Sorgende Gemeinschaften als gesellschaftliche Zukunftsaufgabe

1. Das Beste kommt noch: Ein neues Bild vom Alter

Kennen Sie Iris Apfel? Die ältere Frau mit dem faltigen Gesicht und den großen roten Brillen, die die verrücktesten Sachen trägt, als sei sie in ihren 20ern? Sie hat viele andere inspiriert, sich so zu kleiden, wie sie sich fühlen und attraktiv finden. Große Statementketten, witzige Hüte! Street-Art macht vor, wohin die Richtung geht. Als mein Onkel und meine Tante in den 60-er Jahren mit ihrer Familie in die USA nach Minnesota zogen – zu einem Austauschjahr im Pfarramt – kam die dortige Pfarrfamilie für ein Jahr nach Wuppertal, zog mit den Töchtern Paula und Gretchen und mit der Großmutter ins deutsche Pfarrhaus und gehörte seitdem zu unserer Familie. Es war die Großmutter, die mich besonders beeindruckt hat. Als ich sie zum ersten Mal sah, trug sie eine bunte Karohose – dazu knallrote Lippen und Fingernägel. Das war damals hierzulande für eine Frau über 65 nicht denkbar gewesen.

Seitdem ist viel passiert. Heute gehen die 68-er Frauen selbstbewusst, kritisch und voll Energie in die neue Lebensphase – nicht anders als die Beat- und Rockgrößen von Udo Lindenberg bis zu den Rolling Stones. Unter dem Motto „Das Beste kommt noch“ macht die Zeitschrift „Brigitte Wir“ den über-60-jährigen Frauen Mut, der Vorstellung zu widerstehen, dass es mit dem Alter automatisch bergab geht. Und trotzdem frage ich mich, ob wir wirklich überzeugt sind, dass das Beste noch kommt? Ob wir die Chancen im Blick haben? Zumindest im Blick auf die Themen Rente, Pflege und Wahlverhalten scheint der Belastungsdiskurs noch immer im Vordergrund zu stehen. Aktuell ging es wieder um steigende Belastungen in der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung auf dem Hintergrund des demographischen Wandels. Und auch im Blick auf das Wahlverhalten wird zunehmend häufiger der Zeitpunkt beschworen, in dem die Wählerschaft demographisch „kipptund die Altern Interessenpolitik gegen die Jungen machen. Dennoch: der Potenzial-Diskurs hat in den letzten 20 Jahren an Gewicht gewonnen – vorangetrieben nicht zuletzt durch die Altenberichte der Bundesregierung, die konsequent danach fragen, welche Ressourcen und Perspektiven ältere Menschen in die Gesellschaft einbringen.

Christine Westermann, die zu Ihrem 65. Geburtstag das Buch „Da geht noch was“ geschrieben hat, hat am Ende ihrer Zeit beim WDR eine Reportage über einen Klosteraufenthalt gedreht. Die spirituelle Suche, auf die sich viele Menschen in einem Umbruch begeben, sollte vom Sender folgendermaßen beworben werden: Christine Westermann: „Wieviel Leben bleibt mir noch?“ In ihrem Buch erzählt die Autorin, wie sie sich aufregt – und welche Antworten ihr unweigerlich durch den Kopf schwirren: Möglichkeit 1, meint sie: Sie hat eine todbringende Krankheit. Möglichkeit 2: Sie ist stark vergreist und verabschiedet sich mit dieser Dokumentation. Sie konnte die verfehlte Pressearbeit stoppen – und schreibt dann nachdenklich: „Wie viel Leben bleibt mir noch?“ Das ist keine Sinnfrage. Das ist eine Unsinnsfrage. Es geht nicht um das Wieviel. Das Wohin ist das Entscheidende, die Richtung, die ich meinem Leben noch geben will.“ Was füllt mein Leben aus? Was suche ich? Was machen andere? Das sind Fragen aus dem Modellprojekt „Alter neu gestalten“ der evangelischen Kirche in Württemberg. „Was machen andere? Und geht da was zusammen? Es geht darum, Bekannte zu treffen, andere Menschen kennen zu lernen, die auch ihre Herausforderungen bestehen, ihre Chancen nutzen wollen.“

 

2. Wie geht es den Älteren?

Vor zwei Jahren, 2016, erschienen gleichzeitig der siebte Altenbericht und der letzte Alterssurvey, die regelmäßige Befragung der Über-40-jährigen zu Familie und Arbeit, Engagement, Gesundheit und Wohlbefinden. Der Survey zeigt: Ein negatives Altersstereotyp trifft nicht das Selbstbild älter werdender und alter Menschen. Im Gegenteil:

Noch nie in der Geschichte sind Menschen so gesund alt geworden, noch nie war die Breite der Bevölkerung so gut ausgebildet, so kompetent und selbständig wie heute, noch nie gab es auch so viele Möglichkeiten, sich zu vernetzen und gut zu organisieren. Wir haben in den letzten 100 Jahren im Schnitt zehn gesunde Jahre hinzugewonnen. Legt man den Alterssurvey von 2014 zugrunde, sind 70-jährige kaum weniger leistungsfähig als gesunde 55-jährige. Und 73 Prozent der Befragten ab 60 Jahren fühlen sich jünger, als sie es vom kalendarischen Alter her sind, und zwar im Durchschnitt 5,5 Jahre. Mehr als ein Drittel der 55- bis 69-jährigen hat keine oder höchstens eine Erkrankung und noch die Hälfte der 70- bis 85-jährigen fühlen sich trotz der einen oder anderen Krankheit funktional gesund. Gleichwohl zeigen sich deutliche Gruppenunterschiede: Insbesondere Personen mit niedriger Bildung, prekärer Beschäftigung, aber auch mit Migrationshintergrund sind bei allen Gesundheitsdimensionen benachteiligt. Wir haben alle 10 gesunde Jahre dazu gewonnen – aber es lohnt sich, noch einmal genauer hinzuschauen.

