Nächstenliebe unter Zeitdruck – vom langen Atem der Diakonie

1. Augenblicke der Wahrheit: Unternehmenskultur zeigt sich in den Brüchen

Gute deutsche Wertarbeit, konsensorientiert und modern aufgestellt. So ist VW – das Beispiel für Soziale Marktwirtschaft. Als ich vor zehn Jahren beruflich nach Hannover wechselte, hatte ich den Eindruck, dass Stadt und Umfeld von der VW-Kultur bestimmt werden – mindestens so wie das Ruhrgebiet durch Bergbau und Stahl. Während man dort aber offen und klar seine Interessen in den Raum stellt, versucht man sie hier zunächst einmal intern auszuhandeln und abzustimmen. Führung geht gern mit der Mitarbeiterschaft – und Kolleginnen und Kollegen tanzen nicht gern aus der Reihe. Die VW-Familie, die auch in der Krise zusammensteht, ist ein gutes Bild dafür. Bei aller Bewunderung für die Aufbauleistung und die Stabilität von VW, für gute Ausbildung, Familienorientierung und eine Vielzahl von Arbeitszeitmodellen, war mir eins immer klar: Whistleblower werden hier nicht belohnt. Man kann über alles reden, aber dann muss man schweigen können. Mich hat nicht gewundert, dass man in einem solchen Unternehmen unter Erfolgsdruck auch dann schweigt, wenn andere Werte auf dem Spiel stehen: die Glaubwürdigkeit der guten deutschen Wertarbeit.

Ich hoffe, sie denken nicht, solche Wertkonflikte und Imageschäden gäbe es nur bei den anderen und die Diakonie wäre davon verschont. Vor kurzem ging das Augustinum durch die Presse, die große diakonische Altenhilfekette, die wegen ihrer Vertrauenswürdigkeit und soliden Qualität so beliebt ist, dass viele sich dort einkaufen. Es ging um den Umgang mit Geldanlagen. Wenn alte Menschen in einem Pflegeheim nur noch Kostenfaktoren sind oder wenn Pflegende von ihrem Lohn nicht leben können – kurz, wenn Wettbewerb auf Kosten der Qualität geht, dann stecken wir in der Glaubwürdigkeitskrise. Denn die meisten Menschen gehen noch immer davon aus, dass man in einem diakonischen Krankenhaus oder einer Altenhilfeeinrichtung anders gepflegt wird, dass man dort im Sterben nicht allein bleibt, dass auch Trauernde begleitet werden. Daran lässt sich ablesen, was Image und Markenkern diakonischer Arbeit ausmacht: es geht um Würde, Empathie und Solidarität mit den Leidenden und ihren Angehörigen. Selbstwidersprüche führen zu Rissen im Image, zu Glaubwürdigkeitsverlusten. Und natürlich gibt es davon einige. Wenn in Kirche und Diakonie prekäre Arbeitsplätze geschaffen werden, während man sich gleichzeitig in der Quartiersarbeit gegen Armut engagiert. Wenn Kinderbetreuungsangebote für Pflegende im Schichtdienst fehlen, obwohl das Unternehmen ein Familienzentrum unterhält. Für Patienten und Bewohner, aber auch für Mitarbeitende können solche Erfahrungen mit großen Enttäuschungen verbunden sein.

Organisationsentwicklungsprozesse von der Leitbildentwicklung bis zur Qualitätsentwicklung, von strategischen Zielsetzungen bis zur Personalentwicklung können nur gelingen, wenn die strategischen Ziele mit den prägenden Werten zusammen passen – und wenn die Unternehmenskultur sich mit den neuen Herausforderungen weiter entwickelt. Solche Veränderungsprozesse sind notwendig mit Konflikten verbunden; und das Beispiel VW zeigt, dass es nichts nutzt, sie um der Harmonie willen oder des Erfolgs willen zu verschweigen. Je rasanter der gesellschaftliche Wandel uns herausfordert, desto wichtiger wird es, die unterschiedlichen Perspektiven der verschiedenen Generationen, Berufsgruppen und Geschlechter, der Neueinsteiger und der Altgedienten, der Strategen und der Praktiker zu hören. Womit vergleichen sie die Arbeit hier – und kommt das Unternehmen dabei gut weg? Von welchen Projekten träumen die Unternehmungslustigen – und was hindert, sie umzusetzen? Welche Geschichten von früher erzählt man sich bei Geburtstagsfeiern – und was sind die Heiligen Kühe, an die keiner rühren darf? Worüber wird gestritten in Vorstand und Aufsichtsrat oder auch zwischen den Arbeitsbereichen – um Geld, um Strategien, um das Bild des Unternehmens, um den Stellenwert der Fachlichkeit? Oder wird gar nicht gestritten?

