben. Im Deutschen ist von „Sorgenden Gemeinschaften“, von „Sorgenden Gemeinden“ oder auch von „lokalen Verantwortungsgemeinschaften“ die Rede. Caring Communities können sich in verschiedenen Handlungsfeldern entfalten – es kann um Menschen mit Behinderung gehen, um Ältere und Geflüchtete, aber eben auch um Sterbende und Trauernde. Immer geht es um die Inklusion der Exkludierten und Vergessenen. Damit das gelingt, braucht es eine Kombination von Bürgerinitiativen, kommunaler Planung und Organisationen vor Ort. Das können Pflegedienste, Schulen, Handwerksbetriebe oder Unternehmen sein – und natürlich Kirchengemeinden.

Dabei ist der Begriff „Sorge“ ein Versuch, das englische Care zu übersetzen – es steht für alle Beziehungs- und Zuwendungsarbeit privater wie professioneller Natur. Die feministische Theorie hat den Begriff neu entdeckt und problematisiert damit die Dominanz einer ökonomisierten Sichtweise im Sozial- und Gesundheitswesen, die den Menschen zum bloßen Kunden und Empfänger von Dienstleistungen macht. „Sorgende Gemeinschaften“- das steht für Zugehörigkeit, gemeinsame Werte und Verantwortungsbeziehungen, wie wir sie aus Familien und Freundeskreisen oder aus religiösen Gemeinschaften kennen. Sie leben ja aus einem gemeinsamen Wertesystem, einem gemeinsamen „Spirit“, der ganz unterschiedliche Menschen zusammenhält. Und tatsächlich sind in den letzten Jahren in vielen Gemeinden Seniorennetzwerke, Demenznetzwerke und auch Nachbarschaftsnetze entstanden. Kirchengemeinden bringen viel mit, damit das gelingt: Sie haben öffentlich zugänglich Räume, ihre Häuser sind fußläufig, es gibt viele, die sich ehrenamtlich engagieren, aber auch hauptamtliche Ansprechpartner. Kirchengemeinden haben eine lange gewachsene Erfahrung und eine professionelle Verwaltung. Und sie genießen hohes Vertrauen. Aber auch die Verantwortung der Kommunen muss im Blick bleiben. Denn wenn wir Kommunen nicht nur als Wirtschaftsstandorte, sondern als Ort des guten Lebens begreifen wollen – dann braucht es soziale Investitionen in Wohnprojekte, Infrastruktur, Quartiersentwicklung und Engagementförderung. Letztlich brauchen „Sorgende Gemeinschaften“ einen Wohlfahrtsmix, das produktive Zusammenwirken von Staat, Dienstleistern und Nachbarschaftsinitiativen in „geteilter Verantwortung“. Und eine gemeinsame Planung und Abstimmung – am runden Tisch, warum nicht im Gemeindezentrum?

Tatsächlich sind es meist die „jungen Alten“, die diese Prozesse voranbringen. Die 68-er-Generation ist schon in jungen Jahren durch die sozialen Bewegungen geprägt und kann heute an diese Erfahrungen wieder anknüpfen. Sie wohnen oft lange am Ort, sind sozial und oft auch politisch engagiert, bringen breite Lebenserfahrungen ein und sind damit die Treiber einer neuen, generationenübergreifenden und gemeinwohlorientierten Bewegung. Sie engagieren sich als Pflege- und Demenzbegleiter, als Lesepaten, Leih-Omas, Stadtteilmütter oder Ausbildungsmentoren. Sie fahren die Bürgerbusse und arbeiten in den Dorfläden mit. Oder sie bauen ganz eine Telefonkette auf – inzwischen auch mit Skype – um auf einfache Weise täglich mit anderen verbunden zu bleiben.

Dabei geht es keinesfalls um selbstvergessenen Altruismus. Denn wer sich engagiert, gewinnt zugleich neue Beziehungen und Netzwerke. Engagement ist Teilhabe und stärkt Teilhabe. Selbstsorge und Fürsorge gehören zusammen – sie sind die beiden Seiten der „Mitverantwortung“, von der die Philosophin Hannah Arendt gesprochen hat. Bei den jungen Alten zeigt sich das besonders deutlich. „Ich für mich. Ich mit anderen für mich. Ich mit anderen für andere. Andere mit anderen für mich“, schreibt Margret Schunk, die auch beim Projekt „Alter neu gestalten“ in Stuttgart beteiligt ist „Weil wir uns vorgenommen haben, etwas gemeinsam zu tun, was uns allen nützt, was uns allen hilft. Eine Gemeinschaft soll entstehen und wachsen können, die uns allen etwas bringt.“