Ein zweites: 40 Prozent der Älteren leben allein. Entgegen häufigen Befürchtungen, dass die Mehrzahl der Älteren einsam ist, haben die meisten stabile Bezugsnetze. Sie teilen ihr Leben bis ins hohe Alter mit einer Partnerin oder einem Partner. Zwar sinkt auch bei den 55- bis 69-Jährigen der Anteil der Verheirateten – wie in der gesamten Gesellschaft steigt die Zahl der Geschiedenen beziehungsweise Getrenntlebenden. Dabei zeichnet sich aber eine Verschiebung von der ehelichen zur nichtehelichen Partnerschaft ab. Und die steigende Lebenserwartung ermöglicht auch ein längeres Zusammenleben im Alter: Im Jahr 2014 waren weit weniger Menschen im Alter zwischen 70 und 85 Jahren verwitwet (24,0 Prozent) als im Jahr 1996 (39,1 Prozent). Und schließlich spielen Freudinnen, Freunde und Wahlverwandtschaften eine immer größere Rolle. Einsamkeit ist für die Mehrheit kein Problem: Aber es gibt sie, die Singles ohne Partnerschaft und Kontakte in die Nachbarschaft. Und im Blick auf die anderen ist es für Kirche sicher wichtig, den Blick zu weiten – alternative Formen von Familie und Partnerschaft sind inzwischen auch im Alter normal.

Ein drittes: Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen ist in der zweiten Lebenshälfte kontinuierlich gestiegen. Das gilt vor allem für die 55 bis 65-Jährigen, bei denen auch die Erwerbsbeteiligung seit 1996 um etwa 20 Prozentpunkte gestiegen ist – vor allem, weil sich die Unterschiede in den Erwerbsquoten zwischen Männern und Frauen verringert haben. Das bedeutet aber auch, dass immer mehr Bürgerinnen und Bürger in die Situation kommen, Beruf und Haushalts- beziehungsweise Sorgetätigkeiten vereinbaren zu müssen. Betroffen sind vor allem die 50 – 65-jährigen Frauen, die die Betreuung der Enkelkinder und der Unterstützung ihrer betagten Eltern übernehmen. Ihr Anteil hat sich zwischen 1996 und 2014 vervierfacht. Wirtschaftlich geht es dieser Generation so gut wie lange keiner – allerdings gibt es eine Zielgruppe, die gerade die Gemeinden nicht aus dem Blick verlieren sollten: die älteren Frauen, die sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen, weil sie Erziehungs- und Pflegeaufgaben übernehmen. Noch vor ein oder zwei Jahrzehnten war das die Gruppe der aktiven Älteren in den Frauenhilfen und Besuchsdiensten, die frei waren, sich ehrenamtlich zu engagieren, nachdem die Kinder aus dem Haus waren.

Und noch etwas: Die 50- 70-jährigen sind zwar heute die relativ wohlhabendste Altersgruppe in Deutschland. 54 Prozent besitzen Wohneigentum oder Vermögensrücklagen. Von den anderen 46 Prozent allerdings lebt die Hälfte von relativ niedrigen Einkommen. Sie waren Arbeiter, geringfügig Beschäftigte oder kleine Selbständige, sie sind eben alleinstehende oder geschiedene Frauen, die heute wegen der Kinder, die sie versorgt haben, eine kleine Rente haben. Das sind die, die heute vielleicht gern ehrenamtlich tätig wären, sich aber Ehrenamt oft kaum leisten können.

Und schließlich: Die moderne Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft, die Entwicklung der Technik und die Akzeptanz ganz unterschiedlicher Lebensentwürfe machen es grundsätzlich leichter, bis ins hohe Alter selbstbestimmt zu leben. Wer nicht mehr mobil ist, kann zumindest virtuell Kontakte knüpfen und pflegen. Inzwischen gibt es mehr und mehr Projekte der digitalen Nachbarschaft – wie z.B. das Portal „Nebenan.de“. Es ist auch nicht ehrenrührig, sich Unterstützung zu organisieren – vom Einkaufsservice bis zum Wäschedienst nutzen das auch die vielen mobilen Berufstätigen. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass die Bildungs- und Vermögensunterschiede uns dann eben doch unterschiedlich altern lassen. Wer von der Grundsicherung lebt und gesundheitlich eingeschränkt ist, hat weit weniger Möglichkeiten, sich zusätzliche Freiheit zu „kaufen“. Aber was ich nicht kaufen kann, kann ich vielleicht tauschen oder teilen – und manches lässt sich auch gemeinsam mit Freunden und Nachbarn organisieren. Das braucht allerdings ein soziales Netz, Kontakte und die Bereitschaft zum Engagement. Nicht nur das ökonomische, auch das Sozialkapital ist ungleich verteilt – Bildung und Beziehungen haben auch mit den ökonomischen Ressourcen zu tun.

„Die Lebensphase „Alter“ begründet also keine einheitliche Lebenslage; vielmehr differenzieren sich die Lebenslagen auch im Alter weiter aus“, heißt es im Vorwort zum 7. Altenbericht. Dabei betreffen soziale Ungleichheiten zwischen verschiedenen Gruppen älterer Menschen finanzielle Ressourcen, Bildung, Wohnbedingungen, soziale Netze und Gesundheit. Eine Auseinandersetzung mit Sorgearrangements für ältere und mit älteren Menschen muss die Verschiedenheit der Lebenslagen und Bedarf berücksichtigen.“ Es geht also um Zugangsvoraussetzungen für gesellschaftliche Teilhabe – um die Beteiligung an Entscheidungsprozessen und die Artikulation eigener Interessen. Dabei geht der Altenbericht davon aus, dass der Anteil derer, die ökonomisch, sozial und in der Folge häufig auch gesundheitlich benachteiligt sind, zukünftig „in erheblichem Maße“ ansteigen wird – dass also das Alter deutlich ungleicher wird.

