Ein Zelt in der Wüste

eine Herberge am Weg: Gastfreundschaft als diakonische Tradition

1. Die neue Willkommenskultur

Den starken Bildern kann sich keiner entziehen: Flüchtlingsfamilien, die unter einem Grenzzaun an der ungarischen Grenze hindurchkriechen. Verzweiflung und Gewalt am überfüllten Bahnhof in Budapest. Ein Zug mit durstigen Menschen, im Niemandsland abgestellt. Erschöpfte Familien, in einem ein-Kilometer-langen Marsch zu Fuß in Richtung Österreich unterwegs. Germany-Rufe, immer wieder. Viele fühlen sich an das europäische Picknick 1989 in Ungarn erinnert, an das große Glück über die Öffnung der Grenzen. Jetzt sehen wir die andere Seite: die Angst vor der Öffnung der Grenzen.

Und hier in Deutschland erleben wir beides: „Welcome to Germany“ am Münchner Hauptbahnhof, engagierte Bürgerinnen und Bürger, die Lebensmittel, Kleidung, Matratzen für die Auffanglager sammeln. Gemeinden, die ihre Häuser öffnen. Nachbarn, die Flüchtlinge in ihrer Wohnung beherbergen. Gastfreundschaft im besten Sinne. An jedem Ort, in jeder Gemeinde solle wenigstens eine Familie aufgenommen werden, sagt Papst Franziskus. Und auch das andere: die Aufmärsche der Ängstlichen , die Bedenken der Identitären, die überlegen, wer in unsere Kultur passt und wer nicht. Wo die Grenze der Aufnahmebereitschaft ist, wo die Überfremdung beginnt.

Die Tatsache, dass das Thema manches Mal zwei Drittel der Nachrichten beherrscht, zeigen eine deutliche Erschütterung und auch Verunsicherung: Wieder einmal geht es um nicht weniger als die Werte und die Zukunft Europas. Noch einmal wie 89 wird ein Vorhang vor unseren Augen weggezogen, wird unser politischer Horizont geöffnet – diesmal nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen Nord und Süd. Ein neuer Blick fällt auf die Anrainerstaaten am südlichen Mittelmeer, dem Nahen Osten, Afrika. Auf unsere Nachbarn, die wir lange gar nicht als solche wahrgenommen haben. Mit ihrer Ankunft in unserem Europa kommen wir selbst noch einmal ganz neu in der Globalisierung an. Denn da kommen ja die Flüchtlinge aus unseren Kriegen, junge Leute, die unsere Werte teilen – die sich Bildung, Wohlstand, Freiheit wünschen.

Die Willkommenskultur zeichnet uns aus – aber er fordert unser Land heraus. Heinz Bude hat neulich vorgetragen, was dem entgegensteht, woher der Widerstand rührt. Er hat sich mit den Hintergründen der Angst und mit den Motiven der neuen rechten Parteien, der Identitären und Nationalen in Europa beschäftigt. „Nichts gegen eine Quote zur Aufnahme von Flüchtlingen“, hat Marine Le Pen diese Woche gesagt – „wenn sie denn für Frankreich bei 0 ist“. Die politische Rechte in Dänemark, dem – wie Forscher festgestellt haben – glücklichsten Land Europas, grenzt sich vor allem vom politischen Islam ab und geht zugleich einher mit der Verteidigung des Wohlfahrtsstaats und der politischen Freiheitsrechte. Bude hat festgestellt, dass es nicht nur die Geringverdiener und Abgehängten sind, die sich in den neuen rechten Bewegungen sammeln, sondern auch Menschen, denen es in den letzten 20, 25 Jahren endlich besser ging und die ihren Wohlstand nun gefährdet sehen. Und schließlich sogar angeblich weltoffene Leistungsträger mit mittleren Berufsabschlüssen, die gleichwohl das Gefühl haben, unter ihren Möglichkeiten geblieben zu sein – die „Verbitterten“, wie er sie nennt – die nun mit jungen Leuten voller Energie und Hoffnung konfrontiert werden.

Bude, der gerade ein Buch über die Gesellschaft der Angst[1] geschrieben hat, spricht in diesem Zusammenhang von einem „heimatlosen Antikapitalismus“. Dahinter steht die diffuse Erfahrung, dass die sogenannten Märkte nicht nur den Wettbewerb um Produkte, Dienstleistungen, Arbeitsplätze antreiben, sondern inzwischen auch auf Lebensbereiche übergreifen, die bislang öffentlich und solidarisch organisiert waren. Von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wird erwartet, dass sie ihre Arbeitskraft mobiler und flexibler auf den Markt bringen, während zugleich unterstützende Systeme wie Bildung und Gesundheit, Wohnungswirtschaft und Energie, Bahn und Post privatisiert werden – was zum Teil zu Mehrkosten und damit zu Zugangsbeschränkungen für ohnehin benachteiligte Gruppen führt. Gleichzeitig wächst die Konkurrenz zwischen den Standorten – um Produkte, aber auch um Dienstleistungen. Konkurrenz belebt das Geschäft, heißt es – aber sie schwächt auch die Solidarität, und es nimmt nicht Wunder, wenn zuletzt auch schutzbedürftige Flüchtlinge als Konkurrenten um Sozialleistungen wahrgenommen werden. Es käme darauf an, zu einer gemeinsamen Deutung der Lage zu kommen, meint Bude – und gemeinsam darüber nachzudenken, wie sich soziale Gerechtigkeit in einer pluralen und offenen Gesellschaft entwickeln kann. Die Einsicht, dass es notwendig ist, Wohlstand zu teilen, wird solange nur schwer gehört werden können, wie die soziale Schere immer mehr aufgeht und eine kleine Schicht von Eignern und Erben die Wachstumsgewinne unter sich ausmachen.