Das ist auch der Impuls, der Annelie Keil und Henning Scherf treibt. Nicht erst mit ihrem Buch über das letzte Tabu, sondern in den letzten 10 Jahren mit der Gründung von Seniorenwohngemeinschaften und Netzwerken. „Es ist einfach notwendig als Bürger da zu sein“, sagt Annelie Keil. „Zivilgesellschaftliches Engagement ist kein Zuckerbrot, kein Nachtisch zu den Hauptmahlzeiten des Lebens nach dem Motto: Jetzt habe ich noch ein bisschen Zeit. Nein, die Notwendigkeit wird leibhaftig erlebt… Der Weg muss vom Einzelnen in die Gemeinschaft gehen. Und umgekehrt tue ich ja alles, was ich noch für die Gemeinschaft tue, im Wesentlichen für mich. Wenn ich als alleinlebende Frau nicht mehr hinausgehe, in meine Suppenküche oder zu einem Vortrag oder in die Schule, um mit den Kindern zu diskutieren, dann wird mein Leben ärmer. Aber müssen müssen wir nicht mehr. Wer krank ist und Gebrechen hat, oder einfach nichts mehr leisten möchte, muss auch alt werden dürfen.“

Dabei bleibt es für jeden und jede wichtig, sich mit anderen auszutauschen und am Leben teilzuhaben. Das gilt natürlich auch für hochaltrige, pflegebedürftige und demenzkranke Menschen. Die Hochaltrigenstudie der Universität Heidelberg von 2013 zeigt: 76 Prozent der befragten 80- bis 99-jährigen empfinden Freude und Erfüllung in emotional tieferen Begegnungen mit anderen Menschen, 61 Prozent im Engagement für andere Menschen und 60 Prozent haben das Bedürfnis, auch weiterhin gebraucht und geachtet zu werden. „Ich möchte gerne mittendrin sterben“ sagt Henning Scherf. Ganz wie Dörner. „Altwerden und sterben, wo ich gelebt habe.“

 

3. Zurück in die 50er?

Ich erinnere mich an die alt gewordene Nachbarin, deren Sterben ich als Kind miterlebte. Sie las mir noch lange aus den geliebten Pixibüchern vor und bestrickte meine Puppen. Meine Mutter versorgte sie zusammen mit der Gemeindeschwester. Ich sehe die Girlande aus Wiesenblumen vor mir, die wir knüpften und um ihren Sarg legten – so wie sie mir oft Blumenkränze in die Haare geflochten hatte. Und ich denke an die Sammeltasse, die sie noch im Herbst als Weihnachtsgeschenk für mich kaufen ließ – eine bleibende Erinnerung, als sie schon gegangen war. Kleine Rituale, wechselseitiges Geben zwischen dem Generationen – am Ende war es ganz selbstverständlich, dass sie noch zu Hause aufgebahrt war. Damals in den 50er Jahren lebte der Tod noch nebenan, jedenfalls im Pfarrhaus. Nachts wurde mein Vater angerufen, weil jemand in der Nachbarschaft starb. Und den Heiligabend, an dem die Bescherung warten musste, weil mein Grundschullehrer starb, werde ich nicht vergessen. Der Tod war tatsächlich unberechenbar. In den 80er Jahren dann, als ich Gemeindepfarrerin war, fand ich solche Traditionen des Abschiednehmens nur noch in wenigen Häusern – oft auf den alten Höfen. Mehr und mehr wurde das Sterben an Experten delegiert: an den ärztlichen Notruf, die Klinik, an Notfallseelsorger und Pflegeeinrichtungen, an die Bestatter, die mehr und mehr zu Trauerexperten werden.

In Hospizen finden wir Steinhügel, Sterne oder und Rosenbeete mit den Namen der Verstorbenen. In vielen Altenzentren werden Fotos mit einem Trauerkranz auf den Platz im Speiseraum gestellt. Oder es hängen schwarze Rosetten an den Türen. Mein Mann erzählte mir kürzlich, dass genau solche Rosetten in seiner Kindheit noch an den Haustüren im Viertel hingen. Regelmäßig war zu sehen, wo jemand gestorben war. Oft läuteten die Glocken, die Trauerzüge zogen von der Kirche zum Friedhof und die Autos hielten sehr selbstverständlich an und die Jungs blieben stehen und zogen die Mütze ab.

