- Glück und Seligkeit
Noch einmal Herbstsonne in der Studentenstadt. Die Plätze in den Straßencafés sind alle besetzt. Wir schlendern durch Groningen, besuchen das moderne Museum in die Synagoge und schauen natürlich auch bei den schönen alten Kirchen vorbei. Leider sind alle geschlossen – längst sind Event-Centren daraus geworden. Vermietet über „Besondere Locations in Groningen“. Vielleicht ist das auf dem Land noch etwas anders. Jedenfalls steht in der Tourismusbroschüre: „Kennzeichnend für die Groninger Landschaft sind die vielen noch erhaltenen Kirchen, die einen prominenten Platz in den Dörfern haben“. Beim Lesen spürt man das leichte Staunen: Das es das noch gibt…
Was vor 30 Jahren in England und Holland begann, ist inzwischen bei uns angekommen: Kirchen werden geschlossen, verkauft und umgewidmet: zu Synagogen oder Moscheen, zu Restaurants und Nachbarschaftszentren. Die ehemalige Friedenskirche in Rheydt wurde 2001 zu Wohnungen umgebaut. Manchmal habe ich davon geträumt, einmal dort zu übernachten – immerhin bin ich gleich nebenan geboren – im abgerissenen Pfarrhaus. Und einen Urlaub in der umgebauten Kapelle eines schottischen Klosters habe ich in guter Erinnerung – himmlisch schlafen unter Kirchenfenstern. So wie man im Restaurant „Glück und Seligkeit“ in Bielefeld Salate und Chutneys genießen kann, während der bunte Lichteinfall auf die Tischdecke fällt – auch „Glück und Seligkeit“ ist eine alte Kirche. Der Name passt.
Als ich dort kürzlich mit einer Freundin aß, fiel mir ein, wie groß die Aufregung noch vor 25 Jahre in London war. Da standen wir im Osten der Stadt vor einer verrammelten Kirche. Eine Gruppe rheinischer Theologinnen und Theologen auf der Suche nach Impulsen für die Gemeinden der Zukunft. Mitten in einem globalisierten Viertel mit Menschen aller Hautfarben und Religionen, in dem die Armut offensichtlich groß war. Kein Wunder, dass der Bischof der Meinung war, sie werde nicht mehr gebraucht und sei auch nicht mehr zu finanzieren. So wie wir später Kirchen im Duisburger Norden aufgegeben haben – in Bruckhausen zum Beispiel, wo nur noch eine kleine Minderheit zur evangelischen Kirche gehörte und auch im evangelischen Kindergarten längst überwiegend muslimische Kinder spielten und lernten. Die Bruckhausener, oft in prekären Verhältnissen, fühlten sich im Stich gelassen. Und die Menschen, die wir im Londoner Osten trafen, waren empört. Sie hatten eine Bürgerinitiative gegründet, um die Kirche zu erhalten. Viele von ihnen lebten längst anderswo – hier aber waren sie getauft und getraut worden waren, hier hatten auch ihre Kinder den Segen bekommen. Hier waren sie wer – und gehörten dazu. So etwas gibt man nicht einfach auf.
Das bewegt auch die Kirchenkuratoren und Kirchenkuratorinnen, die bei uns dafür sorgen, dass Dorfkirchen in Brandenburg oder in Mitteldeutschland saniert werden – die Orgelpaten suchen, Veranstaltungen planen, die Kirchen offenhalten, auch wenn sie selbst gar nicht Mitglied sind oder längst anderswo wohnen. “Je mobiler die Gesellschaft, je mehr Optionen und Lebensstile, desto wichtiger wird Heimat. Heimat, das ist die Stadt, von der ich „Wir“ sagen kann“, sagte kürzlich ein Schriftsteller. Der Lebensraum, in dem wir uns selbstverständlich und ungezwungen bewegen können, weil wir uns auskennen, weil wir dazugehören. Und nicht zufällig sind es oft die Kirchen, die das Heimatgefühl stärken. Denn die Kirche ist nach wie vor ein markanter und prägender Punkt im Stadtbild, die Schläge der Kirchturmuhr und der Klang der Glocken gehören zum akustischen Raum und die Silhouetten der Dome sind Symbole ihrer Stadt – die Frauenkirche in München, der Hamburger Michel, der Dom in Köln. Sie gehören allen, die dort leben.