 

2. Identität unter Veränderungsdruck – was Unternehmenskultur ausmacht

Das Beharrungsvermögen und die Angst vor Identitätsverlust seien hoch in der Mitarbeiterschaft, klagte neulich der Vorstand eines Gesundheitsunternehmens. Gerade Mitarbeitende in der Pflege seien nun mal eher fürsorglich – aber zäh und auch in Konflikten geduldig. Die Unternehmenskultur sei auf Harmonie ausgerichtet – so sei es schwer, die notwendigen Veränderungsprozesse in Gang zu setzen: es gäbe viel zu viele Gremien, keine klaren Verantwortlichkeitsstrukturen, überlebte Rollenbilder von den Führungskräften. Ich konnte das gut nachvollziehen. Tatsächlich ist zum Beispiel der patriarchale Vorsteher in der Diakonie noch immer in vielen Köpfen, obwohl in aller Regel junge Manager unterwegs sind. In meiner Zeit als Vorstand der Kaiserswerther Diakonie in Düsseldorf habe ich geradezu symbolisch erlebt, welche Rolle bei der Tradierung solcher Bilder die Mitarbeitenden und Führungskräfte spielten, die schon lange im Unternehmen waren. Bei einem Zukunftstag gab es eine Aufstellung, wie auch Sie sie gerade erlebt haben. Wer am längsten dabei war, stand in der Mitte – alle anderen gruppierten sich darum herum. Ich stand damals ziemlich am Rand – nur die Mannschaft, die ich selbst eingestellt hatte, stand noch weiter außen. Und ganz aus der Mitte winkte mir freundlich ein Hausmeister, der auch in der Mitarbeitervertretung war. Selten ist mir so klar geworden, wie sehr ich darauf angewiesen war, die „alten Hasen“ im Unternehmen mitzunehmen. An diesem Tag wurde mir aber auch deutlich, wie verschieden die Teilkulturen in einem diakonischen Unternehmen sein können, kurativ in der Pflege, eher autoritativ im Ärzteteam der Chirurgie, kooperativ in der Pädagogik. Es braucht viel Zeit, Gespräche, Konflikte, um zu einer gemeinsamen Unternehmenskultur zu kommen, wenn sie eben nicht mehr von theologischen Vorstehern und kirchlichen Traditionen oder von den Brüdern und Schwestern einer diakonischen Gemeinschaft bestimmt werden kann.

Alles beginnt damit, dass wir die Dinge beim Namen nennen. Als der Vorstand des Gesundheitsunternehmens, von dem ich eben erzählte, seine Schwierigkeiten benannte, war auch eine Schwester aus einem anderen Teil des Konzerns dabei. Wollen Sie uns provozieren, fragte die? Da erst wurde mir klar, wieviel Mut es brauchte, Dinge auszusprechen, die aus meiner Sicht als Außenstehende auf der Hand lagen.

Martina Höber, mit der ich viel in Führungskräfteseminaren zusammen gearbeitet habe, geht von sieben gestaltbaren Wesenselementen einer Organisation aus – jeweils mit einer Außen- und einer Innenseite. Neben den Strategien der Organisation, der Identität und der kulturellen Prägung, gehören dazu auch die soziale Prägung in Struktur, Funktionen, Gruppen, die instrumentelle Ordnung in den Arbeitsprozesse und die physische Ausstattung des Unternehmens. Menschen, Werte, Räume, Ressourcen, Strukturen, Prozesse und Beziehungen – eine diakonische Kultur zeigt sich über alle Ebenen. An einem alten Werk der Mutterhausdiakonie wie der Kaiserwerther Diakonie kann man sich klar machen, was einmal bedeutete: die Mitarbeitenden waren zum großen Teil Diakonissen – und schon mit Tracht und Haube als Diakonie erkennbar. Ihre Werte waren in Satzung und Dienstanweisung festgehalten; sie waren aber auch überall zu sehen – eingerahmte Bibelworte, Bilder und Szenen an vielen Wänden. Und natürlich erzählte auch die Architektur in dem alten Park, worum es hier ging: in der Mitte stand die Mutterhauskirche, von allen Seiten zugänglich. Spiritualität und Gemeinschaft waren die Kraftquellen, aber alle Ressourcen an Zeit und Geld gingen in die Arbeit – wurden investiert in neue Arbeitsfelder des wachsenden Werkes. Ich könnte jetzt noch erinnern an die Gemeinschaft, die die Beziehungen aufrecht hielt, auch dann, wenn Schwestern eine neue Stelle übernahmen oder gar ins Ausland gingen – und von der Hierarchie, die schnelle Entscheidungen ermöglichte. Aber wichtig ist mir vor allem eins: auch wenn die Mutterhauskirche noch steht, die Bibelsprüche die Häuser schmücken, auch wenn nach wie vor viele fasziniert sind von der Ganzheitlichkeit dieses Entwurfs: in Wahrheit existieren nur noch Bruchstücke. Artefakte, die von vielen gar nicht mehr verstanden werden. Und darüber muss man nicht trauern. Die Zeit der Taschengeld-Diakonie ist vorbei, heute muss sich Wertschätzung auch in Euro und Cent ausdrücken. Kaum jemand wohnt noch vor Ort und kaum eine kommt in die Mutterhauskirche, wenn die Glocken läuten – meist mitten in der Schicht. Längst sind die Teams multikulturell und auch religiös ganz vielfältig. Kurz: wir leben nicht mehr in dieser geschlossenen christlichen Welt, wir wollen nicht, dass eine Organisation unser Leben beansprucht, wir lieben Vielfalt und Selbstbestimmung. Und in dieser Wirklichkeit muss ein diakonisches Unternehmen ganz anders aussehen – wir brauchen andere Leitbilder, einen anderen Umgang mit Hierarchien, mit Patienten und Nutzern und auch mit Ressourcen. Eine andere Unternehmenskultur. Gehorsam, Harmonie und Anpassung werden dabei sicher nicht mehr im Zentrum stehen. Wer Teilhabe für Menschen mit Behinderung und Empowerment für Jugendliche zum Ziel erklärt, muss eine solche Atmosphäre auch für die Mitarbeitenden schaffen.