Das alles ist aus unseren Nachbarschaften verschwunden. Nur die Notarztwagen sind jetzt häufiger zu hören. Das Sterben wurde professionalisiert, institutionalisiert und medikalisiert. Das hat äußere und innere Gründe. Neben dem medizinisch-technischen Fortschritt spielt die Veränderung in den Familien eine Rolle: die selbstverständliche Teilnahme von Frauen an der Erwerbsgesellschaft, die zunehmende Mobilität und eben auch der demographische Wandel haben die Situation grundlegend verändert: Die Mehrgenerationenfamilien leben nur noch selten an einem Ort. Beerdigungen sind klein geworden; immer häufiger werden Einäscherungen und auch anonyme Bestattungen gewählt. Wer Kinder erzieht, für Pflegebedürftige und Sterbende da sein will, kommt zeitlich in Zerreißproben oder muss finanzielle Einbußen hinnehmen. Dieser Prozess hat langer vor dem 50er Jahren begonnen – die waren wohl eher die Ausnahme, „die goldene Zeit der Familie“, wie Soziologen sagen. Die Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser, die im frühen 19. Jahrhundert gegründet wurden, waren schon eine Antwort auf die Industrialisierung, Mobilität und die Überforderung der Familien. Sie sollten den Bewohnern die Versorgung bieten, die die Angehörigen schon zeitlich oft nicht mehr leisten konnten. Schon damals entstanden „sorgende Gemeinschaften“, diakonische und caritative Wahlfamilien, die die Vergessenen aufnahmen. Dabei entwickelten sie allerdings auch eine institutionelle Eigengesetzlichkeit, die wir bis heute spüren. Was vor allem für die Angehörigen Sicherheit bedeutet, erleben die Betroffenen als Verlust an Autonomie, Privatsphäre und Freiheit.

Die Prozesse werden von Profis gesteuert – da stören Angehörige die Routinen, die in den chronisch unterfinanzierten Organisationen möglichst reibungslos ablaufen sollen. So stehen überlastete Pflegeteams und von langer Pflege erschöpfte Angehörige einer gegenüber – beide von der Situation überfordert. „Da können wir uns eigentlich nur gegenseitig beraten“, sagt ein Altenpfleger. „Wir sollten lernen, keine Angst aufkommen zu lassen, sondern danach zu handeln, was Recht ist. Und das nicht im Alleingang, sondern immer im Team. Ein Bewohner hat das Recht, dass man für ihn kämpft, wenn er das nicht mehr selbst kann.“ Aber was bedeutet das? Es ist keineswegs immer klar, „was Recht ist“. Gerade bei älteren, multimorbiden Menschen geht es im Sterbeprozess um eine Kette von Entscheidungen und keinesfalls um das schnelle Ende, das auch von manchen Angehörigen so sehr gewünscht wird. Gleichwohl scheint es schwierig, alle Beteiligten zusammen zu rufen, wenn Entscheidungen getroffen werden müssen, wenn es darauf ankommt. Aber stellen wir uns für einen Augenblick die Situation der Angehörigen vor:

Da sind die erwachsenen Kinder, die beruflich eingespannt sind. Die Rentnerinnen, die ihre hochaltrigen Mütter bis zur eigenen Erschöpfung gepflegt haben. Die Ehepartner, die ebenfalls schon alt sind und durch die Begleitung körperlich und emotional an die Grenze geraten. Da sind die jüngeren Mitglieder der Mehrgenerationenfamilie, die weite Wege einplanen müssen, ihre sterbenden Familienmitglieder noch einmal zu sehen. Wenn nach langer Pflege die Belastung im Sterbeprozess noch einmal zunimmt, können auch in den Familien selbst die Spannungen wachsen. Wer hat jetzt die Zeit am Sterbebett zu sitzen? Wer muss sie sich nehmen? Überkommene Geschlechterrollen werden wieder lebendig, alte Rechnungen noch einmal aufgemacht, Geben und Nehmen in Beziehung gesetzt. In Scheidungs- oder Patchworkfamilien stehen alte und neue Bindungen, alte und neue Rechte einander gegenüber.

Kein Wunder, dass die meisten Einrichtungen Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht gleich mit der Anmeldung verlangen und bereits in der ersten Zeit die Wünsche und Vorstellungen abfragen. Damit sind im Blick auf die Selbstbestimmung hilfreiche Instrumente geschaffen. Zugleich aber bleibt ein gerütteltes Maß an Skepsis, was die Lebensnähe solcher Entscheidungen angeht: Lassen sich die Dinge tatsächlich im Vorhinein klären, wenn doch unsere Gefühle immer nur durch das bisherige Leben und Erleben geprägt sind? Und wenn wir mit dem Sterben keinerlei Erfahrung mehr haben? Droht nicht die Gefahr, damit einmal mehr zu einer Verregelung und Bürokratisierung des Sterbens beizutragen, obwohl wir es doch immer mit widerstreitenden Perspektiven zu tun haben – bei den Sterbenden wie auch bei ihren Angehörigen? Es ist eben nicht nur die Medikalisierung der Gesellschaft, nicht nur die Überforderung der Familien, die den Tod aus dem Quartier vertrieben hat. Es ist auch die Angst vor dem Fremden, dem Unplanbaren und Unberechenbaren – und die Hilflosigkeit, darüber zu reden. Der Tod ist der Enteignung durch Experten zum Opfer gefallen – auch, weil wir froh sind, die Dilemmata an Experten abzugeben.