Der „Krautsaal“ in Heckinghausen, in dem ich konfirmiert wurde, wurde vor 2 Jahren verkauft und dient jetzt als Mietobjekt – für Wohnungen und Events, aber auch für eine Tanztruppe und eine italienische Gemeinde. Nicht viel anders als früher, dachte ich beim Lesen – und Herr Carl, der neue Besitzer, sagt in einem Interview, ihn bewege die starke Bindung vieler Menschen an das Gebäude. Mich interessieren deshalb vor allem die Orte, an denen es Kirche und Diakonie gelingt, ihre Immobilien ins Quartier zu öffnen, sie als Gemeinwesenzentren zu nutzen. Kirchliches Clubleben oder Abgeben – das muss nicht die Alternative sein.
„Wenn ich einen Traum von der Kirche habe“, schreibt Dorothee Sölle, „so ist es der Traum von den offenen Türen gerade für die Fremden, die anders sprechen, essen, riechen. Mein Haus wünsche ich mir nicht als eine für andere unbetretbare Festung, sondern mit vielen Türen. Heimat, die wir nur für uns selbst besitzen, macht uns eng und muffig.“
- Gemeinde als Herberge
Ich erinnere mich gern an eine Kirche in der Innenstadt von St Louis in den USA. Sie hatte eine Weile leer gestanden – das Viertel war heruntergekommen und wer es sich leisten konnte, war an den Stadtrand gezogen. Aber anders als den Bischof von London war dieser amerikanischen Gemeinde nicht egal, was mit ihrer Kirche passierte – und wie es den Leuten in ihrem alten Quartier ging. Sie öffneten die Kirche für die neuen Nachbarn, meist Latinos und Farbige. Nun gab es Kinderbetreuung und Selbstverteidigungskurse, Drogenberatung und einen Mittagstisch – und immer noch Gottesdienste für alle, mit allen. Und die Gemeinde wuchs.
Hier bei uns in Deutschland ist die Situation anders. Das liegt vor allem an der starken Stellung der Diakonie. Auch in benachteiligten Vierteln gehören noch Menschen zur Kirche, sie bringen ihre Kinder in unsere Tageseinrichtungen oder ein Pflegedienst kommt ins Haus – und trotzdem haben sie das Gefühl, nicht dazu zu gehören. Wenn sie am Heiligen Abend oder zu einem Familienfest in die Kirche kommen, fühlen sie sich ein bisschen wie Gäste. Es gehört übrigens nicht viel dazu, dieses Gefühl zu bekommen – es reicht schon, nicht zu wissen, wie die Kaffeekannen schließen. So ging es mir, als ich bei der Diakonie arbeitete und in meiner Wohngemeinde an einer Gemeindeversammlung teilnahm. „Sie sind wohl nicht so kirchlich“, meinte meine Nachbarin, als ich die Kanne nicht aufkriegte.
Gute Gastfreundschaft wäre schon was wert, denke ich – ein erster Schritt, um wieder Heimat zu finden. Friedrich von Bodelschwingh, der Gründer von Bethel, hat es auf den Punkt gebracht: „Das ist aller Gastfreundschaft tiefster Sinn, dass wir einander Heimat geben auf dem Weg nach dem ewigen Zuhause.“ In den Anfängen der neuzeitlichen Diakonie verstanden sich Einrichtungen für Behinderte oder Herbergen für Obdachlose als „Hospize“, als Orte der Gastfreundschaft, wo Menschen auf ihrem Lebensweg Station machen und auftanken konnten. Heute können auch Kirchengemeinden wie Karawansereien sein, eine Oase in den Wüsten des mobilen Alltags. Wo Menschen einander begegnen, ihre Geschichten teilen, sich füreinander einsetzen und einander auf diese Weise ein Stück Heimat geben. Gemeinde als Herberge. Der holländische Theologe Jan Hendriks hat dieses Modell in den 1980er Jahren entwickelt. Wo solche offenen Begegnungen stattfinden, kämen nicht nur die individuellen Lebensgeschichten auf den Tisch, sondern auch die gesellschaftlichen Zerreißproben – und genau darin würde etwas von der Nähe Gottes spürbar, sagt er.