Ich bin überzeugt, das nicht so sehr Leitbilder und Programme, sondern der Führungsstil, der Umgang der Menschen miteinander und vor allem der Umgang mit Konflikten die Unternehmenskultur bestimmen. Wenn ich überlege, woran ich die Kultur in einer Altenhilfeeinrichtung, einer Schule oder auch in einem Sportstudio erkenne, dann ist es die Art, wie Mitarbeitende und Besucher auf mich zukommen. Als Patient oder als Nutzer wähle ich vielleicht zunächst ein Programm oder einen Standort; Fachlichkeit und technische Ausstattung sind mir wichtig – aber ich weiß: was ich im Internet finde, ist nur die Schaufensterseite. Die gelebte Kultur, von der große Teile unter der Oberfläche definierter Ordnungen, Maßnahmen und Abläufe liegen, erschließt sich erst über persönliche Begegnungen. Was bestimmt das Miteinander? Wird eher verordnet oder ausgehandelt? Lässt man sich in die Karten schauen, um voneinander zu lernen? Wie geht man mit Fehlern um? Ist Teamarbeit gewünscht? Ich fühle mich am sichersten, wenn ich spüre, dass ein Team ganz offen mit Veränderungsprozessen umgeht und wenn auch unangenehme Fragen nicht unter den Teppich gekehrt werden. Letztes Jahr habe ich das in einem Krankenhaus erlebt – ich hätte mir gewünscht, es wäre eines der Diakonie gewesen – was es zu wissen gab, wurde nicht nur an Akten und Monitoren abgelesen, sondern hörbar über alle Ebenen weiter gegeben. Ein lernendes Krankenhaus, in das auch die Patientin einbezogen war.

Dabei hat die Leitung eine Steuerungsfunktion. Die Offenheit beginnt an der Spitze. Der Theologe Ernst Lange war der Auffassung, wer ein Leitungsamt inne habe, müsse dafür sorgen, dass in Veränderungsprozessen unbedingt auch die Minderheiten und die potentiellen Opfer zu Wort kommen müssten – vielleicht finden sich ja Lösungen, die ihre Erfahrungen und ihre Werte nicht einfach überrollen, ihr Wissen nicht gering schätzen? Keiner kannte die Kaiserswerther Diakonie so gut wie jener Hausmeister, der bei der Aufstellung in der Mitte stand – und er kannte nicht nur die alten Mauern, die Elektroleitungen und die Parks, sondern auch noch ein Werk, in dem die jetzigen Feierabendschwestern die Pflege trugen. Was bedeutete es nun für das Ganze, dass der Dienst der Handwerker- und Hausmeistertruppe zu teuer geworden war? Auf der Suche nach Lösungen reichte es nicht, vorgegebene Antworten aus der Wirtschaft zu übernehmen. Zuerst einmal ging es darum, die Probleme zu benennen, Ängste und Widerstände wahrzunehmen und den Beteiligten ein Forum für die Auseinandersetzung zu bieten. „Mein“ Hausmeister übrigens saß ja aus gutem Grund in der Mitarbeitervertretung. Wenn Organisationsentwicklung das Ganze im Blick haben will, ist klar: Macht braucht Gegenmacht. Wer in der Alphaposition ist, muss auch die Omegaposition wahrnehmen, die „kleinen Leute“, die ebenfalls eine wichtige Rolle für den Zusammenhalt spielen, sagt Gertrud Höhler.[1] An Hausmeistern und Reinigungskräften, an Sekretärinnen und Stationshelferinnen lässt sich etwas von dem Geist ablesen, der in der Organisation herrscht. Wo sie nicht beachtet werden, fühlen sich auch andere verunsichert, wo sie outgesourcet werden, fühlen sich auch andere bedroht. Wo sie mit Respekt behandelt werden, können sie wichtige Stützen der Gemeinschaft sein. Wir haben damals versucht, das Problem mit Respekt und Beteiligung aller zu lösen – ein Stamm der unterschiedlichen Handwerkergruppen blieb im Unternehmen- die anderen Stellen wurden sozialverträglich abgebaut.