Deswegen sind die Probleme auch nicht alle gelöst, wenn wir Pflege und Versorgung stärker ambulantisieren. Es geht auch um die Frage, wie wir Zeit füreinander finden, wie es gelingen kann, Arbeitsbiographien flexibler zu gestalten, in Zeiten der Pflege Druck heraus zu nehmen. Und es geht um die Frage, wie wir Mut machen können, über Ängste und Unwissenheit zu sprechen. Angehörige wie Nachbarn und Ehrenamtliche brauchen mehr Unterstützung. Was früheren Generationen selbstverständlich war, müssen wir neu lernen. Zugleich verlangt die Zeit der Sterbebegleitung, des Abschiednehmens und Neuordnens in unserer zunehmend fragmentierten Gesellschaft ein weit höheres Maß an Kommunikation und Absprachen. Sie bietet aber auch die Chance, neue Kräfte und Möglichkeiten zu entdecken und daran zu wachsen. In einer Untersuchung des Heidelberger Instituts wird deutlich: pflegende Angehörige fühlen sich oft überlastet und überfordert; aber sie machen auch ganz neue Erfahrungen von Nähe und Energie. Dabei brauchen sie Unterstützung, auch geistliche Unterstützung. Die Theologin und Therapeutin Monika Renz aus Sankt Gallen hat die Zeugnisse von Sterbenden aufgeschrieben, die sie selbst begleitet hat. Nach der Machtlosigkeit von Patienten gefragt, sagt sie: „Die wenigsten Menschen wissen, dass Ohnmacht nur so lange schlimm ist, bis ich loslassen und mich in gute Hände geben kann. Es gibt eine innere Schwelle, danach ist es ein Fließen, ein Friede.“ Die erfahrene Sterbebegleiterin vergleicht Geburt und Todesnähe. Und sie sagt: Irgendwann muss man hindurch. Seelisch und körperlich. Das macht den Menschen in einer Weise glücklich, die ich im Leben nicht kenne.“ Von der Hoffnung zu sprechen, dass der letzte Schritt kein Weg ins Nichts ist, sondern eine neue Geburt – dass wir erwartet werden und nicht verloren gehen, das ist auch eine Aufgabe der Kirche. Wenn wir Hilflosigkeit und Ohnmacht, akzeptieren, können sich neue Horizonte auftun. Das gilt es wieder zu entdecken. Wenn das Sterben wieder in die Mitte der Gesellschaft rücken soll, ist das auch ein Bildungsprozess, der in Schule und Jugendbildung anfangen muss.

 

4. Das Netzwerk und die Kirchengemeinde

Die Philosophin Hannah Arendt hat am Ende ihres Lebens von dem Gefühl der „Entlaubung“ gesprochen, dem Gefühl, auf der Welt ohne die gewohnten und geliebten Gesichter, die sie einst umgaben, nicht mehr zu Hause zu sein. Arendt schrieb im Dezember 1973 an ihre enge Freunde Mary McCarthy, dass sie nicht dagegen habe, sich auf das eigene Sterben als einen Prozess der Transformation einzulassen, aber das, was ihr wirklich etwas ausmache, sei die „stufenweise“ Transformation einer Welt mit vertrauten Gesichtern (egal ob Freund oder Feind) in eine Art Wüste die von fremden Gesichtern bevölkert sei.

Im Sterben geht es auch um das soziale und biographische Netzwerk, in dem wir unser Leben gestaltet haben – mit seinen sichtbaren wie mit den unsichtbaren Knoten, die sich nun lösen. Schmerzliche Lücken, unversöhnte Beziehungen, Abbrüche und glückliche Neuanfänge. Menschen, die uns stark gemacht und solche, die uns gekränkt und geschwächt haben. Da fallen Namen, die keiner mehr kennt – von Vorgesetzten, Freundinnen, Kollegen, von Zufallsbegegnungen, die den Verlauf einer Biographie gleichwohl entscheidend verändert haben. Wie alte Fotos, die niemand beschriftet hat, tauchen Bruchstücke von Geschichten auf. Und niemand, außer vielleicht Angehörigen, Freunden und Nachbarn, ist in der Lage, zu dechiffrieren, was sie bedeuten. Was mit einem Namen, einem Duft oder einem Bild verbunden ist, woran ein Musikstück erinnert, das lässt sich nicht auf Fragebögen ankreuzen. Das wissen oft nur die Menschen, die uns vertraut sind. Was wir gern zum Frühstück nehmen, das weiß vielleicht auch der Bäcker. Und mag sein, unsere Nachbarin kennt unseren Lebensrhythmus am besten. 30 Menschen brauche man, um sich an einem Ort wirklich heimisch zu fühlen. Wenn wir vom Leben im Quartier sprechen, dann geht es also nicht nur um die vertraute Wohnung, sondern auch um dieses Geflecht.