Der Zusammenhalt, den die Solidarität schafft, steht also auf dem Prüfstand. Unser Wohlstand aber ist auf der Solidarität, die nach dem zweiten Weltkrieg ganz unterschiedliche Schichten in diesem Land verband. Davon lebt die Struktur der sozialen Sicherungssysteme. Wir alle können krank, alt, pflegebedürftig, arbeitslos werden – auf dieser Einsicht gründen sich Versicherungen und Genossenschaften. Solidarität ist in der Lage, das Gemeinsame, das Kollektive in einem individuellen Schicksal zu sehen. Nach dem Motto: „Glaube nicht, dass nur Dir passiert, was Dir passiert“. Wer anerkennt, dass er mit anderen, auch mit Fremden ein gemeinsames Schicksal teilt, wird bereit sein, auch materielle Güter zu teilen, anderen Hilfe zuteilwerden zu lassen, wenn sie in Not sind, anderen Chancen zu eröffnen, damit sie teilhaben. Entscheidend ist, dass wir eine gemeinsame Sorge teilen, gemeinsame Projekte nach vorne bringen wollen, und schließlich, dass wir wissen, wofür und wogegen es einzustehen lohnt. Gelingen kann das nur, wenn wir einen offenen Blick dafür haben, wie Gesellschaft sich verändert – zum Beispiel im Blick auf den demographischen Wandel.

Wo Solidarität bedroht ist, gibt es eine zweite, eine spontane Kraft, die Zusammenhalt schafft: die Gastfreundschaft. Anders als die große gesellschaftspolitische Idee der Solidarität rückt uns Gastfreundschaft sehr nah – sie hat mit unserer unmittelbaren Erfahrung zu tun, sie führt in unser Haus und in unseren Alltag. Der Rahmen ist kleiner gesteckt; die Herausforderung vielleicht noch umfassender. Auf der Suche nach den Grundlagen und Herausforderungen einer neuen Willkommenskultur – gerade auch für unsere Kirche – ist die Gastfreundschaft in den Mittelpunkt gerückt. Auch deshalb, weil sie tiefe Wurzeln hat in Kirche und Diakonie. Davon will ich jetzt sprechen; ich werde aber am Ende noch einmal auf die Solidarität zurückkommen.

 

2. Fremdenzimmer, Klöster und Hospize

Vor einiger Zeit erhielt ich einen Brief von einem alten Freund meines verstorbenen Vaters. Er erzählte, wie dankbar er meinen Eltern sei, dass sie ihm in den 50er Jahren angeboten hätten, seine beiden Kinder für eine Weile in unsere Familie aufzunehmen, als er mit seiner Frau auf eine Missionsstation nach Indonesien ging. Es kam dann nicht dazu – die beiden reisten mit der ganzen Familie aus – und ich wusste nicht einmal etwas davon, schließlich war ich selbst noch klein – aber gewundert hat mich dieser Brief nicht. In meinem Elternhaus war es normal, dass Gäste aus dem Ausland, Pflegekinder oder auch pflegebedürftige Menschen eine Weile mit uns lebten – manchmal auch für ein ganzes Jahr. Dafür gab es in dem alten Pfarrhaus zwei kleine Einliegerwohnungen und auch ein großes Fremdenzimmer. Das hieß in meiner Kindheit noch so, bevor es dann von Gästezimmern sprach. Ich kann mich kaum erinnern, dass dieser Raum, in dem sich auch eine kleine Familie unterbringen ließ, nicht belegt war und dass nicht Menschen mit ganz anderen Lebensgeschichten an unserem Mittagstisch saßen. Dabei spielte die Not vor Ort genauso eine Rolle wie die Situation in Argentinien oder in Südafrika: es kamen Gäste aus Krisengebieten, aber auch Menschen, die eine Familienkrise erlebten.

Die Haltung, die dahinter steht, ist mir später in der Mutterhausdiakonie wieder begegnet: Wann immer ich in Deutschland gereist bin und eine Übernachtung brauchte, fand ich dort nicht nur ein Hotelzimmer, sondern herzliche Aufnahme: mit einer lieben Karte, einer Schale Obst, einem Sträußchen Blumen. Nichts Großes – aber ein Zeichen der herzlichen Aufnahme. Eine geprägte Kultur. Sie kommt aus der Zeit, als reisende Schwestern, die nicht mehr hatten als ein Taschengeld, sich in der Familie der Mutterhäuser überall zu Hause fühlen sollten. Merkwürdigerweise geht es mir noch immer so: die Blümchen, die kleinen Karten senden mir das Signal: hier bist du zu Hause.

Freunden und Fremden ein Zuhause unterwegs zu bieten, war die große Tradition der Gemeinschaftsdiakonie. Friedrich von Bodelschwingh hat es auf den Punkt gebracht: „Das ist aller Gastfreundschaft tiefster Sinn, dass wir einander Heimat geben auf dem Weg nach dem ewigen Zuhause“. So verstanden sich auch Krankenhäuser und Herbergen für Obdachlose als Orte der Gastfreundschaft, wo Menschen auf ihrem Lebensweg Station machen und auftanken konnten. Wo sie Hilfe und Begleitung erfuhren, aber auch ganz einfach ein frisches Bett, ein sauberes Zimmer und einen gedeckten Tisch vorfanden.

Ich rede in der Vergangenheit und will damit andeuten, dass Kirche und Diakonie in den letzten Jahren darum kämpfen, diese Haltung wieder zu gewinnen. Sie drohte verloren zu gehen unter ökonomischem Denken und der Abgrenzung von Einrichtungen, Abteilungen und Budgets, aber auch unter der Privatisierung von Kirche und der Professionalisierung der Diakonie. Unsere Pfarrwohnungen, oft schon privatisiert, sind zu klein geworden für solche Fremdenzimmer. Obdachlose und Pflegekinder werden dort längst weiter verwiesen an die entsprechenden diakonischen Fachstellen. Und unsere Krankenhäuser trennen genau zwischen DRGs und Hilfemodulen auf der einen und Hotelkosten auf der anderen Seite. Es waren oft genug ehrenamtlich Engagierte, die uns den Wert der Gastfreundschaft nachdrücklich in Erinnerung gerufen haben. Cecily Saunders und die Hospizbewegung machten deutlich, dass es nicht genügt, Sterbende so lange wie möglich zu therapieren und medizinisch zu versorgen, sondern dass es im Sterben auch um Begleitung, um Dasein, um wache Aufmerksamkeit geht. Streetworker traten dafür ein, dass auch diejenigen, die keine eigene Wohnung haben, einen Ort brauchen, an dem sie ihre Wäsche waschen, ihre Kontakte pflegen, einen gedeckten Tisch finden und vor allem einfach als Menschen unterwegs wahrgenommen werden – wie jeder von uns, wenn wir eine Autobahnraststätte aufsuchen. Und im Augenblick organisieren Ehrenamtliche Laptop-Stationen für Flüchtlinge, damit sie Kontakt zu ihrer Familie halten und all die Informationen bekommen und weitergeben können, die ihre Zukunft sichern. Weil das so wichtig sein kann wie ein Lebensmittelpaket.