Friederike Weltzien ist Pfarrerin in Stuttgart. Sie hat lange im Libanon gelebt, spricht arabisch und engagiert sich heute für die Integration von Geflüchteten. “Für mich ist die Gemeindeküche ein spiritueller Ort“, sagt sie. Allerdings in einer alteingesessenen schwäbischen Kirchengemeinde auch ein heikler Ort. Als im Herbst 2015 die Turnhalle mit hundert Flüchtlingen belegt wurde, da öffnete die Gemeinde die Türen. „Und es stellte sich heraus, dass das größte Bedürfnis der Menschen war, selber Essen zu kochen, etwas, was sie kennen und was ihnen schmeckt.“, erzählt Friederike Weltzien. „Also wurde jeden Dienstag für achtzig bis neunzig Leute gekocht. Die Hilfsbereitschaft war groß, Gelder mussten gesammelt werden, die Lebensmittel eingekauft und die Tische gedeckt und dann auch wieder alles abgeräumt, gespült und gesäubert werden. In der Küche trafen die Kulturen aufeinander. Dinge veränderten sich, zunächst gab es viel Aufregung in der Gemeinde und auch Sorgen und Ängste. Aber gerade da entwickelten sich die intensivsten Kontakte. Inzwischen ist es selbstverständlich geworden. Es wird immer noch regelmäßig syrisch gekocht, besonders in der Zeit des Ramadans werden gemeinsame Essen zum Fastenbrechen gefeiert. Und auf einmal werden religiöse Themen ganz zwanglos miteinander diskutiert und besprochen und erlebt. So kann auch die Gemeindeküche zum spirituellen Raum werden. Ein Raum, in dem Gottesbeziehung erfahrbar wird – auch in den wachsenden Beziehungen der Menschen.
Auch in anderen Gemeinden ist die Küche inzwischen zum heimlichen Zentrum geworden. In meiner Nachbarschaft zum Beispiel, wo alleinstehende Rentnerinnen zweimal die Woche einen gemeinsamen Mittagstisch haben. Und auch da wird reihum gekocht. Und zwischendurch trifft man einander beim Einkaufen, hilft sich auch mal im Alltag, ruft sich an. Leider sind unsere Küchen oft nicht so ausgestattet, dass viele darin arbeiten können – und nicht überall haben solche Gruppen einen Schlüssel zum Gemeindehaus. Das wären allerdings gute Voraussetzungen, um nicht mehr nur Gäste zu sein. Ganz wie der Apostel Paulus sagt: “Ihr seid nun nicht mehr Gäste und Fremde, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen.“
- Zu Hause im Quartier
Vor einiger Zeit hat Bertelsmann eine Karte der boomenden und schrumpfenden Regionen heraus gegeben – sie zeigt das wachsende Gefälle, das inzwischen nicht nur zwischen gesellschaftlichen Gruppen, sondern auch zwischen Stadtteilen, Städten und Regionen zu erkennen ist. Sie stehen im Wettbewerb um Wirtschaftskraft und Steuereinnahmen und werden entsprechend unternehmerisch geführt. Die Orientierung an wettbewerblichen Strukturen der Wirtschaft lässt das Verhältnis zwischen Bürgern und Kommunen nicht unberührt. Die soziale Arbeit verliert an Stabilität und Stetigkeit, weil sie durch regelmäßige Projektvergabe an den günstigsten Anbieter immer nur auf Zeit vergeben ist. Menschen, die oft umziehen, verlieren irgendwann die soziale Einbettung. Aber in einer mobilen Gesellschaft kann auch der eigene Lebensort fremd werden, weil die Transformationsprozesse immer schneller vonstattengehen. Dabei lässt sich Beteiligung als Voraussetzung für Beheimatung eben nur zum Teil über effiziente digitale Prozesse und gute Dienstleistungen steuern. Wer einen neuen Personalausweis beantragt, ist jetzt Kunde. Was nach Service und Zuvorkommenheit klingt, verrät aber möglicherweise, dass die Angesprochenen nicht mehr als politische Subjekte wahrgenommen werden.
Die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland verschiebt sich hin zu einer wachsenden Anzahl älterer sowie assistenz- bzw. pflegebedürftiger Menschen, aktuell sind in unserem Land 7,6 Millionen Menschen mit einer Behinderung registriert. Die zunehmende Individualisierung sowie der Wandel von Familienstrukturen und die Veränderungen im Arbeitsleben führen zu zusätzlichen Anforderungen an das Sozialsystem und die Infrastruktur. Der siebte Altenbericht der Bundesregierung hat diese Herausforderung aufgenommen; er betont die Notwendigkeit, Caring Communities mit einer guten kommunalen Infrastruktur zu verknüpfen.