Nicht nur die so genannten Leistungsträger bestimmen die Unternehmenskultur, und übrigens auch nicht nur die Angestellten – die Menschen, die die Organisation ausmachen, bilden ein viel größeres Netzwerk. Es reicht weit hinein in die Region, zu all den unterschiedlichen Stakeholdern – und es reicht zurück in die Geschichte des Unternehmens, wie die verschiedenen Skandale um Zwangsarbeit und Missbrauch in den letzten Jahren gezeigt haben. Diakonische Unternehmensentwicklung ist immer auch auf den geschichtlichen und politischen Rahmen und die sozialen Referenz- und Refinanzierungsysteme bezogen, zugleich aber auf die biblischen Bilder und Texte, auf die Kirche sich in ihrem Handeln bezieht. Dass beides in Spannung stehen kann, erleben wir nicht zum ersten Mal. Wer Unternehmenskultur verstehen will, muss wissen, wer der Eigner ist. Er muss die Gründer genauso in den Blick nehmen wie die Ketzer mit ihren gescheiterten Aufbrüchen. Welche Herausforderungen haben die Organisation ins Leben gerufen – und welche Werte waren dabei zentral? Was erwarten Hilfesuchende und Spenderinnen auf diesem Hintergrund? Sicher ist Ihnen auch schon einmal aufgefallen, auf wie vielen Prospekten diakonischer Unternehmen noch immer Diakonissen zu sehen sind. Als Referenz ans Herkommen – vielleicht aber auch als Bild für einen besonderen Spirit.

Wie ehrlich ist unsere Rede zu dem, was wir tun? Welche sozialen Nöte nehmen wir heute wahr und wie können wir neue Handlungsmöglichkeiten entwickeln? Das sind zwei Fragen aus dem Leitbild von Neinstedt, einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung im Ostharz. Anlässlich des 165. Jubiläums hat man sich gleich mit zwei grundlegenden Paradigmenwechseln auseinander setzen müssen: Zum einen mit der eigenen Geschichte in der DDR, mit der kirchlichen Nische in einer säkularisierten Gesellschaft, zum anderen mit der Inklusionsdebatte im heutigen Deutschland. Jetzt geht es um einen doppelten Auszug aus der Exklave: als Empowerment für die Betroffenen selbst, aber auch für die kirchliche Arbeit. Das Leitbild, das ich in dem spannenden Jubiläumsheft fand, ist ganz elementar. Und es hat mich beeindruckt, dass am Schluss Fragen stehen – die klar machen, dass der Prozess nicht aufhört. Wie heute bei Ihnen heute spielt auch in Neinstedt der Begriff der „Nächstenliebe“ eine zentrale Rolle: So heißt es: „Menschen und ihre sozialen Bedürfnisse sind Motivation unseres Handelns. Dabei ist uns der christliche Glaube hilfreich. Auf der Grundlage christlicher Nächstenliebe unterstützen wir individuelle und ganzheitliche Entwicklung.“ Dann aber kommen drei Hauptsachen: Hauptsache menschlich. Hauptsache verlässlich. Und Hauptsache verantwortungsbewusst.

Nächstenliebe ist so ein Wort, das Bilder und Geschichten transportiert. Wie viele Menschen denke ich dabei vor allem an den Barmherzigen Samariter. Eine einfache Geschichte. Aber in ihrer unendlichen Auslegungsvielfalt bleibt sie zugleich die große, grenzüberschreitende Impulserzählung der Diakonie – auch deswegen, weil sie vielfältige Rollenwechsel ermöglicht: Ein Fremder, ein Außenseiter hilft, während die Zuständigen, die Frommen und die Fachleute vorüber gehen. Manche sehen Christus in dem, der unter die Räuber gefallen ist, andere sehen ihn im Samariter. Dabei bleibt der Helfer nicht allein – mit seiner Zuwendung setzt er eine Kette der Hilfe in Gang; er nimmt sich Zeit und er spendet Geld. Er unterbricht seinen Alltag und er organisiert Hilfe. Die Schlüsselfrage – Wer wird wem zum Nächsten – ist aber nicht nur eine Organisationsfrage. Sie ist vor allem eine Beziehungsfrage – und eine spirituelle Frage. Es geht um unser Menschsein. Hauptsache menschlich – was im Neinstedter Leitbild steht, heißt eben auch: Gottesliebe wird in der Nächstenliebe erfahren. Es ist zum Glück eine einfache Geschichte, aber es eine, an der sich unsere komplexe Wirklichkeit sofort bricht.