Engagierte Bürgerinnen und Bürger waren nötig, um unsere professionalisierte Arbeit an ihre eigenen Wurzeln zu erinnern – zugleich aber lernen wir von anderen professionellen Dienstleistern, was Kundenbindung und professionelle Beziehungsgestaltung wirklich heißt. Auch da geht es um mehr als um Programme, Pauschalen und Module – es geht eben auch um Atmosphäre und Kultur. Gastfreundschaft habe ich bei meiner Friseuse und im Familienhotel erlebt, als mein Vater starb: einen Ort, an dem ich willkommen war und versorgt wurde, wo ich mich sicher fühlte und alle Anforderungen für eine Zeit außen vor blieben. Hotels, Restaurants, Dienstleister verstehen es als gute Dienstleistung, die Bedürfnisse ihrer Kunden wahrzunehmen und dafür zu sorgen, dass sie sich unterwegs wohlfühlen. Und dabei kommt es nicht darauf an, wer der andere ist und woher er kommt.

Diakonische Einrichtungen verstanden ihre Häuser als Hospize, längst bevor dieser Name für christliche Hotels und dann für die Sterbebegleitung genutzt wurde. Klöster waren Orte der Immunität, wo nicht nur Kranke, sondern auch Verfolgte sicher sein konnten, wie wir es in den letzten Jahrzehnten im Kirchenasyl wieder entdeckt haben. Dahinter steht die Überzeugung, dass wer an meine Tür klopft, in einem tieferen Sinne Bruder oder Schwester ist. Nicht nur das Objekt meiner Hilfe, auch nicht nur mein Kunde, – obwohl auch Klöster in ihrer Zeit Beherbergungsbetriebe waren – sondern ein Mensch mit einer Geschichte, der vielleicht ein offenes Ohr und einen Ort zum Mitleben braucht – vielleicht aber auch nur einen Teller Suppe und ein Nachtlager, bis er mit neuer Kraft weiter ziehen kann.

Der holländische Theologe Jan Hendriks[2] hat dieses Modell in den 1980er Jahren auf die Kirchengemeinden übertragen: er versteht Gemeinde als Herberge. In einer Welt, in der das Unterwegssein für viele zur Selbstverständlichkeit geworden ist, könnten Kirchengemeinden zu Herbergen am Weg werden, meint er. Als Karawansereien sozusagen, in denen Menschen einander begegnen, ihre Geschichten teilen, sich füreinander einsetzen und einander auf diese Weise ein Stück Heimat geben. Wo diese Art von offener Begegnung stattfinde, würden nicht nur die individuellen Lebensgeschichten, sondern auch die gesellschaftlichen Zerreißproben spürbar – zugleich aber etwas von der Nähe Gottes. Ich muss zugeben, dass ich noch nicht viele Gemeinden so offen erlebe – viele fragen laut oder leise nach Zugehörigkeit, nach Dauer und Stetigkeit des Engagements und schließen damit die Suchenden eher aus. Aber all die offenen Stadtkirchen, die Stadtteilläden und Vesperkirchen, die Diakonieläden in den Quartieren wollen genau das sein: Herbergen am Weg. Dort ist zu erleben, dass heute gerade über das Engagement Heimat und Zugehörigkeit wachsen.

An solchen Orten zu arbeiten, ist ein Abenteuer. Ich jedenfalls habe meine Arbeit im Wickrather Gemeindeladen in den 80er Jahren so erlebt: Im Café und in der Kleiderkammer, bei den Gesprächsreihen und Aktionen kamen die Lebensgeschichten zu Gehör, die normalerweise in der Kleinstadtgemeinde verschwiegen wurden. Die Not der Arbeitslosen und Hartz-IV-Familien, die Diskriminierung und die Kultur der Roma, die Einsamkeit der pflegenden Angehörigen und einsamen Alten, die religiösen Fragen der Frauen, die einen Mann aus der türkischen Gemeinde geheiratet hatten. Im Gemeindeladen, der zugleich offene Tür und geschützter Raum war, ließ sich ahnen, wieviel Unbekanntes, Unausgesprochenes, wieviel Fremdes es mitten in dieser scheinbar so heilen und harmonischen Mittelschichtgemeinde gab. Wie viele Menschen darauf warteten, gehört und beteiligt zu werden. Gastfreundschaft sei immer ein Abenteuer, meint Heinz Bude. Gefragt sei der Mut, im Eigenen dem Anderen zu begegnen – dem Bruder eben, der Schwester, Menschen, die ganz andere Erfahrungen gemacht haben, anders denken, sich selbst, die Gesellschaft und auch Gott anders verstehen und die mich mit ihren Fragen und ihrer Kritik auch selbst in Frage stellen.

 

3. Regeln und Grenzen der Gastfreundschaft

Gastfreundschaft braucht Mut, sie beinhaltet ein Risiko, denn es geht ja darum, den Fremden wie einen Freund aufzunehmen – diese Überlegung hat mich dazu gebracht, noch einmal tiefer zu graben und nach den Regeln und Grenzen der Gastfreundschaft in der Antike zu fragen. Denn natürlich ist Gastfreundschaft nicht nur eine christliche Kulturleistung – sie reicht weit dahinter zurück in die Geschichte und weit darüber hinaus in andere Religionen. Homers Odyssee erinnert in ihren Erzählungen an die Regeln der Xenia, der Gastfreundschaft bei den alten Griechen – einem strikten Verhaltenskodex zwischen Gastgeber, Gast, Fremdem und Schutzflehenden. Sie zu verletzten, bedeutete Frevel gegenüber den Göttern. Schließlich könnten sich die Fremden sich ja selbst als verkleidete Götter erweisen. Fremde aufzunehmen aber war ein Akt der Frömmigkeit. Eine Vorstellung, die auch der Hebräerbrief aufnimmt; dort heißt es: „Gastfrei zu sein, vergesst nicht – haben doch einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt“.[3] Vielleicht ist dabei auch an die Geschichte von Abraham und Sara gedacht, die im Hain von Mamre drei Fremde als Gäste empfangen, ihnen die Füße waschen und den Tisch decken und erst viel später begreifen, dass im gemeinsamen Essen Gott selbst gegenwärtig war – nicht zuletzt in der Zumutung dessen, was sie ihnen verheißen haben.