Was können Kirchengemeinden mit ihren Ehrenamtlichen und Seelsorgenden, mit Gemeindehäusern und Einrichtungen tun, um ältere Menschen, Pflegebedürftige und Sterbende, aber auch ihre Angehörigen zu begleiten und zu stärken? Und um einen tabufreien Umgang mit dem Thema Tod und Sterben zu ermöglichen? Da geht es um Entlastung, damit Menschen Zeit mit ihren Angehörigen verbringen können. Es geht um einfühlsame Begleitung, um Versöhnungsprozesse und Wiederbegegnungen zu ermöglichen. Mit Familienangehörigen, mit alten Freunden. Um Beratung in schwierigen Entscheidungssituationen – vorurteilsfrei und nah am Miteinander. Seelsorge, auch die Gemeindeseelsorge muss sich als integrativer Bestandteil hospizlicher Teams verstehen. Sie muss Menschen ermutigen, Entscheidungen in sozialer Verbundenheit zu fällen. Erwachsenenbildungseinrichtungen können Freiwillige ausbilden und coachen. Gemeinden mit ihren Ritualen können den Angehörigen Mut machen zum Abschiednehmen, Trauern und Leben. Sie können Gemeinhäuser zu Gemeinwesenhäusern und Begegnungsorten für jedermann machen – fußläufig und barrierefrei. Und Friedhöfe als Orte der Begegnung und des Lebens gestalten.

Das Projekt „Qualifiziert fürs Quartier“ des Evangelischen Johanneswerks in Bielefeld zeigt, wie es geht: Alles fängt mit Recherche an: Sozialraumdaten, Experteninterviews, eine Stadtteilerkundung. Wer lebt eigentlich in unserem Stadtbezirk, wie hoch ist das Durchschnittalter, wie ist bei den Älteren das Verhältnis von Alleinlebenden und Familien? Was wissen Ärzte und Pflegedienste darüber, wie hier gepflegt wird? Dann geht es darum, Gemeindemitglieder und andere Bürgerinnen und Bürger einzuladen, denen das Thema auf den Nägeln brennt. Pflegende Angehörige, Nachbarn und Ärztinnen zum Beispiel. Bei einem Open-Space oder in einem World-Café können die wichtigsten Probleme identifiziert werden. Experten werden eingebunden, neue Allianzen geschmiedet. Freiwillige aus Besuchsdiensten und Pflegediensten können zusammenarbeiten. Hilfesuchende und Hilfeanbietende finden zusammen – beispielsweise für die Begleitung bei Arztbesuchen, für Hausaufgabenhilfe oder für Beratung, wenn Angehörige an Demenz erkrankt sind.

Die evangelische Kirchengemeinde Lindlar ging noch einen Schritt weiter: sie nahm nicht nur die Situation ihrer Mitglieder, sondern auch die der Immobilien in der Gemeinde unter die Lupe und zog Konsequenzen. Die Kirche, die erst nach dem Krieg gebaut worden war, füllte sich nicht mehr wie früher. Viele Gemeindemitglieder waren älter geworden, sie brauchten Hilfe, um das Haus zu verlassen. Es fehlten alternsgerechte Wohnungen, Haushaltshilfen, aber auch ein Ort der Begegnung zwischen den Generationen. So entschied sich der Kirchenvorstand für einen radikalen Neuanfang: Das Pfarrhaus wurde abgerissen und ein Teil des Landes verkauft. In Zusammenarbeit mit einer kirchlichen Wohnungsbaugenossenschaft wurden barrierefreie Wohnungen errichtet. Von dem erzielten Gewinn wurde das Jubilate-Zentrum errichtet – ein Treffpunkt der Generationen. In das Wohnprojekt zog ein Pflegedienst ein und Freiwillige organisierten einen Bürgerbus. Das Konzept hat nicht nur die Gemeinde neu belebt, es hat auch ihren Einfluss in der Kommune gestärkt, den sie nun für die Entwicklung zur alternsgerechten Stadt nutzt.