 

3. Die neuen Alten

Was sind das für Leute, diese so genannten „Jungen Alten?“ Welche Werte teilen sie, wie sind sie politisch geprägt? Wie stehen sie zur Kirche? Leider ist die letzte Sinus-Milieustudie, die dezidiert die über 60-jährigen in den Blick nimmt, von 2002. Die Senioren, die damals 60 Jahre und älter waren, sind heute 75 und älter – sie gehören zum größten Teil zu den Milieus der Konservativen und Traditionsverwurzelten. Das betraf 2002 noch 93,8 Prozent der über 70 -jährigen, bei den 60 – 69-jährigen immerhin noch 82 Prozent. Bei den 50- 59 -jährigen zeigte sich allerdings schon sich ein kleiner Erdrutsch. In dieser Altersgruppe war schon 2002 der Anteil der traditionellen Milieus halbiert.

Die Kirchenmitgliedschaftsstudie der EKD von 2008 nutzt etwas andere Kategorien. Aber auch vor 10 Jahren zeigt sich bei den 60- 69-jährigen wie bei den über 70-jährigen noch ein deutlicher Schwerpunkt bei den Bodenständigen: bei den über 70-jährigen waren es über 45 Prozent, bei den 60 – 69-jährigen immerhin noch 34 Prozent. Ihre sozialen Kontakte in Familie, Nachbarschaft und Vereinen haben für die Gemeinde ganz besonderer Bedeutung. Aus dieser Gruppe speist sich auch das soziale Ehrenamt der Frauen. Gerade hier zeigt sich aber auch eine besondere Herausforderung für Gemeinden: Wo die Frauen dieser Altersgruppen wegen der privaten Sorgearbeit geringe Renten haben, steht die Frage an, ob soziale Ehrenämter nicht auch finanziell gestützt werden müssen – zum Beispiel mit Übungsleiterpauschalen.

Ein viel bunteres Spektrum an Lebensstilen zeigt sich aber schon 2008 in einer Sinusstudie zu den 50-59-Jährigen: nur noch 14,6 Prozent gehörten vor 10 Jahren zur Gruppe der Bodenständigen. Es kommen die Geselligen – mit immerhin 17 Prozent. Menschen mit durchschnittlichem bis höherem Bildungsstand und etwas überdurchschnittlichem Einkommen. Auch sie pflegen Kontakte am Wohnort und engagieren sich in ihrem Lebensumfeld. Sie sind bereit, sich fortzubilden – aber sie möchten das Leben eben auch genießen, Sport treiben, Musik hören. Das sind die neuen Ehrenamtlichen, die sich nicht auf Jahre festlegen möchten, sich aber durchaus ins Zeug legen für ein Projekt, das ihnen am Herzen liegt. Diese Altersgruppe – heute in ihren 60ern – verteilt sich bereits auf die Milieus mit traditioneller und moderner Werteorientierung. Nehmen wir den Musikgeschmack als Indikator, dann waren es bei den 50-59-jährigen 2006 noch 56 Prozent, die gern Rock-und Popmusik hörten, so waren es 2015 schon 75 Prozent. Sender wie WDR4, die bis vor einigen Jahren vor allem deutsche Schlagermusik im Programm hatten, haben sich inzwischen darauf eingestellt. Ein kleines Schaubild zeigt die gesellschaftspolitischen Prägungen der Alternsgenerationen. Die sozialen Bewegungen, die Freiheit, zwischen verschiedenen Optionen zu wählen. Es lohnt sich, darüber nachzudenken, dass und wie Kirche selbst den Übergang in den Postmaterialismus und ins sozial-ökologische Milieu mitgeprägt hat. Hier spielen die 60er Jahre mit ihren gesellschaftlichen und kirchlichen Reformen eine entscheidende Rolle.

Die neue Generation der „jungen Alten“, der „Power-Ager“; Silver-Ager oder Unruhe-Ständler fordert zu einem neuen Denken heraus: Sie verfügen stärker als Jüngere über ihre eigene Zeit, sie können vielfältige Kompetenzen aus Beruf und Familie einbringen und nicht zuletzt sind sie oft Kennerinnen und Kenner des Quartiers. Die Generation der 55- 69-jährigen engagiert sich besonders stark im sozialen Ehrenamt und im lokalen Bürgerengagement. In Vereinen und Verbänden, wo junge Leute immer schwerer Anschluss finden, halten die Bodenständigen die Netze zusammen. Sie stärken die Eckpfeiler des nachbarschaftlichen Lebens – mit den neuen Dorfläden und Nachbarschaftscafés oder auch mit Bürgerbussen, während sich die Kritischen in Bürgerinitiativen oder auch in Parteien organisieren. Bei der letzten Kommunalwahl wurde mir klar, dass es vor allem Freiberufler, Hausfrauen, Migranten und eben junge Alte sind, die sich für ihren Ortsteil engagieren – für den öffentlichen Nahverkehr, die Schwimmbäder und Einkaufszentren, die Ärzte im ländlichen Raum.

Es gibt unglaublich viele spannende Projekte in Kirche und Diakonie. Die Leihomas und Lesepaten gehören dazu. Die Pflegebegleiter, die in Abstimmung mit einer Sozialstation für hauswirtschaftliche und nachbarschaftliche Dienste sorgen, die Stadtteilmütter und Ausbildungsmentoren. Oder die Jobpaten, die schwer vermittelbaren Jugendlichen durch ein Praktikum bis in ein festes Arbeitsverhältnis begleiten. Und neben denen, die sich im sozialen Ehrenamt engagieren, stehen die kulturell Interessierten: die Kirchenkuratoren, aber auch Friedhofspaten oder Stifterinnen und Stifter aus den etablierten Milieus.