Zur Xenia gehörte dann im alten Griechenland auch, dass ein guter Gastgeber seinem Gast ein Bad bereitet, er stellt ihm frische Kleider zur Verfügung und bereitet ihm ein Mahl, das dem Reichtum seines Hauses angemessen ist. Außerdem wird von ihm erwartet, dass er dem Fremden die Möglichkeit gibt, ein Opfer für seine sichere Weiterreise darzubringen. Und schließlich endet die Beziehung nicht mit der Abreise: Gast und Gastgeber, ja, sogar ihre Nachkommen, sind einander nun lebenslang in einer Beziehung der Gastfreundschaft verbunden. Sie verpflichten sich, sich gegenseitig so zu behandeln, als seien sie verwandt. Dazu gehört, keine der Frauen des Hauses zu verführen und sich in Konflikten und Kämpfen auf die Seite des Gastfreundes zu schlagen. Kriege wie der trojanische Krieg sind ausgebrochen, weil genau diese Regeln nicht eingehalten wurden.[4]

Insofern geht es bei der Entwicklung einer gastfreundschaftlichen Willkommenskultur um mehr als um das Sammeln von Kleidung, Lebensmitteln und Matratzen, auch um mehr als neue Wohnbauprogramme und Integrationsklassen: es geht darum, eine verwandtschaftliche Beziehung zu Menschen zu entwickeln, die uns fremd sind. Die Verschiedenheit zu würdigen und uns dabei als gleiche zu entdecken. In diesem Prozess werden wir auch die Grenzen erkunden müssen, die mit unseren Werten und unseren Vorstellungen von Würde gegeben sind. Dieser Tage habe ich ein Interview mit einem Berliner Studenten gehört, der einen illegalen Flüchtling in seiner Wohnung aufgenommen hatte. Er erzählte vom gemeinsamen Leben und Essen, von der Angst vor Abschiebung, die inzwischen beide spürten, aber auch von den Gesprächen darüber, welche Regeln in den alltäglichen Lebensgewohnheiten gelten sollten. Gespräche wie in jeder Wohngemeinschaft – bis auf eine Kleinigkeit, die mich besonders berührt hat: der junge Mann erzählte, dass sein Gast öfter ganz selbstverständlich seine Schuhe getragen hatte, obwohl er inzwischen gute eigene besaß. Eine Grenzüberschreitung? Jedenfalls eine Irritation, und damit die Notwendigkeit, zu klären, wie jeder von beiden Privates und Gemeinsames verstand und kulturelle Unterschiede auszuloten. Nur, wenn uns das gelingt, bannen wir die uralten Ängste vor der Heirat mit Fremden oder vor dem Eindringen feindlicher politischen Ideologien, die den Stoff für die rechte Agitation liefern. „Der Fremde entsteht, wenn in mir das Bewusstsein meiner Differenz auftaucht“ (wenn also das Gefühl, dass wir eigentlich gleich sind, irritiert wird), „und er hört auf zu bestehen, wenn wir uns alle als Fremde erkennen“, schreibt die französische Philosophin und Psychoanalytikerin Julia Kristeva in ihrem Buch „Fremde sind wir uns selbst“.[5]

 

4. Gottes Hausgenossen

Die antike Kultur der Gastfreundschaft ging davon aus, dass die Gäste uns Fremde bleiben – selbst dann, wenn wir in besonderer Weise mit ihnen verbunden sind. Die jungen christlichen Gemeinden aber gingen darüber hinaus. „So seid Ihr nun nicht mehr Gäste und Fremde, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen“, heißt im Epheserbrief.[6] Hier, mitten im Völkergemisch der ausgehenden Antike, finden wir Gemeinden aus den unterschiedlichsten ethnischen Gruppen und ökonomischen Schichten einander auf Augenhöhe begegnen wollten. Als Brüder und Schwestern um Christi willen. Julia Kristeva macht deutlich, was für eine ungeheure utopische Kraft in dieser Geschichte steckt. Die junge Kirche, schreibt sie „entsteht als eine Gemeinschaft von Fremden (von Außenseitern, Frauen, Handelsreisenden, Sklaven), an der Peripherie zunächst, dann innerhalb des griechisch-römischen Bollwerks selbst, vereint in einer Lehre, die die politischen und nationalen Strukturen in Frage stellt.“ Menschen aus unterschiedlichen Völkern und Nationen bilden eine neue Gemeinschaft unter dem Namen und in der Nachfolge des Menschensohns, der Bruder aller geworden ist. „Da ist nicht mehr Grieche, Jude, Beschnittener, Unbeschnittener, Nichtgrieche, Skythe, Knecht, Freier, sondern alle und in allen Christus“, heißt es im Kolosserbrief.[7]

Dieser christliche Messianismus ist in der hebräischen Bibel zutiefst verankert. Da alle Menschen nach Gottes Bild geschaffen sind, bezieht sich das Gebot der Nächstenliebe eben nicht nur auf den unmittelbaren Nächsten der eigenen Familie oder desselben Volkes, sondern auf den anderen Menschen, den Gott liebt – deshalb gilt die gleiche Formel in Israel auch für den Fremden. Dabei wird Israel an die eigene Fremdheit erinnert: „Die Fremdlinge sollst Du nicht bedrängen und bedrücken; denn ihr seid auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen“, heißt es im Buch Exodus.[8] Und die Geschichte der Moabiterin Ruth zeigt anschaulich, was es für unsere jüdisch-christliche Geschichte bedeutet, dass eine Fremde durch Einheirat die Zukunft einer jüdischen Familie und damit des Volkes sichert; nicht umsonst hat diese Ruth einen Ehrenplatz im Stammbaum Jesu. Lange vor der griechischen Philosophie und dem durchaus kosmopolitischen Stoizismus bekräftigt der Universalismus der Propheten von Amos bis Jeremia nachdrücklich die Vorstellung, dass die ganze Menschheit in ihrer wahren Würde zu achten ist. Arme, Witwen, Waisen, Knechte und Fremde sollen in Israel die gleiche Gerechtigkeit erfahren. „Hat nicht auch ihn erschaffen, der mich im Mutterleib erschuf, hat nicht der Eine uns im Mutterleib bereitet?“, heißt es bei Hiob[9]. „Kein Fremder durfte draußen zur Nacht bleiben, sondern meine Tür tat sich dem Wanderer auf“. Das hebräische Wort für Fremder (guer), das hier verwandt wird, bedeutet wörtlich: „Der gekommen ist, (mit Euch) zu leben“.