 

5. Kirche als Erzählgemeinschaft

„Im Alter erzählt man sich sein Leben neu“, sagt die Autorin Ruth Klüger – „ich beurteile die Menschen anders, als ich sie vorher beurteilt habe. Das Alter gibt die Chance, auf das Ganze zu sehen, offener zu werden und großzügiger. Ich muss keine Angst um mein Ego mehr haben – ich kann einen Schritt zurücktreten und mich freuen, an dem was wird und geworden ist. Durch mich und auch durch andere.“ „Winterarbeit“ nannte Kurt Rose, ein inzwischen verstorbener Freund, sein letztes Buch. Der Dichter vieler Kirchentagslieder erinnerte sich in den letzten Jahren seines Lebens an die Auszeit, die er nach dem Krieg genommen hatte. Auf der Suche nach Orientierung lebte er damals mit seiner jungen Frau ein ganzes Jahr an einem finnischen See. In einer Holzhütte ohne Strom und Licht aber mit einem Kamin. In Einfachheit und Einsamkeit wollten die beiden sich klarmachen, was ihnen wirklich wichtig war – so wie jetzt noch einmal, bei der „Winterarbeit“. Wenn die Blätter fallen und die Äste kahl in den Himmel ragen, werden auch die Konturen deutlicher; wir sehen klarer. Was zeitbedingt war, tritt zurück, Strukturen werden erkennbar – und die wesentlichen Fragen werden noch einmal zeitlos und präzise gestellt. Wozu sind wir hier? Was ist das Leben wert? Worauf dürfen wir hoffen? Ein neuer, offener Raum entsteht, auch der innere Raum weitet sich – wir gewinnen „Durchblick“. Was war wichtig, worauf ist man stolz? Was ist einem nicht gelungen? Was soll in Erinnerung bleiben? Was sollen die, die man zurücklässt, vom Leben verstehen?

Jetzt geht es darum, wahrzunehmen und zugleich hinter uns zu lassen, was uns an Vergangenheit oder Gegenwart „kleben“ lässt, und so zu innerer Freiheit zu finden. Es geht darum, dass wir von Barrieregefühlen frei werden, schreibt die Theologin Sabine Bobert – von Gefühlen wie Hass, Angst, Wut, Neid, Lähmung und Zweifel. Solche Gefühle entfremden uns voneinander und von uns selbst; sie schneiden uns von unserer Wesensmitte ab – und auch von der Gotteserfahrung. Im Alltagsstress unterdrücken wir sie oft – aber bei einer Krankheit oder im Urlaub, wenn plötzlich Zeit und Raum dafür ist, werden sie dann wach. Und im Alter können die alten Gespenster noch einmal richtig munter werden. Dann kann es helfen, noch einmal den Weg nach innen zu gehen und sich in Erinnerung zu rufen, woher die versteckte Wut und die Bitterkeit rühren, die uns noch immer blockieren. Die alten Gefühle „wollen uns keine Angst einjagen; vielmehr wollen sie endlich in Rente gehen“, schreibt Brigitte Hieronimus in ihrem Buch „Mut zum Lebenswandel“. Situationen und Menschen, die uns schwierige Erfahrungen in Erinnerung rufen, nennt sie „Entwicklungshelfer“, weil sie dazu beitragen, das Blockierte in uns zu lösen. Und Annelie Keil schreibt: „Sich der eigenen Lebenserfahrungen bewusst zu werden, alte Gedanken und Gefühle wie neue Bündnispartner verstehen zu lernen, sich im Sterben zusammen mit Menschen, die einem wichtig sind, dem Gelebten wie dem Ungelebten zuzuwenden, ist die palliative Selbstsorge, die wir brauchen, um in Würde Abschied zu nehmen. Auch die palliative Fremdsorge und die professionelle Betreuung brauchen eine historische und biographische Bewusstheit.“

Offenbar ist gerade diese Phase voller Entwicklung – wie wohl sonst nur der Beginn des Lebens, an den wir uns nicht erinnern. Noch einmal steht ein Lernprozess an, der uns helfen kann, Gottes verborgene Gegenwart wieder zu spüren. Versäumtes zu verabschieden und Es geht darum, zu reifen und zu vergeben“, sagt der Jesuit Piet von Bremen: „Vom Zustand des passiven Opfers ohne Kontrolle über die Gefühle hin zur Einsicht, dass wir selbst die Quelle unserer Gefühle sind. Vergebung ist die langsam wachsende Einsicht, dass wir den anderen Menschen nicht unter Kontrolle haben können.“ Und das Leben auch nicht – so wenig wie den Tod.

In Seelsorge, Besuchsdienst und Verlorenes zu betrauern – Kinderlosigkeit oder der Verlust eines Lebenstraums sind eben nicht einfach „reparierbar“. Die Dinge noch einmal aus der Sicht unserer Widersacher zu sehen. „Hospizarbeit dürfen wir Menschen in diesem Prozess begleiten – hin zu der „Altersweisheit“, die wir ganz aus dem Blick verloren haben. Wer einem älteren Menschen zuhört, sich auf dessen Zeit und Zeitwahrnehmen einlässt, wer der einen Sterbenden begleitet, tut auch etwas für sein eigenes Leben. So wie umgekehrt jeder, der seinem Begleiter, der Begleiterin das eigene Leben anvertraut, ihn beschenkt – mit anderen Zeiterfahrungen, ungeahnten Möglichkeiten, ehrlichen Aussagen über Scheitern und Sackgassen. Das Alter bringt einen unschätzbaren Gewinn: ein Reservoir an Erfahrungen und die Möglichkeit, mit Distanz darauf zu schauen. Wenn uns jemand daran teilhaben lässt, können wir lernen, was für uns selbst wesentlich ist.