Die letzten beiden Freiwilligensurveys der Bundesregierung zeigen einen Trend weg von der Ausrichtung auf Geselligkeit hin zu Engagement für das Gemeinwohl. Es griffe aber zu kurz, bürgerschaftliches Engagement vor allem nach seinem gesellschaftlichen, sozialen oder kirchlichen Nutzen zu beurteilen. Bürgerinnen und Bürger nehmen gesellschaftliche Anliegen selbst in die Hand und gestalten sie auf eigene Weise. Sie schenken Zeit für eine Aufgabe, die ihnen am Herzen liegt. Selbstwirksamkeitserfahrungen sind die wesentliche Triebfeder des Engagements. Das muss Konsequenzen haben für den Umgang der Kirchenvorstände, Pfarrerinnen und Diakonen mit den Engagierten Alle Versuche, dieses Engagement zu stark einzuhegen und zu kanalisieren, um es effektiver zu gestalten, müssen deshalb an Grenzen stoßen. Ehrenamtliches Engagement braucht Information, Unterstützung, Fortbildung und Kostenerstattung. Glaubt man Studien aus diesem Bereich, dann wird es entscheidend sein, einerseits den Wunsch nach Bildung ernst zu nehmen, andererseits aber die die Pädagogisierung des Ehrenamts zu überwinden. Ehrenamtliches Engagement ermöglicht Teilhabe, stärkt die Verwurzelung in der Nachbarschaft und Selbstbewusstsein „Ich für mich. Ich mit anderen für mich. Ich mit anderen für andere. Andere mit anderen für mich“ schreibt Margret Schunk aus Württemberg. „Weil wir uns vorgenommen haben, etwas gemeinsam zu tun, was uns allen nützt, was uns allen hilft. Eine Gemeinschaft, ein Netzwerk soll entstehen und wachsen können, das uns allen etwas bringt.“

 

4. Unter den Dächern der Nachbarschaft

Je älter wir werden, desto mehr sind wir auch selbst auf soziale Netze angewiesen. Das betrifft besonders die Hochaltrigen. Denn die familiären Netze dünnen aus: Die Wohnentfernung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern hat in den letzten Jahren ständig zugenommen. Nur noch ein Viertel der Befragten geben an, dass ihre erwachsenen Kinder noch am selben Ort wohnen und bei einem weiteren Viertel sind die Wohnungen mehr als zwei Stunden voneinander entfernt. Zwar haben die allermeisten Familien wöchentlich Kontakt zueinander – aber im Vergleich der letzten Jahre erhalten die über 70-jährigen immer seltener praktische Hilfe; die Quote sank um 8 Prozentpunkte von 19,5 Prozent 1996 auf 11,7 Prozent 2014.

Im letzten FWS wurde deshalb zum ersten Mal die informelle, außerfamiliale Unterstützung in Freundschaft und Nachbarschaft abgefragt, soweit sie eben unentgeltlich und außerhalb beruflicher Tätigkeiten erfolgt. Es ging also nicht um gering bezahlte „Jobs“ in der Pflege – auch wenn der Übergang manchmal unscharf und der gesellschaftliche Druck gerade hier immens ist. Dabei zeigte sich: immerhin 25 Prozent engagieren sich in der nachbarschaftlichen Hilfe bei Einkäufen, Handwerksdiensten bis Kinderbetreuung – und es sind, bis auf die Unterstützung Pflegebedürftiger, mehr Männer als Frauen und eher Jüngere als Ältere. In der Befragung wird deutlich: die wechselseitigen Unterstützungsleistungen verbessern die Lebensqualität aller Beteiligten.

Es ist deshalb auch kein Zufall, dass das Thema „Wohnen“ so viel Gewicht bekommen hat – das gilt grundsätzlich im Blick auf verfügbaren Wohnraum und Mietpreisspiegel. Es gilt aber eben auch für die Wohnsituation von Älteren. Mehr noch als andere Gruppen sind sie auf gemischte Wohnquartiere und barrierearme Wohnungen angewiesen. Und auch ganz neue Wohnmodelle werden hier erprobt, Seniorenwohngemeinschaften, die vielleicht an studentische Erfahrungen erinnern, aber auch Mehrgenerationenhäuser. Dabei ist es wichtig, dass wir das hohe Alter nicht automatisch mit Hilfebedürftigkeit verknüpfen. Die Hochaltrigenstudie der Universität Heidelberg von 2013 zeigt: 76 Prozent der befragten 80- bis 99-jährigen empfinden Freude und Erfüllung in emotional tieferen Begegnungen mit anderen. Und 80 Prozent interessieren und engagieren sich gern für die nächste und übernächste Generation.

Es waren vor allem Politikerinnen und Politiker wie Henning Scherf oder Malu Dreyer, die die neuen Wohnprojekte populär gemacht haben. Die Idee hinter den Wohngemeinschaften und Genossenschaften: starke Nachbarschaften, in denen man einander unterhalb der Schwelle professioneller und bezahlter Dienstleistungen wechselseitig hilft. So wie in den neuen Modellen des Zusammenwohnens von Älteren und Studentinnen, in denen die einen mietfreies Wohnen genießen und die anderen den einen oder anderen Dienst in ihrem Alltag. In diesen Nachbarschafts- und Quartiersprojekten, bei den Mittagstischen und in den Dorfläden ist die Idee der Sorgenden Gemeinschaften populär geworden. Und natürlich können auch ganz normale Nachbarschaften und Vereine zu Sorgenden Gemeinschaften werden. Ich erinnere nur an die Tradition der „Kranzvereine“, wo die Nachbarschaft einander im Sterbefall half – mit praktischer Hilfe, mit Begleitung zum Friedhof und auch mit Unterstützung danach. Ja, und der Kranz aus der Nachbarschaft gehörte auch dazu.