Das ist die Wurzel, aus der die Hospize stammen, in denen schon in der frühen Kirche Pilger wie Arme und Fremde in gleicher Weise Gastfreundschaft erfahren. Es sei hier aber nicht verschwiegen, dass auch diese großartige Tradition schon bald unter der Angst vor Überfremdung enger wurde: schon im 4. und 5. Jahrhundert, mit dem Vordringen und der Ansiedlung der germanischen Völker im römischen Reich, werden Pilgerpässe bzw. Pfarr- und Bischofsbriefe eingeführt, die beurkunden, dass der Fremde ein christlicher Bruder ist. Dass der Verantwortungshorizont heute wieder weiter gezogen werden muss, weit über einen engen institutionellen Bezug hinaus, das hat unsere Kirche spätestens im 3. Reich neu gelernt. „Unser Verhältnis zu Gott ist kein religiöses zu einem denkbar höchsten, mächtigsten, besten Wesen – dies ist keine echte Transzendenz“, schreibt Dietrich Bonhoeffer, sondern unser Verhältnis zu Gott ist ein neues Leben im Dasein für andere, in der Teilnahme am Sein Jesu. Nicht die unendliche, unerreichbaren Aufgaben, sondern der jeweils gegebene erreichbare Nächste ist der Transzendente.“[10]

 

5. Nächstenliebe kennt keine Grenzen – ein Blick auf die Stadt

„It takes a village“: der Slogan von Hillary Clinton hat viel bewegt – auch in unserem Land. In den Tageseinrichtungen für Kinder, in der Kinder – und Jugendhilfe, in der Familienarbeit nahm man ihn auf: Es braucht ein Dorf, um ein Kind zu erziehen. Mütter und Väter, Lehrerinnen, Erzieher, Sporttrainer und Einzelhändler, Ärztinnen, Paten und die alte Frau am Kiosk – ein ganzes Dorf eben. Keiner kann ein Kind allein erziehen; ein Netzwerk von Verbündeten muss an die Stelle der Großfamilien treten. It takes a village: ein Bündnis für Familien, eine inklusive Schule, eine alternsgerechte Stadt – nur gemeinsam können wir für Inklusion eintreten. Das ist die Idee der Stadtteilarbeit und auch die von „Kirche findet Stadt“, dem ökumenischen Projekt für Gemeinwesendiakonie.

Eines der Leuchtturmmodelle von „Kirche findet Stadt“ ist die Diakoniekirche in Offenbach. Dort werden kirchliche und diakonische Handlungsfelder neu aufeinander bezogen: das Familienzentrum, basierend auf der Tageseinrichtung, ist der Knotenpunkt im Netzwerk Familienbezogener Dienste, das Beratungszentrum unterstützt die Einzelnen in ihren individuellen Notlagen und der diakonische Gemeindeaufbau zielt ganz auf Community Organising und interkulturelle Projekte. Denn die Diakoniekirche liegt im Mathildenviertel, wo Menschen aus 50 verschiedenen Nationen zu Hause sind. Hier ist es entscheidend, Barrieren in Sprache und Kultur abzubauen und deutlich zu machen, in welcher Weise das Miteinander der Religionen Vertrauen schafft. Viele machen dabei mit: AWO und Caritas, Schulen und interkultureller Arbeitskreis. So ist es auch in der Berliner Heilig-Kreuz: da ist die Kirche Diakoniezentrum geworden – mit einem geistlichen Raum in der Mitte, mit Cafés und Beratungsstellen und einem wunderbaren Kirchengarten. Ein Zentrum für Wohnungslose, für Engagierte in der Migrationsarbeit, für Eltern im Stadtteil mit einem Garten, der wie ein Klostergarten einen Ort der Stille und der Begegnung bietet.

It takes a village – das gilt nun erst Recht für die Integration von Flüchtlingen. Arbeitgeber und Deutschlehreinnen werden gebraucht, Ärztinnen und Sportvereine, Vermieter und natürlich auch die Kirchen. Das ganze Netzwerk der Gemeinwesendiakonie – und mittendrin auch und gerade die Kirche. Wenn Kirche wirklich den Blick auf die Stadt richtet – über die einzelnen Menschen hinaus auf die gesellschaftlichen Gruppen und Milieus, die Angebote und Strukturen, dann sieht sie, wie belastet die Kommunen wirklich sind. Und zwar nicht erst mit den Flüchtlingen. Die Bertelsmann-Studie zur Situation der Kommunen, die bereits im Frühjahr erschien, hat öffentlich gemacht, dass Sozialausgaben die Kommunen mit bis zu 58 Prozent des gesamten Haushaltsvolumens belasten. Nach langen Jahren der Debatte um einen neuen Finanzausgleich wurde endlich wahrgenommen, dass viele Kommunen kaum noch in der Lage sind, ihre Pflichtaufgaben in ausreichendem Maße zu erfüllen – geschweige denn, den wachsenden Erwartungen nachzukommen. Günstige Wohnungen werden gebraucht, Kitas und Schulen, die ganztätig eine qualifizierte Betreuung, Erziehung und Bildung leisten, möglichst angepasste Pflegeangebote, eine alternsgerechte städtische Infrastruktur, Beratung und Unterstützung in Krisen und nicht zuletzt öffentliche Orte, an denen sich Menschen begegnen können. Strukturen eben, mit denen die Schwierigkeiten der Einzelnen abgefangen werden können, die aber beitragen zu mehr Gleichheit und Gerechtigkeit und zu einem Miteinander auf Augenhöhe. Städte und Landkreise im Osten oder im Ruhrgebiet haben deshalb unter der Schuldenbremse längst die Notbremse ziehen müssen: Theater und Schwimmbäder geschlossen, Brunnen abgestellt, Verkehrs- und Energiebetriebe und auch den Wohnungsbestand verkauft und damit genau die öffentlichen Angebote und Räume zurück gefahren, die zur Begegnung und Beteiligung aller wichtig sind.[11] Die Konflikte, die sich beim Thema Flüchtlinge zum Teil auch ihr Ventil gesucht haben, zeigen, welcher Handlungsbedarf besteht – nicht zuletzt angesichts der Sparzwänge, die mit dem Stichwort Schuldenbremse verbunden sind.