Gemeinden können dafür sorgen, dass diese Erfahrungen Raum bekommen, Resonanz finden. Dabei helfen ganz praktische Schritte und Angebotsstrukturen: Erzählcafés zum Beispiel, biographisches Schreiben oder Feste, bei denen das Leben der Älteren im Mittelpunkt steht. Es geht um mehr als um Besuchsdienste in Einrichtungen der Altenhilfe, in den Häusern der Nachbarschaft – es geht ganz generell um Räume, in denen die Älteren zum Subjekt werden und geben können. Wer keinen Platz im Leben der anderen mehr hat, wer nicht mehr geben kann, der muss sich überflüssig fühlen. Das kann ein Samstagnachmittag sein, an dem Konfirmanden und ihre Großeltern über ihre Konfirmationssprüche ins Gespräch kommen. Oder ein Jubiläum, bei dem der Älteren gedacht wird, die die Gemeinschaft aufgebaut haben. Kirchengemeinden haben viele Möglichkeiten, Strukturen zu schaffen, in denen Menschen gewürdigt werden und sich austauschen – auf Augenhöhe im Geben und Nehmen.

„Was noch erzählt werden muss“, heißt das jüngst erschienen Buch des Magdeburger Krankenhausseelsorgers Hans Bartosch. Die Lebensgeschichten, die darin aufgeschrieben sind, sind Beiträge zur Zeitgeschichte. In den Begegnungen wird deutlich, wie kostbar jeder einzelne Beitrag ist, welche Bedeutung die Einzelnen haben. Die meisten, die hier zur Sprache kommen, sind Atheisten oder doch Agnostiker – und doch schätzen sie, dass da einer ist, der genau ihre Geschichte hören will. Als werde sie noch einmal aufgezeichnet in Gottes Buch. Viele Menschen ahnen noch, dass Christinnen und Christen einen Deutungshorizont haben, der über das eigene Leben hinausgeht. Und uns helfen kann, auch dem einen Ort zu geben, was uns ängstigt.

Jeder, der das letzte Kapitel des eigenen Lebens bewusst gestalten will, sollte die notwendige Unterstützung bekommen, um die eigene Geschichte zu erzählen, Beziehungen abzuschließen, das eigene Vermächtnis weiter zu geben, und denen, die bleiben, Segen zu hinterlassen. Immer mehr Bestattungen finden nur noch in ganz kleinem Rahmen statt; die Zahl der anonymen Beisetzungen nimmt zu, Traditionen zerfallen. Zugleich aber denken immer mehr Menschen nicht nur über ihr Sterben, sondern auch über ihre Beerdigung nach, gestalten die Todesanzeige und das Fest im Voraus. „Wenn ich die Chance dazu bekomme, möchte ich gern auf meiner eigenen Trauerfeier etwas sagen – per Video, wie das ja längst möglich ist“, schreibt die Journalistin Christine Westermann, die dieses Jahr 70 wird. „Chance heißt, wenn ich bewusst sterben kann. Wenn abzusehen ist, dass mein Leben zu Ende geht. Ich möchte etwas dazu sagen, wie es war, mein Leben zu leben. Meine Pläne für mein Begräbnis sind weit gediehen. Die Musik ist noch ein unsicherer Faktor, sie wechselt von der Fledermausouvertüre über das Trinklied aus La Traviata bis hin zu Eric Claptons „Autumn leaves“ – ein Lied, das mich zu Lebzeiten zu Tränen rührt. Und wenn alle Tränen geweint sind, soll es fröhlich und ausgelassen zu gehen bei meinem Leichenschmaus.“