„Die Hochbetagten, Dementen und Pflegebedürftigen sind von zunehmender Exklusion betroffen und brauchen Unterstützung, um auch weiterhin Teil der Gemeinde zu bleiben“, sagt Prof. Eckart Hammer aus dem Beirat des Projekts „Alter neu gestalten“: Und stimmt – auch wenn wir uns für einen Augenblick klarmachen sollten, dass von den 75-79-jährigen nur 7 Prozent von Demenz betroffen sind, von den 80-84-jährigen nur 15 Prozent und bei den 85- 89-jährigen 26 Prozent. Auch in diesem Alter leidet also die Mehrheit von 84 Prozent nicht an Demenz. Und das gilt auch noch für 60 Prozent der über 90-jährigen.

Annegret Zander von der Fachstelle Zweite Lebenshälfte der Evangelischen Kirche in Kurhessen-Waldeck hat vor einiger Zeit dazu ermutigt, den Seniorenkreis abzuschaffen, wo er nicht mehr gefragt ist. Natürlich nicht ohne den langjährigen Mitarbeitenden zu danken. Dafür mit Mut zur Offenheit und zur Lücke. Denn es ist klar: Vor allem die jungen Alten wollen sich nicht mehr betreuen lassen, sie haben vielmehr Lust auf einen neuen Aufbruch, wollen sich einbringen und einmischen, wollen gestalten. Und werden ja auch gebraucht und umworben. Sportvereine und Parteien, Schulen und Hospizvereine wissen: Mit den Angehörigen dieser so gesellschafts- und politikerfahrenen Generation lässt sich einiges auf die Beine stellen.

Selbstorganisation und Beteiligungsorientierung sind inzwischen aber auch für die 80-jährigen wichtig. Susanne Fetzer, die ein Buch über Seniorenarbeit 80 plus geschrieben hat, betont mit Recht, dass die bisherige Betreuungsperspektive, für die der Seniorenkreis stand, eben auch einen diskriminierenden Aspekt hat. Trotzdem gilt: Für Menschen im Alter von plus/minus 80, Frauen und Männer aus traditionellen Milieus, die unter zunehmenden Einschränkungen leiden und kaum noch mobil sind, kann das Gemeindehaus, kann die Seniorengruppe ein wichtiger Bezugspunkt sein. Schon deswegen, weil sie weniger mobil sind. Bei den über 70-jährigen ist der Anteil der Frauen, die den Führerschein besitzen, noch immer nicht so hoch wie in jüngeren Altersgruppen. 3,1 Mio. Männer, 2,3 Mio. Frauen zwischen 70 und 79 haben eine Fahrerlaubnis. Sie sind schnell in ihrem Bewegungsradius eingeschränkt, wenn der Auto fahrende Partner pflegebedürftig wird oder stirbt. So gewinnt der Nahbereich zunehmende Bedeutung. Und damit auch die Kirchengemeinde, die oft noch fußläufig erreichbar ist.

Da, wo die Sparkassen sich zurückziehen, wo es kaum noch Ärzte oder Einzelhandelsgeschäfte gibt, hat die Kirche ein großes Pfund einzubringen. Wer nicht mehr mobil ist, erlebt mit Trauer und Sorge, wie die Wohnquartiere sich verändern – das Schrumpfen der ländlichen Räume, der demographische Wandel, aber auch Migration spielen dabei eine Rolle. So kann die alte Heimat fremd werden – und damit das „Identifikationsgehäuse“, der Ort, wo wir uns geistig, emotional und kulturell zu Hause fühlen und einen Referenzrahmen für Austausch und Teilhabe finden. Traditionell bietet Kirche einen solchen Referenzrahmen. Und dabei spielen auch die Orte eine Rolle: Die Kirchen und Gemeindehäuser sind Kristallisationsort für Feste und Feiern, für herausgehobene Erfahrungen in der eigenen Lebensgeschichte, aber auch für Traditionen, die Halt geben. Gerade für die, die allein leben, kann die Seniorengruppe so ein Halt im Alltag sein. Der Ort, wo ihr Geburtstag gefeiert wird. Wo nach ihnen gefragt wird, wenn sie fehlen.

Das bedeutet aber nicht, dass alles bleiben kann, wie es ist. Im Gegenteil: Tatsächlich stammt die Tradition der Seniorenarbeit aus den 60er und 70er Jahren. Und die Entwicklung von Alternativen zum Seniorenkreis gleicht einer Zeitreise direkt ins Jahr 2020. Für diese Zielgruppe braucht es heute attraktive neue Angebote – denn im Blick auf Bildung oder Unterhaltung gibt es Konkurrenz vom Fernsehen bis zu Reiseanbietern. Entscheidend ist heute die Begegnung, wesentlich ist der Austausch untereinander, das Knüpfen von Beziehungen und Netzwerken. Aber dafür brauchen die Häuser barrierefreie Zugänge – im Blick auf die Architektur genauso wie auf Kommunikation, was Einschränkungen im Sehen oder Hören betrifft. Und die Gruppen brauchen Abholdienste, kleine Bürgerbusse vielleicht.

Seit einigen Jahren gibt es vielerorts wöchentliche Mittagstische im Gemeindehaus, wo oft abwechselnd gekocht wird – manchmal einfach für eine Gruppe von Älteren, die nicht länger für sich allein kochen wollen. Oder auch im größeren Stil – vielleicht vernetzt mit einer Tafel, vielleicht mit einem Angebot für den nahegelegenen Kindergarten. Mir gefallen aber auch ganz einfache neue Ideen – Stadtspaziergänge mit Rollstuhl und Rollator wie der Wägelestreff in Gültlingen, Erzählcafés und Biografiewerkstätten. In Hamburg-Eilbeck gibt es eine Sütterlinstube, wo Ältere für Übersetzungsdienste zur Verfügung stehen, anderswo entstehen Schmökerstuben bei Café und Musik in der Gemeindebücherei – ganz ähnlich, wie es jetzt auch Stadtteilbibliotheken anbieten. Spannend finde ich auch die Entwicklung von Begegnungscafés auf dem Friedhof wie in Kornwestheim. Denn tatsächlich ist ja der Friedhof, oft noch Gemeindefriedhof, ein weiterer Anlaufpunkt im Quartier, den wir als Kirche, aber auch als Gesellschaft vielleicht zu lange aus den Augen verloren hatten. Erst die Hospizbewegung mit ihren Trauergruppen und mit neuen Ritualen, nicht zuletzt mit den Trauercafés, hat die Friedhöfe und die Friedhofskapellen in eine neues Licht gerückt.