Längst werden neue Formen der Kooperation zwischen dem öffentlichen und dem privaten Bereich, zwischen zivilgesellschaftlichen Initiativen, Kommune, Sozialversicherungen und Trägern sozialer Dienste gesucht, um Antworten zu geben auf die drängenden Bedürfnisse der Menschen, aber auch neue Chancen der Begegnung und der Teilhabe zu erhöhen. Damit solche neuen Konzepte funktionieren können, müssen einige wesentliche Voraussetzungen erfüllt sein. Beispielsweise müssen sich die Kommunen, die sozialen Dienste, die Wohnungswirtschaft, aber auch Verkehrsbetriebe und Einkaufszentren, Ärzte und Apotheken auf neue, ungewohnte Kooperationen einlassen. Und es muss Menschen geben, die die Bereitschaft, die Fähigkeit und die Zeit mitbringen, sich in Projekten zu engagieren. Dazu brauchen sie in der Regel auch professionelle Unterstützung – z.B. im Quartiersmanagement oder in einem Familienzentrum oder Mehrgenerationenhaus, vielleicht auch in der Kirchengemeinde. Gebraucht werden die Räume, wo alle Beteiligten sich treffen, die runden Tische und Bürgerplattformen, auf denen die Vermittlung organisiert werden kann. „Kirche findet Stadt“ kann deshalb nicht nur heißen, mit den eigenen Angeboten das Quartier in den Blick zu nehmen. Es geht auch darum, sich an die Seite der überforderten Kommunen zu stellen, wenn es um die Verteilung des Wohlstands in unserem Land geht.

Denn viel zu oft scheitern zivilgesellschaftliche Initiativen und Modelle der Quartiersarbeit daran, dass sie von Modellprogrammen und Projektmitteln wie vom starken Engagement einzelner leben und das die öffentlichen Mittel fehlen, die für eine stabile Strukturförderung sorgen. Hier und da habe ich erlebt, dass Kirchen an dieser Stelle einspringen können, wenn sie ihre Gemeindehäuser öffnen, ihre Stellen umstrukturieren, ihr Land an eine Wohnungsbaugenossenschaft verpachten. Solche Gemeinden profitieren von ihren mutigen Entscheidungen: in Lindlar, in Neumünster, in Offenburg und anderswo wachsen neue, starke Nachbarschaften. Durch das gemeinsame Engagement entstehen neue Bindungen, oft über die Grenzen traditioneller kultureller oder ethnischer Milieus hinweg. Gerade jetzt ist das nötiger als je.

Zentraler Bestandteil solchen Engagements ist in der Regel eine basisdemokratische, beteiligungsorientierte Entscheidungsstruktur. Darin liegt durchaus eine Herausforderung für die Kirche, die dann möglicherweise nicht mehr zentrale Steuerungsinstanz und Gastgeber im Gemeindehaus, sondern einfach Gast und Partner an einem runden Tisch ist. Die pluralistische Gesellschaft verändert nicht nur die Nachbarschaft der Gemeinden, sondern eben auch ihre Rollen – im Osten Deutschlands ist das allerdings ohnehin längst geschehen. Noch aber ist an vielen Orten der Widerstand groß.

 

6. Gemeinden als Caring Communities

Schon die ersten Kapitel der Apostelgeschichte – wir erzählen sie als Ursprungsgeschichte der Diakonie – berichtet, wie die Gemeinde Schranken überwindet: Bald gehören Sklaven und Frauen dazu, Armut ist kein Hindernis am Tisch des Herrn und Menschen mit Behinderung werden genauso einbezogen wie Migrantinnen und Migranten. Ein solches Miteinander, auch das erzählt die Bibel, muss aber auch immer neu erstritten werden: Wie heute gab es Spannungen zwischen Einheimischen und Migranten, zwischen den jüdischen Christen aus Jerusalem und denen, die aus der Fremde gekommen waren. Die einen sprachen hebräisch, die anderen griechisch. Diese Griechinnen und Griechen gehörten zur gleichen Gemeinde, aber so ganz gehörten sie doch nicht dazu. Auf beiden Seiten gab es Arme, aber auch hier, wie so oft, eine Hackordnung. Am schlechtesten ging es damals den griechischen Witwen. Frauen ohne Einkommen. Frauen, die einst eine ganze Familie versorgt haben, sich selbst jetzt aber nicht versorgen können. Migrantinnen zudem. Sie sitzen ganz unten an der Tafel, sie müssen von dem leben, was dort ankommt. Aber kaum einer schaut hin. Die Armut dieser Frauen bleibt unsichtbar.

Damals kommt Bewegung in die Geschichte. Denn die griechischen Männer empfinden die Ungerechtigkeit. Sie beklagen sich und ihr Ärger trifft auf offene Ohren. Endlich wird in der Gemeindeleitung überlegt, was geschehen muss, damit diesen Frauen Gerechtigkeit widerfährt. Die Benachteiligten brauchen Anwälte, die ihre Sache in die Hand nehmen. Und die Gemeinde braucht Diakone, Leute, die sich einfühlen können und für die Armen eintreten. Dass die griechischen Männer die Versorgung der Witwen zu ihrer Sache gemacht haben, war ein entscheidender Schritt. Jetzt werden sieben von ihnen als Diakone berufen. Die Apostelgeschichte erzählt, welche Kräfte frei werden, wenn Menschen bereit sind, für andere einzutreten, wenn Menschen, die am Rande stehen, integriert werden. Die griechischen Diakone werden Teil der Gemeindeleitung und sie beginnen, das Evangelium in ihrer eigenen Sprache zu predigen. Zugehörigkeit macht stark. Und Kirche wird stärker, wenn sie Vielfalt respektiert.