Die letzten beiden Freiwilligensurveys der Bundesregierung zeigen einen Trend weg von der Ausrichtung auf Geselligkeit hin zu Engagement für das Gemeinwohl. Insbesondere das dritte Lebensalter bietet neue Chancen des Engagements und der Teilhabe. Die Generation der 55- bis 69-Jährigen ist besonders aktiv im sozialen Ehrenamt und im lokalen Bürgerengagement. Sie stärken die Eckpfeiler des nachbarschaftlichen Lebens – mit Dorfläden und Nachbarschaftscafés oder auch mit Bürgerbussen und anderen ehrenamtlichen Projekten, sie tragen Vereine und Parteien und auch die Kirche entscheidend mit. Tatsächlich ist die Gruppe der jungen Alten im Vergleich zu anderen Organisationen besonders stark in der Kirche engagiert.
Wer aber bestimmte Zielgruppen unterstützen will – Demenzkranke, Menschen mit Behinderung oder Familien in Armut – der muss alle Akteure an Bord holen und die Angebote verknüpfen. Das gelingt nur, wenn Kommunen, soziale Dienste und die Wohnungswirtschaft, aber auch Verkehrsbetriebe und Einkaufszentren, Ärzte oder Nachbarschaftscafés bereit sind, zusammen zu arbeiten und sich auch mit ehrenamtlich Engagierten zu vernetzen. Das Quartier ist der Raum der Kooperationen. Bürgerkommunen entstehen, wo Kommunen Zukunftswerkstätten organisieren, zu runden Tischen einladen, – familien- und altengerechte Städte, demenzsensible Kommunen. Dafür braucht es Räume der Begegnung. Vor allem aber ein neues Denken.
- Hinsehen und mitgehen
In der „Gesellschaft der Singularitäten“ (Reckwitz) mit all ihren fallorientierten funktionalen Diensten geht es darum, wieder ganzheitlich, vernetzt und feldorientiert zu arbeiten. Dabei lässt sich an den Netzwerken der Bürgerinnen und Bürger anknüpfen – den Begegnungen in Schulen und Wartezimmern, beim Einkaufen oder im Sportverein und auch in Kitas und Konfirmandenarbeit. Die Erfahrung zeigt aber auch: ganz ohne Hauptamtliche geht es nicht. Und auch nicht ohne Flyer, Website und Newsletter. Kirche und Diakonie, aber auch die anderen Wohlfahrtsverbände mit ihren Ressourcen sind deshalb besonders gefragt.
Manchmal müssen wir uns selbst in Erinnerung rufen, welche Ressourcen die Kirchen noch haben. An Räumen, Haupt- und Ehrenamtlichen und auch an Kontakten, Netzwerken und Beziehungen. Schließlich wohnen die Kirchenvorstandsmitglieder in der Nachbarschaft, manche arbeiten sogar in der Nähe. Und auch in den Elternräten der Schulen, in den Vorständen der Vereine sitzen Kirchenmitglieder. Das ist anders als in St. Louis, der amerikanischen Gemeinde, von der ich eben erzählt habe. Dieses Potenzial gilt es zu nutzen. Für die Gemeinde, vor allem aber für die Menschen in der Nachbarschaft.
„Kleine Leute in der großen Stadt“ heißen die Skulpturen des Londoner Künstlers Slimcachu, die mich vor einiger Zeit sehr beeindruckt haben. Er hatte überall in der City kleine Figuren platziert – nicht größer als Playmobil-Figuren. Da rudert einer in einer Pfütze, als müsse er einer Überschwemmung entkommen. Und ein anderer wird gerade mit einer Sicherheitsnadel bedroht. Die meisten übersehen diese Alltagsdramen zu ihren Füßen – und genau das ist ja das Problem. Dass viele Menschen sich abgehängt und übersehen fühlen. Hinsehen ist also der erste Schritt – und das geht am besten, wenn wir die Nachbarschaft einmal aus der Perspektive der anderen sehen. Eine New Yorker Journalistin hat das getan. Ein ganzes Jahr lang hat sie jede Woche einen Stadtspaziergang mit einer fremden Person gemacht. Sie war unterwegs mit einer älteren Dame mit Rollator, mit einem Architekten und mit einem zweijährigen Kind. Sie hat einen Blinden begleitet und einen Arzt, der ihren Blick für die Entgegenkommenden schärfte. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, wie sie ihre Stadt neu entdeckt.