„Wie ehrlich ist unsere Rede zu dem, was wir tun?“ – fragen die Neinstedter selbst. Die anderen fragen es allemal. Ich erinnere mich, dass in unserem Krankenhaus das kostenlose Wasser auf den Stationen abgeschafft wurde – mit der Einsparung konnte eine zusätzliche Stelle für eine Pflegekraft bezahlt werden. Die Patienten mussten ihr Wasser jetzt kaufen – bis mich eines Tages ein Ehemann zu Hause anrief und in mein Telefon brüllte: „Und Sie wollen vom Barmherzigen Samariter reden und geben meiner Frau nicht einmal Wasser?“ Ja, es sind oft die kleinen Dinge, an denen die Wertekonflikte sichtbar werden.

Lassen wir uns auf unsere Quellen ansprechen? Haben Wut und Enttäuschung Raum? Gelingt es, Kritik ernst zu nehmen und den eigenen Weg zu korrigieren? Wie wird das heute sein? Wir reden über das, was Sie alle angeht.[2] Über den Kulturwandel, die Kulturbrüche, die Sie erfahren, die Werte, die Ihnen wichtig sind. Was hier kein Gehör findet, ist trotzdem da – wir reden darüber im Freundeskreis, am Abendbrottisch, beim Sport. Und das Feedback beeinflusst unsere Haltung zur Arbeit – können wir stolz sein, auf das was wir tun? Können wir etwas verändern? Was später an den Tischen nicht gesagt wird, findet vielleicht trotzdem einen Platz auf den Stellwänden, in den Pausen, im Team oder auch im Intranet. Denn es geht ja um einen Prozess: Identität muss immer neu gewonnen und gestaltet werden.

 

3. Nächstenliebe unter Druck – was die Kultur sozialer Dienste verändert

In den letzten 25 Jahren haben sich die sozialen Dienste in Deutschland grundlegend verändert. Die alten Anstalten gibt es nicht mehr, selbst wenn die Gebäude noch so aussehen. Dienstleistungen sind an die Stelle von Einrichtungen getreten. Am deutlichsten ist das in der Jugend- und Behindertenhilfe. Man kommt nicht einfach in eine Einrichtung, man schließt einen Vertrag über ein individuelles Hilfepaket für Wohnen, Arbeiten und Freizeit, für Coaching und Mobilität – alles im Rahmen eines bestimmten, persönlichen Budgets. Die Autonomie der „Verbraucher“, der Respekt vor ihrer Individualität und ihrer Selbststeuerungskraft sind gewachsen – und das entspricht dem Wunsch nach Befreiung aus überkommenen Fürsorgestrukturen, der unser Gesellschaftsbild seit 68 prägt. Damit werden aber auch der Einfluss und die Gestaltungsfreiheit der Träger begrenzt – sie werden nicht mehr pauschal, sondern nach Leistungen finanziert, sie stehen im Wettbewerb auch mit privaten Trägern und die Notwendigkeit von Nachweisen und Controlling hat zugenommen. Bei allen Chancen, die mit der neuen Freiheit verbunden sind, sehen wir inzwischen die Schattenseiten und Ambivalenzen sehr genau: der Markt ist schwer durchschaubar, er tickt eher kurzfristig, Erfolge sollen sich schnell einstellen.

Zu den Ambivalenzen der sozialen Veränderungsprozesse gehört, dass der Markt heute Zugänge regelt, die in früheren Zeiten nur oder vor allem durch Herkunft, Milieus und Netzwerke bestimmt waren. Das hat Freiheit geschaffen und Vielfalt ermöglicht, aber es bedeutet auch, dass die weniger Zahlungskräftigen nun erst rechten Zugänge erschwert oder verwehrt werden. So wichtig Selbstbestimmung und die Entwicklung der eigenen Fähigkeiten sind – was nutzt die Freiheit, wenn die Unterstützungssysteme erodieren? Inklusion wird zur Mogelpackung, wo Kommunen und Nachbarschaften gar nicht in der Lage sind, Teilhabe zu organisieren – wo die Mittel, die Strukturen, die Fachkräfte, die Zeit fehlen. Dass wir nicht nur autonome Individuen, sondern auch voneinander abhängig sind, wird in unserer individualistischen Gesellschaft verdrängt. Dabei brauchen wir alle das grundlegende Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die uns unterstützt und unsere Freiheit sichert.