Mit diesen neuen Formen der Gemeinschaft und des Engagements ist die Kirche bei ihrer eigenen Sache. Die EKD-Orientierungshilfe „Im Alter neu werden können“ formuliert es so: Es geht um „die Re-Sozialisierung und Revitalisierung von Kirchengemeinden, damit sie eben nicht erst auf soziale Notlagen reagieren, sondern aktiv daran mitarbeitet, funktionierende Sozialräume zu gestalten und Notlagen präventiv zu verhindern.“

 

5. Ein neues Miteinander: Sorge für das Quartier

Klaus Dörner hat mit seinem Wusch „Ich will leben und sterben, wo ich dazu gehöre“ tatsächlich viel angestoßen: Seitdem haben sich die Einrichtungen der Altenhilfe differenziert; mit betreutem Wohnen und Kurzzeitpflege, ambulanter Pflege und hauswirtschaftlichen Hilfen, aber auch mit Cafés und vielfältigen Kooperationen im Quartier. Und auch Stadtplanung, Architekturbüros und Wohnungsbaugesellschaften machen öfter ernst damit, dass in den neuen Wohnquartieren Rollatoren wie Kinderwagen über die Schwelle kommen. Schließlich geben Initiativen wie das SONG–Netzwerk oder Wohnquartier hoch 4 seit einigen Jahren Anstöße, die Angebote nicht mehr an Defiziten zu orientieren, sondern an Lebensbereichen wie Wohnen, Gesundheit, Bildung und Freizeit, die für alle Generationen wesentlich sind. Es geht darum, das alte „Schubladendenken“ zu überwinden – dazu gehört auch die Zuordnung von Menschen in Kirche und Diakonie als Gemeindeglieder und als Klienten oder Kunden im Sozialsystemen. Interessanterweise haben die Kirchengemeinden sich damals aber gar nicht provoziert gefühlt durch die Thesen von Klaus Dörner. Sie haben insgesamt kaum reagiert auf das Konzept vom dritten Sozialraum und Dörners neue Wertschätzung der Kirchengemeinden. Meine Vermutung ist: die Kirche hatte die hilfe- und pflegebedürftigen Älteren längst an die Diakonie delegiert – nicht nur aus Gründen der Professionalität, sondern auch aus Refinanzierungsgründen – und sie damit oft exkludiert.

Nur ein kleiner Teil der Älteren braucht Pflege (zwischen 70 und 75: 5 Prozent, zwischen 75 und 80: 10, zwischen 80 und 85: 20 Prozent, erst zwischen 85 und 90: 40 Prozent). Dennoch: Seit Einführung der Pflegeversicherung ist der Trend zur stationären Pflege kaum abgemildert – trotz des Grundsatzes „ambulant vor stationär“. Der prozentuale Anteil der Pflegebedürftigen in Heimen ist nur geringfügig gesunken; die absoluten Zahlen steigen ohnehin. Dahinter steht der gesellschaftliche Wandel, der mit dem demographischen einhergeht: Die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen, die wachsende berufliche Mobilität und geringere Kinderzahlen haben die familiären Netze fragiler gemacht. Und die wachsende Zahl von Single– und kinderlosen Paarhaushalten lässt erwarten, dass der Bedarf an professionellem Dienstleistungen in der Pflege weiter steigt.

Noch immer werden zwei Drittel der Pflegebedürftigen oder 1.5 Mio. Menschen in Deutschland von Angehörigen gepflegt. Die Schwiegertöchter, die die kranke Mutter über Jahre pflegen, die Männer, die ihre Frauen pflegen – sie verzichten auf eigenes Einkommen und Karriere und werden oft nicht einmal gesehen. Sie verschwinden einfach aus dem Kollegen- und Freundeskreis, haben keine Zeit und kein Geld mehr für Einkaufsbummel und Geburtstagsbesuche, für Urlaub oder den Friseur. Neun Jahre dauert die häusliche Pflege im Durchschnitt. Und damit steigt das Armutsrisiko erheblich. Hinzu kommt: Mit dem längeren Verbleib im Erwerbsleben und der steigenden Zahl pflegebedürftiger Hochaltriger stehen, wie wir schon beim Alterssurvey gesehen haben, immer mehr Menschen vor der Herausforderung, Berufs- und Sorgetätigkeiten vereinbaren zu müssen. Das Vereinbarkeitsproblem, das wir meist im Kontext von Erziehungsaufgaben der 20-40-jährigen Eltern denken, gilt inzwischen für die Altersgruppe der 40- bis 65-jährigen Frauen, wenn es um die Betreuung der Enkel, die Unterstützung der betagten Eltern oder um häusliche Pflege geht. Ohne ergänzende, bezahlbare Dienstleistungen, ohne Vereinbarkeitsregeln in der Wirtschaft und hinreichende Anrechnung in der Rente ist die Pflege Angehöriger in Zukunft nicht zu leisten.

Und die Probleme sind drängend. „Wir haben jetzt schon einen Notstand – aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was kommt“, sagt der Bremer Gesundheitsökonom Heinz Rothgang. Die Zahl der Pflegebedürftigen wird in den kommenden 30 Jahren von rund drei Millionen auf fünf Millionen Menschen steigen. Ausgehend vom heutigen Verhältnis der in der Pflege Beschäftigten zu den Pflegebedürftigen tut sich bis zum Jahr 2030 eine Lücke von 350.000 Vollzeitstellen auf.