In den EKD-Denkschriften und -Orientierungshilfen der letzten Jahre – zu Armut, Familie, Pflege, Alter oder Inklusion – ging es immer wieder um die Frage, wie es gelingen kann, die Schranken zu öffnen, die die Gemeinde zum Club gemacht haben – und ganz bewusst auf die Nachbarschaften zuzugehen. In Nürnberg hat eine Kirchengemeinde sich auf den Weg gemacht und einen Stadtplan für Familien herausgegeben – da findet man die Tageseinrichtungen und Spielplätze, die Kinderärzte und die kinderfreundlichen Restaurants und auch die Gemeinden mit ihren Familiengottesdiensten und Winterspielplätzen. Und in meiner ehemaligen Gemeinde in Wickrath haben Ehrenamtliche an einem Stadtplan für Ältere erarbeitet – mit barrierefreien Zugängen, Bänken, öffentlichen Toiletten, immer auch Rollatoren und Rollstühle im Blick.
Für Familien mit kleinen Kindern und für Ältere ist der Nahbereich von besonderer Bedeutung. Heute leben mehr als 40 Prozent der 70- bis 85-jährigen allein – meist können sie in Alltagsproblemen nicht auf Familie und Freunde zurückgreifen. Nur noch ein Viertel der Befragten geben an, dass ihre erwachsenen Kinder noch am selben Ort wohnen und bei einem weiteren Viertel sind die Wohnungen mehr als zwei Stunden voneinander entfernt. Und den Eltern kleiner Kinder geht es ähnlich. Deshalb brauchen wir Räume, so sich neue soziale Netze bilden, wo unterschiedliche Generationen einander begegnen – Nachbarschaftscafés zum Beispiel, vielleicht gemeinnützig betrieben. Bei den über 70-jährigen ist der Anteil der Frauen, die den Führerschein besitzen, noch immer nicht so hoch wie in jüngeren Altersgruppen (3,1 Mio. Männer, 2,3 Mio. Frauen) Sie sind schnell in ihrem Bewegungsradius eingeschränkt, wenn das Auto fahrende Partner pflegebedürftig wird oder stirbt. Die Kirchengemeinde, die oft noch fußläufig erreichbar ist, ist ein ganz wesentlicher Haltepunkt.
- Raum für das WIR
Es geht darum, Stadtlandschaften so zu gestalten, dass Raum für das „Wir“ ist. Wenn es wahr ist, dass Heimat heute mehr ist als ein Ort; wenn es um Zugehörigkeit geht, um ein Gefühl der Sicherheit, dann können Gemeinden vielen zur Heimat werden. Wenn es um Nachbarschaftsengagement geht, können Kirche und Diakonie auf gewachsene Traditionen zurückgreifen. Die Aufbrüche der Diakonie im 19. Jahrhundert gingen vom Quartier aus und führten ins Quartier zurück – von Wicherns Entwicklung eines neuen Wohnquartiers in Hamburg – St. Georg bis zur Fliedners Gemeindeschwestern. Dann aber führt die Entwicklung des Sozialstaats über die Anstaltsdiakonie zur fallbezogenen Dienstleistung. Damit verbunden war ein Blick auf die Defizite, der zwischen Hilfebedürftigen und Helfern unterschied und zur Exklusion führte. Bis heute spiegelt sich das in der Trennung von Kirche und Diakonie, in der Trennung der Klientel – auch dann, wenn alle Betroffenen Kirchenmitglieder sind. Die Klienten diakonischer Dienstleistungen fehlen oft in der Gruppengemeinde vor Ort – das gilt für Hartz-4-Empfänger genauso wie für Alleinerziehende oder für Menschen mit Behinderung. Und auch „die Hochbetagten, Dementen und Pflegebedürftigen sind von zunehmender Exklusion betroffen und brauchen Unterstützung, um auch weiterhin Teil der Gemeinde zu bleiben“, sagt Prof. Eckart Hammer aus dem Beirat des Projekts „Alter neu gestalten“ in Württemberg.