Das gilt nicht nur für die Klienten sozialer Dienstleistungen – es gilt auch für die Profis in den sozialen Berufen. Die Entwicklung des Wohlfahrtsmarkts hat dazu geführt, dass die Anforderungen an Effektivität und Wirtschaftlichkeit wachsen, dass Zeitdruck und Belastungen zunehmen. Bei gleichbleibenden oder sinkenden Budgets ist es in vielen Bereichen der sozialen Arbeit wie in der gesamten Gesellschaft zu einer wachsenden Spreizung von Qualifikationen und Einkommen gekommen: einfache Tätigkeiten werden outgesourcet, Fachdienste oft teurer – aber eben aus dem Sachmitteletat – eingekauft und Mitarbeiter ohne weitere Zusatzqualifikationen möglichst flexibel eingesetzt. So werden Patienten „durchgeschleust“, einzelne Module und Dienstleistungen wie in einer Kette aneinandergereiht und Case-Management wird nötig, um die Prozesse zu organisieren, weil einerseits die Individualisierung und Vielfalt zunimmt und sich andererseits eingespielte Teams immer schneller verändern.

Der Soziologe Heinz Bude spricht von einem neuen Dienstleistungsproletariat[3] und zählt neben Caterern und Reinigungskräften auch Kranken- und Altenpflegerinnen dazu. Wie die Erzieher sind sie noch immer unterbezahlt, weil viele glauben, bei Beziehungsarbeit komme es vor allem auf das Herz an – das gehört übrigens zu den Schattenseiten unserer Unternehmenskultur. Tatsächlich geht es beim Umgang mit Krankheit, Behinderung, Störungen um äußerst komplexe und nur begrenzt planbare Vorgänge, die auf Koproduktion angewiesen sind – und damit auf Empathie, Solidarität und Fachlichkeit.

Vor Jahren hat mich eine Arbeit über den Schritt in der Altenpflege beeindruckt, die deutlich machte, wie schnell die Mitarbeiterinnen über die Flure gehen mussten, wie langsam dagegen die Bewohnerinnen vorankamen – beide konnten einander so wenig auf Augenhöhe begegnen wie die Menschen im durchfahrenden Zug den Wartenden auf dem Bahnsteig. Nutzerfragebögen und Regelgespräche können zwar dafür sorgen, dass Feedback organisiert wird, sie bleiben aber letztlich Managementinstrumente, die dem Begegnungscharakter sozialer Arbeit nicht gerecht werden. Deshalb beschweren sich viele Mitarbeiterinnen wie Nutzerinnen über den wachsenden bürokratischen Aufwand, der inzwischen auch das Gruppen- und Institutionengedächtnis ersetzen muss und trotz immer neuer Veränderungsprozesse für geregelte Abläufe sorgen soll. Wer aber Hilfebedürftige nur noch ein kleines Stück auf dem Weg begleiten kann, wer sich immer neu einlassen und immer schneller wieder abgeben muss, verliert das Gefühl von Resonanz, die Sinnerfahrung, die den Charakter und die Anziehungskraft sozialer Berufe ausmacht.

 

4. Work is not a job – von Berufung und Kooperation

„Ist es denn zu viel verlangt, sich in dem, was man den ganzen Tag tut, wiederfinden zu wollen?“ fragt Catharina Bruns in ihrem neuen Buch „Work is not a job“.[4] Ihr geht es um neue Formen von Kooperation und selbstbestimmter Arbeit, wie sie sich im Zeitalter der Digitalisierung, des Crowdfunding entwickeln. Irgendwo zwischen Engagement und Erwerbstätigkeit. Aus einer Initiative Älterer wird ein Senior-Service. Aus dem Engagement einer Mutter für ihren Sohn eine Wohngemeinschaft für Komapatienten. Ein ehemaliger Mitarbeiter in der Jugendhilfe entwickelt ein Projekt mit Bienenvölkern über den Dächern der Großstadt. Prekäre Eigenständigkeiten – aber hier geht es zuerst um Ideen und persönliche Entfaltung. Wer seine Arbeit nur als Job verstehe, der sortiere am Ende alles nach Arbeitszeiten und Zuständigkeiten, schreibt Catharina Bruns. Der suche dann die Work-Life-Balance in dem, was vom Leben übrig bleibt. Wer aber seine Arbeit als Berufung versteht, dem geht es darum, dass die eigene Arbeit im Einklang mit den persönlichen Begabungen und Interessen bleibt, dass sie gesellschaftliche Entwicklungen nicht nur spiegelt, sondern Antworten darauf sucht. Getreu dem Motto: „Sei die Veränderung, die Du in Gang setzen willst“.