Heute leben mehr als 40 Prozent der 70- bis 85-jährigen allein – meist können sie in Alltagsproblemen nicht auf Familie und Freunde zurückgreifen. Auch deshalb wird die häusliche Pflege inzwischen von ca. 300.000 privaten Haushalthilfen und Pflegekräften aus Osteuropa gestützt. Und wer wird die Kinderlosen pflegen, die in der Generation der Babyboomer immerhin 30 Prozent ausmachen? Das Berlin-Institut für Bevölkerungsentwicklung hat bereits 2010 eine Prognose veröffentlicht, nach der die Pflegesituation zur Jahrhundertmitte nicht mehr durch stationäre Einrichtungen aufzufangen sein wird.

Es muss verhindert werden, dass Menschen nur deswegen in stationäre Einrichtungen ziehen, weil die Wohnung nicht angemessen ist oder die Versorgung zu Hause nicht gewährleistet. „Ein Zuhause ist der einzige Ort, wo die eigenen Prioritäten unbeschränkte Geltung haben“, schreibt Atul Gawande in seinem Buch „Sterblich sein“, in dem er sich mit der Altenhilfe auseinandersetzt. „Zu Hause entscheidet man selbst, wie man seine Zeit verbringen will, wie man den zur Verfügung stehenden Platz aufteilt und wie man den eigenen Besitz verwaltet.“ Wenn wir wollen, dass wir alle auch im Alter möglichst lange in unserem Umfeld bleiben können, dann brauchen wir neben barrierearmen Wohnungen auch Pools von Haushaltshilfen und anderen Dienstleistern vom Einkauf bis zur Gartenarbeit. An dieser Stelle sind inzwischen mit dem Pflegestärkungsgesetz erste Schritte getan. Präventive Hausbesuche und eine gute Pflegeberatung gehören ebenfalls dazu. Und als ein weiteres Element ehrenamtlich engagierte Gruppen, sorgende Gemeinschaften eben.

Tatsächlich steht die Frage nach der Versorgung im Alter im Sorgenbarometer der Bürgerinnen und Bürger ganz oben. Mir fällt auf, dass sich noch immer Menschen nach der alten Gemeindeschwester zurücksehnen. Es gibt inzwischen Gemeinden, die neue Modelle einer professionellen, nebenamtlichen diakonischen Mitarbeiterin, einer Gemeindeschwester neuer Form, entwickelt haben. In der Wittener Schwesternschaft gibt es dafür inzwischen eine Weiterbildung. Die Anstellungen durch eine Kirchengemeinde erfolgen allerdings zum Teil im Rahmen eines 450 Euro Jobs. Die 25 Frauen, die dort inzwischen ausgebildet worden, nehmen vielfältige Aufgaben der offenen Altenarbeit, Familienhilfe, Pflegebegleitung und Prävention wahr.

Mit dem Professionalisierungsschub, der die alte Rolle der generalistischen Gemeindeschwester zur Pflegekraft vorantrieb, wurde Pflege Teil des Gesundheitssystems. Sie ist abhängig nicht nur von den fachlichen, sondern auch von den ökonomischen Standards, die dort gesetzt werden. Klar festgelegte Zeiten für die einzelnen Leistungen, oftmals lange Wege, Nachweise und Controlling setzen die Mitarbeiterinnen in Sozialstationen genauso unter Druck wie die Fachkräfte in Krankenhäusern oder Altenhilfeeinrichtungen. Auf der Rückseite dieser Entwicklung traten diejenigen Aspekte der Gemeindeschwesternarbeit, die eher Sozialarbeit waren oder auch Beratungscharakter oder Seelsorgecharakter hatten, in den Hintergrund. Wenn wir heute von Quartierspflege reden, geht es also darum, diese Aspekte in neuen Netzwerken wieder zu gewinnen. „Die Gemeindeschwester soll nicht glauben, dass sie allein die Wohltätigkeit für ihren Bezirk ausüben dürfe. Sie soll dankbar für jede ersprießliche Mithilfe sein. Gerade darin, dass sie die freien Hilfskräfte in der Gemeinde für die Zwecke der Gemeindepflege in Bewegung setzt, liegt ihre Hauptaufgabe. Wer da glaubt, alles selber tun zu müssen, wird wenig ausrichten“, hießt es in der Kaiserswerther Hausordnung von 1901. Sorgende Gemeinschaften brauchen Schlüsselfiguren. Und sie brauchen Sorgestrukturen.

 

6. Gemeinde als Caring Community

Es geht um nicht weniger als unser Selbstverständnis als Gesellschaft und vor allem als Kirche; es geht um einen Mentalitätswandel. „Die mit einer Gesellschaft des langen Lebens verbundenen Herausforderungen verlangen nach einer Auseinandersetzung mit Fragen des Menschseins, mit dem Verständnis von Würde und mit den Vorstellungen eines guten und sinnerfüllten Lebens unter Bedingungen der Vulnerabilität. Vorstellungen von Leben und Autonomie, die den Beziehungscharakter menschlichen Lebens und dessen Angewiesenheit auf andere nicht einbezieht, sind unvollständig“, schreiben Thomas Klie und Andreas Kruse. Auf diesem Hintergrund ist der Begriff der „Sorgenden Gemeinschaften“ populär geworden. In unserer Gesellschaft, die stark geprägt ist vom Wunsch nach Selbstbestimmung und Selbstoptierung, angesichts der Vermarktlichung des Sozial- und Gesundheitssystems, in dem Zugänge zunehmend über Geld und Wissen gesteuert werden, geht es um ein Gegengewicht: um wechselseitige Unterstützung und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen – für sich selbst, für andere und auch für die gesellschaftliche Entwicklung.