Was wir als Ursprungsgeschichte der Diakonie erzählen, ist in Wahrheit eine Geschichte vom Wachstum der Kirche. Und beides gehört zusammen – denn in der Verschränkung von Kirche und Diakonie liegt bis heute ein großes Potenzial – nicht nur, wenn es um Armuts- und Migrationsfragen geht. Diakonie kann ergänzen, was Kirchengemeinden oft fehlt: Sie bietet professionelle Dienstleistungen, größere Freiheitsspielräume, Unternehmensgeist zur Projektentwicklung, politisches Know-how. Das Gelingen von Gemeinwesendiakonieprojekten hängt davon ab, diese Kompetenzen zusammen zu bringen mit der Lebenswelt- und Sozialraumorientierung von Kirchengemeinden, mit der Kenntnis der Orte und ihrer Geschichte. Manchmal müssen wir uns ja selbst in Erinnerung rufen, welches Sozialkapital Gemeinden mitbringen – an Kontakten, Netzwerken und Beziehungen. Wir haben öffentliche Räume mit ungeheuren Möglichkeiten für Begegnungen, aber auch für Vermietungen. Gemeinden nehmen Flüchtlinge auf und bieten Kirchenasyl, sie organisieren Tafeln und Mittagstische, an denen gemeinsam gekocht wird. In vielen Fällen sind die Kirchen die letzten öffentlichen Orte, die zugänglich sind, ohne Eintrittsgeld zu bezahlen. Wo wir sie nicht mehr brauchen und nicht mehr tragen können, kann es richtig sein, gemeinsam mit anderen eine Trägerstruktur zu schaffen, wie es bei „Kirche findet Stadt“ hier und da geschehen ist.

Wichtiger noch als die Gebäude sind dabei die sozialen Netzwerke. Kirchen sind Agenturen für Gemeinschaft, wie Rosemarie Henel sagt, die als AWO-Mitarbeiterin beim Thema Inklusion mit einer Kirchengemeinde zusammenarbeitet, sie sind ein „Circle of support“. Manche fürchten inzwischen nicht zu Unrecht, dass Engagierte zum billigen Jakob eines überforderten Sozialstaats werden. Tatsächlich konnte man bei manchen Berichten aus den Flüchtlingslagern in diesen Tagen diesen Eindruck gewinnen. Und es mutete schon merkwürdig an, wenn im Kontext der Einführung des Mindestlohns immer wieder betont wurde, dass die 8,50 Euro nicht für Ehrenamtliche gelten. Tatsächlich gibt es aber längst eine Grauzone zwischen dem klassischen Ehrenamt und prekären Beschäftigungsverhältnissen mit Übungsleiterpauschale, Bürgerarbeit und Minijobs. Langzeitarbeitslose und Rentnerinnen mit kleinen Renten gehören zu denen, die es sich nicht leisten können, nur für Ehre und Anerkennung zu arbeiten. Aber auch wer ökonomisch nicht gut situiert ist, kann ein breites Netzwerk von Kontakten und eine vielfältige Erfahrung einbringen. Dabei spielen die sogenannten „jungen Alten“ eine besondere Rolle. Sie sind häufig lange am Ort beheimatet, sie kennen die Schlüsselpersonen und sind oft sozial und oft auch politisch engagiert, bringen breite Lebenserfahrungen und sind damit Teil einer neuen, generationenübergreifenden und gemeinwohlorientierten Bewegung. Sie sind es in diesen Tagen auch, die sich für Flüchtlinge engagieren, weil sie sich an eigene Fluchterfahrungen erinnern.

Eine 80-jährige aus meiner Nachbarschaft, die lange auch im Kirchenvorstand war, engagiert sich seit Jahren für die internationalen Gärten, wo Einheimische und Zugewanderte auf ihren Parzellen Obst und Gemüse pflanzen und einander Wissen weitergeben. Oft wird auch zusammen gekocht und gegessen. Daraus erwuchs die Initiative, ab und an ad-hoc einen gemeinsamen Mittagstisch zu organisieren – mit Mahlzeiten aus aller Herren Länder. Es braucht nicht viel für solche selbst organisierten Projekte: eigentlich nur tatsächlichen und ideellen Raum, wo Menschen ihre Fähigkeiten einbringen, einander zuhören und Geschichten erzählen und tun, was sie immer tun –nun aber gemeinsam. Kirchengemeinden tun gut daran, solche Projekte zu unterstützen, gleich ob es um einen Garten geht – warum nicht auf Kirchenland? –, um Hausaufgabenhilfe oder eine Integrationsklasse oder ganz einfach um das letzte Café am Ort.

 

7. Solidarität beginnt mit der Gastfreundschaft – in der Hoffnung auf Gottes neue Stadt

Wann immer ich in letzter Zeit an Quartierstagungen teilgenommen habe, wurden Karten gezeigt. Die Orte rücken neu ins Bewusstsein, mit ihrer Geschichte, ihrer Finanzierung, ihren Potenzialen. Vielen ist klar geworden: die Kirche gehört zum Quartier und sie prägt seine Geschichte und Atmosphäre mit – mit ihren Gebäuden, mit ihren Klängen, aber eben auch mit ihren Menschen und mit deren Hoffnungen und Träumen und ihrem Einsatz für eine gerechte Welt. Dieses Kapital ist ganz sicher noch wichtiger als die kirchlichen Immobilien und wichtiger als die Kirchensteuer – aber alles zusammen bietet großartige Voraussetzungen, um Solidarität zu leben, neue Formen der Gemeinschaftlichkeit für alle zu unterstützen. Dabei kann die Kirche – um es im Bild einer Filmproduktion zu sagen – Produzent oder Regisseur sein, sie kann aber auch Haupt- oder Nebendarsteller und sogar manchmal nur Komparse sein. Wichtig ist, dass sie in ihrer Motivation und ihrem Profil erkennbar bleibt“[12], heißt es in den 12 Kriterien der Gemeinwessendiakonie.