„Arbeit ist sichtbar gemachte Liebe“ zitiert Catharina Bruns Khalil Gibran. Damit sind wir sehr nah an den Motiven, die den Aufbruch der Diakonie im 19. Jahrhundert kennzeichnen. Es ging um Liebe – um die Liebe zu den Schwachen in den Zeiten der ersten Globalisierung und Industrialisierung; es ging darum, den Ausgeschlossenen zu zeigen, wozu sie gebraucht wurden. All die Kindergärten, Kranken- und Rettungshäuser entstanden aus den Initiativen Ehrenamtlicher – von Unternehmern, Kommunalbeamten, gut ausgebildeten Frauen ohne Beruf. Fromme Christen wurden von ihrem Glauben bewegt, Pfarrerinnen und Pfarrer versuchten, ihre Kirche einzubinden. In diesen Initiativen entstanden die neuen sozialen Berufe – für arbeitslose junge Männer, für alleinstehende Frauen, die eine Aufgabe suchten: sie wurden Diakonissen, Erzieherin oder Krankenschwester, Handwerker und Diakone. Berufung, Nächstenliebe, Gemeinschaft waren die Schlüsselfaktoren der neuen Bewegung – so entstanden Ketten der Hilfe als Alternative zu den Vertriebsketten auf den neuen globalen Märkten.

Wie kommt es, dass die Frage nach der Berufung heute wieder eine zentrale Rolle spielt? Ist die Geschichte des Verzichts und der Selbstausbeutung in der Diakonie schon vergessen? Für mich zeigt sich daran, dass wir erneut in einer globalen Transformation leben – von der Dienstleistungs- zur Wissensgesellschaft. Mit wachsenden Erwartungen an Mobilität und Verfügbarkeit, neuen Abhängigkeiten, Verdichtungen und Überforderungen. Die Wachstumsgesellschaft scheint an eine Grenze zu stoßen, die Wohlfahrtindustrie steht unter erheblichem Druck, die versprochene Vereinbarkeit von Beruf und Familie gelingt so nicht. In dieser Situation ist das Einkommen für viele nicht mehr der entscheidende Glücksparameter: es geht um ein gutes Leben. Viele wechseln aus ganz anderen Branchen in Kirche oder Diakonie, weil sie nach einer sinnvollen Arbeit suchen – um dann zu erleben, dass die Sozialbranche nach denselben Gesetzen gesteuert wird, wie andere auch.

Dieser Widerspruch ist allerdings Anlass, sich wieder neu auf die eigene Unternehmenskultur zu besinnen. Anspruch und Wirklichkeit zu reflektieren. „Die Arbeit ist für viele Menschen der Ort, an dem sie sich selbst verwirklichen möchten – und zugleich der Ort, an dem die Auswirkungen von Beschleunigung, Rationalisierung und Globalisierung großen Druck ausüben. Die Anpassung an diese Bedingungen fordert Reflexion und Verantwortung. „(Wir müssen) unsere Orientierungskoordinaten ständig überprüfen“, schreiben Unger und Kleinschmidt in ihrem Buch „Bevor der Job krank macht“.[5] Das gilt für Mitarbeitende in der Diakonie in besonderer Weise. Es ist klar: hier geht es um Nächstenliebe – an diesem großen Versprechen werden wir gemessen. Und zwar nicht nur persönlich, sondern auch mit den Rahmenbedingungen unserer Arbeit, für die wir nur sehr begrenzt verantwortlich sind, weil sie bis weit hinein in Gesellschaft und Politik reichen. Der Philosoph und Politikwissenschaftler Matthew Crawford, der mit den widersprüchlichen Anforderungen in dem Thinktank, in dem er arbeitete, nicht mehr zu Recht kam, kündigte und eröffnete stattdessen eine Motorradwerkstatt. Ein Teil der Befriedigung liegt für ihn darin, dass er den Sinn seines Tuns in seinem Handeln findet. Dabei hält er es für entscheidend, dass Arbeit uns in einer Wertegemeinschaft verankert.

Was ich tue, sagt er, ist Teil eine umfassenderen Bedeutungskreises – es dient einer Aktivität, die wir als Teil des guten Lebens betrachten. Dieses Bewusstsein, das gar nicht ausgesprochen werden muss, konstituiert die Gemeinschaft, in der wir arbeiten. Wir stehen in einer Art „tätigem Gespräch“ miteinander – und durch dieses Gespräch kann die Arbeit unser Leben zu einem in sich schlüssigen Ganzen machen. Das gilt eben nicht nur für Sozialarbeiter oder Pflegende, sondern auch für Handwerker und Fotografen. Um hier gute Arbeit zu tun, schreibt Crawford, muss man nicht nur Fotos machen, sondern Fotograf werden – man stellt sich damit in eine lange Traditionsreihe von Menschen, denen es vor allem um eines ging: Man muss sehen lernen.