Mit dem Anspruch „Ich will leben und sterben, wo ich dazu gehöre“, hat Klaus Dörner seit den 70er Jahren gegen diese Exklusion gekämpft. Und damit einen Aufbruch anstoßen, der den Quartiersinitiativen des 19. Jahrhunderts gleicht. Inzwischen haben sich die Einrichtungen der Behindertenhilfe mehr und mehr ambulantisiert und auch die Altenhilfe und Pflege differenzieren sich aus. Und heute bringen Angehörige, Nachbarn, Ehrenamtliche und auch die jungen Alten selbst ihre Perspektiven auf gelingendes und selbstbestimmtes Altern ein und verändern die Hilfesysteme. So entstanden die Mehrgenerationenhäuser und auch die Sorgenden Gemeinschaften im Quartier. Zwischen Quartierscafés, Pflegestationen und Kirchengemeinden entwickelt sich der Dritte Sozialraum – nicht an Defiziten orientiert, sondern an Lebensbereichen wie Wohnen, Gesundheit oder Bildung.
Der indische Theoretiker Homi Bhabha hat das Konzept des „dritten Ortes“ entworfen, eines Ortes, der keiner Gruppe eindeutig zuzuschreiben ist, an dem sich die Verschiedenen ohne Hierarchisierung begegnen und ihre Anliegen aushandeln können. Dritte Orte sind leicht zugänglich und offen; die Teilnahme kostet nichts. Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis gegen Ende des letzten, als die Volkskirchen im Quartier verwurzelt waren, waren Gemeindehäuser solche dritten Orte. Heute werden sie oft als halb leerstehende Clubhäuser wahrgenommen. Wo sie aber den frei gewordenen Raum mit anderen Gruppen im Quartier teilen– mit Sportvereinen, einem diakonischen Dienst oder einer Beratungsstelle – oder sie an Bürgervereine vermieten, da entsteht neues Leben: In Gelsenkirchen, in Bochum und an anderen Stellen haben Kirchengemeinden selbst Bürgervereine gegründet, die die neuen Zentren tragen.
Viele Energien werden frei, wenn es gelingt, die Kompetenzen von Kirche und Diakonie zusammen zu bringen. Kirchengemeinden können Ideenentwickler, Impulsgeber, Pioniere sein. Sie verfügen über Daten und lokales Wissen, über ein Frühwarnsystem für soziale Umbrüche. Sie sind Initiatoren von oder Beteiligte an den Netzwerkprozessen, Öffner in den Sozialraum, verlässlicher und kontinuierlicher Kooperationspartner. Sie werden erlebt als politische Lobby, als Stimme mit Gehör in Öffentlichkeit, Medien und Institutionen. Und sie verfügen über Immobilien, Gebäude und Liegenschaften – ein kulturelles Kapital, das oft nur noch als Belastung empfunden wird.
Die entscheidende Frage ist, ob es gelingt, die Kirchen zu öffnen – also auch und vielleicht zuerst das Denken zu öffnen – und dem Gebäude mit anderen Gruppen, Organisationen und Vereinen gemeinsam zu unterhalten. In dem Maße, in dem die Kirche gesellschaftlich an Einfluss verliert, muss sie lernen, nicht immer nur Hausherr und Gastgeber zu sein, sondern immer öfter auch Gast oder Dienstleisterin für andere. Inzwischen gibt es eine Fülle von Möglichkeiten: Kirchen werden zu Gemeinwesenzentren, inklusiven Hotels oder niedrigschwelligen Cafés, Konzert- oder Kulturräume in der Nachbarschaft entstehen, aber auch Hochzeitskirchen mit Hotel oder Diakoniekirchen wie Heilig-Kreuz in Kreuzberg. Entscheidend ist, dass das Konzept ins Quartier passt. Letztlich wird es darauf ankommen, dass Kirche sich mit ihrer bestehenden Infrastruktur als kooperativer Partnerin im Gemeinwesen versteht. Unsere Gebäude sind für die eigene Arbeit mit den Hochverbundenen längst zu groß. Sie waren einmal als Versammlungsräume und Vereinshäuser für den Ort gedacht – Orte, wo sich Menschen aller Couleur trafen. Heute ist für die meisten, die sich nicht zugehörig fühlen, die Schwelle zu hoch; sie empfinden Kirche eben als Clubraum. Deshalb geht es darum, Verantwortung zu teilen und auch anderen wieder Raum zu geben – gerade da, wo andere Träger sich zurückziehen und öffentliche Orte privatisiert werden. Im Ringen um die Zukunft der Gebäude geht es auch um die gesellschaftliche Anschlussfähigkeit von Kirchengemeinden.