Zu unserem Profil gehört es, nicht nur Heimat zu geben, sondern auch selbst unterwegs zu sein. Viele wünschen sich, dass die Kirche im Dorf bleibt. Aber „wir haben hier keine bleibende Stadt“, wie es im Hebräerbrief heißt, sondern „die zukünftige suchen wir“. Lange Zeit haben Christen sich selbst als Fremde in der Welt gesehen, als Peregrini, als Pilger. Das galt und gilt für die bedrohten Minderheitsgemeinden im römischen Reich, die ja gerade deshalb auf wechselseitige Gastfreundschaft angewiesen waren, genauso wie für die reformierten Flüchtlingsgemeinden des 16. und 17. Jahrhunderts, die in ihren neuen Städten von Anfang an diakonische Aufgaben übernahmen. Wer selbst einmal Flüchtling war, der weiß, was andere brauchen, wenn sie bei uns Heimat suchen. Und wer selbst in Armut oder Krankheit auf Hilfe angewiesen war, der weiß, welche Bedeutung die Diakonie der Kirche hat. Die Geschichte zeigt, dass die Kirche immer und immer wieder darum gerungen hat dieses Wissen nicht zu vergessen und sich nicht in der Suche nach Sicherheit abzuschotten.

Die neue Stadt Gottes, zu der wir unterwegs sind, braucht keinen Tempel und keine Kirchtürme; in der Mitte steht das Lamm mit seinen Verwundungen und dem Siegeszeichen. Hier zeigt sich: die Opfer waren nicht umsonst, Tränen werden abgewischt, Schmerzen gestillt, blutige Kleider ausgewaschen, der Lebensdurst wird gelöscht, das beschädigte Leben beginnt neu. Wir sehen die Völker von Osten und Westen, von Norden und Süden zu dieser Stadt pilgern, wir sehen sie durch die Tore gehen und durch die Straßen wandern – in dem Licht, das von Gottes Thron ausstrahlt. Vieles von dem, was wir in der Offenbarung über das neue Jerusalem lesen, ist die Erfüllung alter prophetischer Visionen. Es sind aber zugleich Bilder, die an die der letzten Tage erinnern.

Wo wir die Hoffnung verloren haben, wo die Vision verblasst ist, da wird sie nun von außen an uns heran getragen – von den Leidenden und Opfern. „Das neue Jerusalem ist ein Versprechen, eine Herausforderung und eine Einladung, sich jetzt schon einzulassen auf das Leben in der himmlischen Welt, indem wir Barmherzigkeit leben und der Gerechtigkeit zum Durchbruch verhelfen, und damit dafür sorgen, dass unsere irdischen Städte etwas vom Glanz der himmlischen spiegeln. Auch wenn wir noch auf den neuen Himmel und die neue Erde warten – lasst uns anfangen, die neue Stadt zu bauen, die Stadt von Frieden und Gerechtigkeit“, sagte Anthony Pilla, der katholische Bischof von Cleveland, 1993 in einer Rede über die Kirche in der Stadt.

30 Menschen müsse man kennen, damit man sich in einer Stadt wirklich zu Hause fühlen kann, heißt es. Das wissen wir selbst von unseren Umzügen und Reisen; das erfahren die Menschen, die als Migranten und Flüchtlinge zu uns kommen. Dabei geht es nicht mehr darum, Menschen einfach nur zu integrieren – es geht vielmehr um eine Inklusion, bei der wir uns auch selbst verwandeln werden. Julia Kristeva, die ich schon einmal zitiert habe, vergleicht dazu die Geschichte der USA als eines Meltingpots von Zugewanderten mit den europäischen Gesellschaften von heute, allen voran mit Frankreich. Sie schreibt am Ende: Heute „ist es das Schicksal eines jeden, derselbe und der andere zu bleiben; ohne seine Herkunftskultur zu vergessen, aber sie relativierend, und zwar so weit, dass er sie nicht nur in die Nachbarschaft der anderen rückt, sondern sie auch mit dieser verändert… Vielleicht geht es letztlich darum, den Begriff des Fremden um das Recht auf Respekt unserer eigenen Fremdheit und überhaupt des Privaten, das die Freiheit in den Demokratien garantiert, zu erweitern…“. Im Zuge dieser Entwicklung werde schließlich auch der Zugang der Fremden zu politischen Bürgerrechten kommen. Das grundlegende Problem aber sei psychologischer, wenn nicht metaphysischer Art: es fehle ein gemeinsames Band, eine globalisierte Heilsvorstellung, abgesehen vom Wohlstand für alle. So seien wir gezwungen, mit ganz verschiedenen Werten und Moralvorstellungen zu leben. Einzig die universalen Menschenrechte und der wechselseitige Respekt vor Fremdheit und Schwäche könne uns in dieser Situation Leitschnur sein. Das scheint wenig und berührt doch die Grundlagen dessen, was nicht nur Europa, sondern auch unsere Kirche trägt. Wenn wir tatsächlich Gastfreundschaft üben, ohne alle an unsere Heimat und unsere Werte anzupassen – wenn wir im Auge halten, dass wir selbst noch unterwegs sind und dass auch unser Land sich wandeln muss, dann können wir entscheidend dazu beitragen, eine neue Willkommenskultur zu entwickeln.

[1] Heinz Bude, Gesellschaft der Angst, Hamburg 2014
[2] Jan Hendriks, Gemeinde als Herberge, 2001.
[3] Hebr. 13, 2
[4] Vgl. Christopher Wild, Royal Re-Entries, zum Auftritt in der griechischen Tragödie in: „Annemarie Matzke u.a.; Auftritte, Bielefeld 2015 (Der Trojanische Krieg bricht aus, weil Helena, die Frau des Menelaos, von Paris verführt wird.)
[5] Julia Kristeva, Fremde sind wir uns selbst, Berlin 1992
[6] Eph. 2, 19
[7] Kol. 3, 9-11
[8] Ex. 22,20
[9] Hiob 31, 13ff.
[10] Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung
[11] Eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung hält fest (ich zitiere): „Die Belastung der Kommunalhaushalte durch Sozialleistungen ist bundesweit unterschiedlich. Am geringsten ist sie in Baden –Württemberg mit durchschnittlich 31 Prozent, am höchsten in Nordrhein-Westfalen mit 43 Prozent. Zwischen den einzelnen Kommunen sind die Unterschiede teilweise eklatant: Während die Stadt Wolfsburg (17 Prozent) und der bayerische Kreis Haßberge (18 Prozent) nur einen kleinen Teil ihres Etats für Sozialleistungen aufwenden, machen die Sozialkosten in Duisburg, Wiesbaden, Eisenach und Flensburg mehr als die Hälfte des städtischen Haushalts aus.“ http://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2015/juni/sozialausgaben-belasten-haushalte-der-kommunen-mit-bis-zu-58-prozent/ Vom 8. Juni 2015.