Der Prozess des Abschiednehmens verändert sich. Traditionen gehen verloren, zugleich aber werden die Rituale individueller, bunter und phantasievoller. Manche wagen es wieder, ihre Lieben zu Hause aufzubahren. Andere möchten die Asche an einem geliebten Ort verstreuen. Und wieder andere halten ein Festmahl draußen im Garten. Trauercafés auf dem Friedhof entstehen, Spielplätze werden dort geschaffen. Damit das gelingt, müssen Ängste überwunden und Tabus abgebaut werden. Pfarrerinnen und Pfarrer können daran arbeiten, dass andere Gemeindemitglieder ermutigt werden. Sie können ihr Expertenwissen weitergeben – ganz im Sinne des Priestertums aller getauften. Die Autorin Petra Schuseil hat mit ihrer Freundin einen Totenhemd-Blog ins Netz gestellt – und die wiederum hat sich eine bunte Patchwork-Totendecke nähen lassen mit all den Symbolen des Lebens, die ihr wichtig waren. Nicht weiß und anonym wie die Hemden der Bestatter. Der Liedermacher Martin Buchholz hat die Besucher seiner Konzerte gebeten, Augenblicke des Glücks auf einer Postkarte aufzuschreiben und ihm zu schicken. In dem Buch „Tage mit Goldrand“ findet sich eine inspirierende Auswahl. Kathrin Fester, eine Malerin, hat die blinde 106-jährige Frieda Mayer–Melikowa in einem Seniorenheim gezeichnet „Ich empfinde meine Bilder als meine persönliche Würdigung des Lebens von Frau Mayer-Melikowa“, sagt Kathrin Feser, „eine Würdigung, die ihr in den langen Jahren ihres Lebens nicht zugekommen ist. (…) Vielleicht wird ja eines Tages eine ganz besondere Zeichnung entstehen und man wird sagen: Das war Frau Mayer-Melikowa. Sie ist sehr alt geworden und sie hat sehr viel in ihrem Leben durchgemacht. Aber sie hat an ihrem Glauben festgehalten. Und sie war ein liebenswerter Mensch.“

Jeder und jede kann mit den eigenen Gaben dazu beitragen, dass sorgende Gemeinschaften entstehen. Musik gehört genauso dazu bei einem guten Essen, die Spiele der Kinder so wie die Blumen der Nachbarin und die Seelsorge. Aus all dem bildet sich ein gemeinsamer Spirit, in all dem wohnt die Geistkraft – die spirituelle Quelle der sorgenden Gemeinschaften und eine der ganz großen Stärken unserer Kirchengemeinden. Hier ist Raum zu entdecken, dass keiner mit dieser Situation allein ist und allein bleiben muss. Ein Ort, gemeinsam zu lernen.

Cornelia Coenen-Marx, Zürich, 12.09.2018

 

Literatur:
Bartosch, Hans, Was noch erzählt werden muss – Zeitgeschichte am Krankenbett, Frankfurt 2018
Bauer, Monika/ Colditz, Jens: Die Weisheit baut Ihr Haus. Leben und Religion im Älterwerden – Nürnberg 2015
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Der Siebte Altenbericht der Bundesregierung. Sorge und Mitverantwortung in der Kommune Aufbau und Sicherung zukunftsfähiger Gemeinschaften, Berlin 2016. Broschüre zu Themen und Zielen des Siebten Altenberichts im Internet: https://www.siebter-altenbericht.de/index.php?eID=tx_nawsecuredl&u=0&g=0&t=1478256145&hash=e061c4e0e9811a8655963338a9ee22eb59bb0cd7&file=fileadmin/altenbericht/pdf/Broschuere_Themen_Ziele_Siebter_Altenbericht.pdf
Coenen-Marx, Cornelia: Noch einmal ist alles offen- Das Geschenk des Älterwerdens. München 2016
Deutsches Zentrum für Altersfragen: Deutscher Alterssurvey 2014. Zentrale Befunde, Berlin 2016. Kurzfassung im Internet: https://www.dza.de/fileadmin/dza/pdf/DEAS2014_Kurzfassung.pdf
Fürst, Walter u.a. (Hg): Selbst die Senioren sind nicht mehr die alten. Praktisch-theologische Beiträge zu einer Kultur des Alterns, Reihe: Theologie und Praxis Bd. 17, Münster 2003
Gawande, Atul, Sterblich sein, Frankfurt 2015
Keil, Annelie u. Scherf, Henning: Das letzte Tabu: Über das Sterben reden und den Abschied lernen, Freiburg 2016
Klie, Thomas, Wen kümmern die Alten. Auf dem Weg zu einer sorgenden Gesellschaft, München 2014
Kruse, Andreas, Lebensphase hohes Alter, Verletzlichkeit und Reife, München 2017
Kruse, Andreas: Der Ältesten Rat. Generali Hochaltrigenstudie: Teilhabe im hohen Alter. Eine Erhebung des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg mit Unterstützung des Generali Zukunftsfonds                                                                                                                                   PDF im Internet: http://www.uni-heidelberg.de/md/presse/news2014/generali_hochaltrigenstudie.pdf
Simonson, Julia und Claudia Vogel und Clemens Tesch-Römer (Hrsg.): Freiwilliges Engagement in Deutschland – Der Deutsche Freiwilligensurvey 2014. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin 2016. Kurzfassung im Internet: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/freiwilliges-engagement-in-deutschland-/96254