Mit ihren Angeboten in Gemeinden, Diakonie und Erwachsenenbildung hat die Kirche ganz besondere Chancen, wenn sie Ortsnähe, Professionalität und Beteiligungschancen verknüpft. Noch allerdings gibt es jede Menge überkommener Bruchlinien – zwischen beruflicher und ehrenamtlicher Arbeit, zwischen Gemeinde und Diakonie, zwischen „Altenhilfe“ und emanzipativer Seniorenbewegung, zwischen Betreuung, Versorgung und einem neuen Verständnis von Bürgerengagement, zwischen Ehrenamt in der Leitung und Engagement in Projekten. Aber es sind die Bruchlinien, an denen die Kirche derzeit überall arbeiten muss.

Kirchengemeinden können Caring Communities werden. Dafür ist es wichtig, die traditionelle Trennung zwischen Kirche und Diakonie zu überwinden – und Brücken zu schlagen im Sinne der Gemeinwesendiakonie. Kirche hat Räume, hat hauptamtliche Ansprechpartner und sie ist vielfältig mit den Stadtteilen verwoben. Gemeindehäuser sind nach wie vor Referenzpunkte und zentrale Anlaufstelle am Ort, fußläufig im Quartier erreichbar. Aber auch diakonische Einrichtungen, Altenzentren oder Tageseinrichtungen bieten soziale Professionalität und politische Erfahrung. Sie erreichen Zielgruppen jenseits der traditionellen und bürgerlichen Milieus. Wo beides zusammen kommt mit der Offenheit für bürgerschaftliches Engagement und mit modernen Bildungsangeboten, da kann wirklich Neues entstehen.

Der Mittagstisch für den Stadtteil – gleich beim Betreuten Wohnen. Das Pflegetelefon für Angehörige und die Telefonketten für Alleinstehende – in den Räumen der Diakoniestation. Und nicht zuletzt die Agentur für Pflegebegleiter in der Nachbarschaft mit einem eigenen Curriculum und Supervision. Und schließlich eine Organisation wie die „Inklusive Solidarische Gemeinde in Reute“ mit ganz unterschiedlichen Angeboten und über 80 Ehrenamtlichen aus allen Generationen. Ein Bürgerverein mit über 500 Mitgliedern unter dem Dach der katholischen Gemeinde, der vom Fahrdienst bis zum Besuchsdienst oder zu Oma-Opa-Enkel-Wanderungen immer neues organisiert – getragen von Beiträgen und Drittmitteln. Wo Gemeindehäuser zu Gemeinwesenhäuser werden wie z.B. im Jubilatezentrum Lindlar, da gelingt es oft, auch ganz andere Engagierte einzubeziehen.

Wenn Kirche sich an Sorgenden Gemeinschaften beteiligen will, dann ist es entscheidend, offen zu bleiben für Kirchendistanzierte oder engagierte Menschen aus anderen Organisationen, die sich engagieren wollen – runde Tische und Netzwerke zu bilden.

Heinzpeter Hempelmann hat auf Grundlage der Sinus-Studie für Baden und Württemberg von 2012 festgestellt, dass der Zusammenhang zwischen Verbundenheit mit der Kirche, Glaube und Engagement sehr unterschiedlich aussehen kann.

  • Es gibt eine hohe Verbundenheit mit der Kirche ohne aktive Praxis
  • Es gibt eine intensive religiöse Praxis ohne Engagement im Raum der verfassten Kirche.
  • Und es gibt auch eine hohe Verbundenheit mit christlichem Glauben und eine entsprechende ehrenamtliche Praxis bei einer deutlichen Distanz zur verfassten Kirche

„Wenn wir nicht allein bleiben und nicht nur privatisieren wollen“, schreibt Lisa Frohn, eine Stimme der Engagierten aus der Erwachsenenbildung, in ihrem Twitter-Buch „Ran ans Alter“, dann brauchen wir Räume, wo wir hingehen können. Um andere zu treffen. Um uns auszutauschen. Um gemeinsam etwas zu tun. Um uns als gesellschaftliche Wesen zu erleben.“ „Nehmen wir mal an, einige interessieren sich für ein gemeinsames Wohnprojekt. Andere für ein Kulturzentrum, einen Club. Nehmen wir mal an, Sie sind sich einig, dass Sie das, was Sie wollen, selbst gründen müssen. Könnte da nicht Freude aufkommen? Ja, Begeisterung?“

Kann die Kirche dieser Begeisterung Raum bieten? Wird sie die Freiheit geben, unterschiedliche Wege und Formen der Selbstorganisation und auch der Spiritualität ausprobieren? Wird sie ihre Räume auch für die Menschen öffnen, die in der Sache engagiert sind – der Kirche aber nicht so stark verbunden? Das verlangt ein erneuertes Selbstverständnis, das aufräumt mit der versteckten Abwertung der Älteren und vor allem älterer Frauen, sondern deren sozialen Beitrag, deren Belastungen und ihren Lebensertrag schätzt. Und das bedeutet auch: Ehrenamt, Seniorenarbeit und Sorgenetze brauchen finanzielle Unterstützung.

In den frühen Gemeinden wurden aus hilflosen Armen und unversorgten Witwen Frauen, die ein anerkanntes Fürsorgeamt hatten. Auch heute geht es im sozialen Ehrenamt der Älteren um eine neue Entdeckung von Solidarität in der älteren Generation selbst, aber auch zwischen den Generationen, die nicht zuletzt auf Einfühlung und Weitergabe von Erfahrung zielt. Hier haben die Kirchen ein starkes Pfund einzubringen. „Mein Traum vom Älterwerden gestalten wäre, dass Menschen jeden Alters zusammenkommen und zusammenwachsen, so selbstverständlich wie dies in vielen Familien geschieht. Vor Ort wäre mein Wunsch, dass Alter weder Krankheit noch Tabu ist.“ (Erika Haffner)

 

Cornelia Coenen-Marx, Fachtag Sorgende Gemeinschaft, 24.02.2018