- Werkstatt für himmlische Gesellschaft
„Ein Garten, in dem deine einzigartigen Talente und Träume aufblühen können. Eine Gemeinschaft, in der alle gleich wichtig sind. Und eine Werkstatt für himmlische Gesellschaft“ – das ist das Sharehouse in Berlin. Eine christliche Wohn- und Arbeitsgemeinschaft ganz unterschiedlicher Menschen von überall her. „Werkstatt für himmlische Gesellschaft“ – ich finde, das wäre ein großartiges Motto für Kirchengemeinden, die ganz bewusst in ihrer Nachbarschaft arbeiten. Was müsste in dieser Werkstatt geschehen? Es geht darum, Begegnungen zu ermöglichen und Netzwerke zu knüpfen – über alle Unterschiede hinweg. So wie im Restaurant des Sharehouses, wo einige Bewohner ihre Kochkünste zeigen.
Die evangelische Kirchengemeinde Lindlar ist inzwischen bundesweit bekannt. Sie nahm Situation ihrer Mitglieder, sondern auch die der Immobilien in der Gemeinde unter die Lupe und zog Konsequenzen. Es fehlten alternsgerechte Wohnungen, aber auch ein Ort der Begegnung zwischen den Generationen. So entschied sich der Kirchenvorstand für einen radikalen Neuanfang: Das Pfarrhaus wurde abgerissen und ein Teil des Landes verkauft. In Zusammenarbeit mit der Antoniter-Wohnungsbaugenossenschaft wurden barrierefreie Wohnungen errichtet. Und schließlich entstand das Jubilate-Zentrum als Treffpunkt der Generationen. Der Clou des Ganzen war dann der Aufzug hinunter in die Innenstadt gebaut, damit auch Ältere wieder die Chance hatten, gut zum Einkaufen zu kommen – gefördert vom KDA. Das Konzept hat nicht nur die Gemeinde neu belebt, es hat auch ihren Einfluss in der Kommune gestärkt, den sie nun für die Entwicklung zur alternsgerechten Stadt nutzt.
Bestandsaufnahme und Vision, Standortanalyse und die Klärung der Bedarfslage gehören zusammen. In dem Projekt „Qualifiziert fürs Quartier“ des Evangelischen Johanneswerks in Bielefeld fängt alles mit Recherche von Sozialraumdaten, mit Experteninterview und einer Stadtteilerkundung an. Wer lebt eigentlich in unserem Stadtbezirk, wie hoch ist das Durchschnittalter, wie ist das Verhältnis von Alleinlebenden und Familien? Was wissen Ärzte und Pflegedienste darüber, wie hier gepflegt wird? Dann geht es darum, Gemeindemitglieder und andere Bürgerinnen und Bürger einzuladen. Bei einem Open-Space oder in einem World-Café können gemeinsame Schritte überlegt werden.
In der Lukaskirche in Kiel begann dieser Prozess mit Menschen aus der Gemeinde und interessierten aus befreundeten Vereinen und Institutionen. In der Kreuzkirche in Ludwigsburg schon früh zusammen mit einem Architektenteam. So entstanden differenzierte Nutzungskonzepte – zum Teil gemeinsam mit der Diakonie oder anderen Betreibern. Wo immer es gelingt, neue und visionäre Konzepte zu entwickeln, da finden sich nach und nach auch Fördermöglichkeiten auf den verschiedenen Ebenen. Heimat steht ja hoch im Kurs – in NRW und anderswo. Heimat ist nie fertig, sie muss immer neu gefunden und gestaltet werden – auch und gerade mit denen, die sich fremd fühlen. Wenn es gelingt, in einen lebendigen Dialog zu kommen, kann in den Kirchen und Gemeindehäusern der Herzschlag des Quartiers spürbar werden. Die Bibel ist voller Erfahrung dieses Prozesses und sie enthält eine Verpflichtung: „Suchet der Stadt Bestes und betet für sie zum Herrn.“ Es ist doch großartig, dass wir dafür so brauchbare Orte haben.
Cornelia Coenen-Marx, Wuppertal 14.11.18