Auch wir – Sie und ich – stehen in einer solchen Traditionskette, die über unsere eigene Berufung hinausreicht. Wer Pädagogik, Soziale Arbeit oder Pflege studiert, will vor allem eins: für Menschen da sein. Dem sollten die diakonischen Einrichtungen mit ihren Ämtern und Diensten, mit den Kirchen und Andachten, den Gärten und Bildungseinrichtungen dienen. Wo anderes ins Zentrum rückte, müssen wir sie kritisch sehen. Und wenn wir merken, dass die heutigen Rahmenbedingungen unserer Arbeit mit diesem Ziel nicht mehr übereinstimmen, müssen wir uns kritisch einbringen, um nicht auszubrennen oder zynisch zu werden. Ich erinnere nur an Ärzte, die ihre Eingriffe nicht zuerst an den Patienten, sondern an der Budgetplanung orientieren. Und ich weiß aus Erfahrung: auch diakonische Krankenhäuser und Dienste stehen im Spannungsfeld von Fachlichkeit, Wirtschaftlichkeit und Politik. Deshalb führt eben kein Weg daran vorbei, Konflikte beim Namen zu nennen und über die Arbeitsbedingungen zu sprechen.

Das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD hat 2011 eine Studie über Arbeitsbedingungen in der Pflege herausgegeben. Angesichts hoher Burnoutgefährdung wurde nach Arbeitszufriedenheit und Sinnerleben im Beruf gefragt. Es wird niemanden überraschen, dass sich knapp die Hälfte der Befragten mit Entlohnung und Anerkennung ihrer Leistung unzufrieden zeigten, dass 80 Prozent über Zeitdruck klagten – dass aber umgekehrt an erster Stelle der Zufriedenheit die vielfältigen Aufgaben und vor allem die sozialen Beziehungen zu den Kollegen standen. Für immerhin 69 Prozent der Befragten spielte das Team eine zentrale Rolle für die eigene Arbeit. An erster Stelle das Wohl der Patientinnen und Patienten, aber gleich danach ein gutes Team, eine sinnstiftende Tradition und schließlich die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung – in dieser Reihenfolge.

Wer sich für andere einsetzen, wer wirklich kämpfen und etwas verändern will, muss wissen, dass er damit nicht allein steht. Auch das gehört zur DNA sozialer Berufe und Gemeinschaften, die im Zweifel auch ihre Träumer, Ketzer und Außenseiter geschützt haben. In seinem Buch über Zusammenarbeit hat der Soziologe Richard Sennet dargestellt, wie wesentlich Kooperation ist, um Zusammenhänge wahrzunehmen und wie sehr dieser Blick aufs Ganze angesichts unserer oft so zerstückelter Jobs, Zeitarbeitsverhältnisse und individualisierter Medien bedroht ist. Angesichts wachsender Ungleichheit und institutioneller Fragmentierungen im Neoliberalismus wächst der Wunsch nach Solidarität, während zugleich Gewerkschaften zersplittern. Auf diesem Hintergrund, so Sennet, suchen, viele eine destruktive Solidarität, sie verteidigen das Eigene auf Kosten und in Abgrenzung zu anderen. Sennet macht deutlich, wie wichtig dagegen Organisationsstrukturen sind, die ein Miteinander in Vielfalt ermöglichen – inklusive Schulen, gemischte Wohnquartiere, ein Unternehmen, das Migranten integriert, Stationsbesprechungen über die Berufsgruppen hinweg. Interessanterweise zeigt er das am Beispiel von Gemeinschaften, die im 19. oder im frühen 20. Jahrhundert entstanden sind – wie die catholic–workers-Bewegung. Oder unsere diakonischen Gemeinschaften.

 

5. Rhythmen, Räume, Rituale: Kultur ist mehr als Organisation

„Der moderne Individualismus steht meines Erachtens nicht nur für einen persönlichen Impuls, sondern auch für einen sozialen Mangel, einen Mangel an Ritualen… Die moderne Gesellschaft hat die durch Rituale hergestellten Bindungen geschwächt“, schreibt Sennet am Schluss seines Buches. In der Tat können Rituale in Umbrüchen das Gemeinsame sichtbar machen, eine schwierige Situation in einen neuen Rahmen stellen, die Gemeinschaft wieder an den Koordinaten auszurichten, die sie prägen. Sie können Komplexität reduzieren, Abschiedsprozesse und Übergänge gestalten, Dankbarkeit zum Ausdruck bringen. Dorothea Echter, die ein Buch über Rituale im Management geschrieben hat, sieht darin „den Erfolgsfaktor Nummer Eins in Unternehmen, die Menschen, ganz neu und anders in den Mittelpunkt zu stellen.“[6]

Diakonie ist reich an Ritualen – mit Weihnachts- und Sommerfesten, Tagen der Offenen Tür, Einweihungen und Jubiläen. Rituale können den Alltag unterbrechen, Lebensschwellen bewusst machen, dem Leben Rhythmus geben. Bei Geburtstagen und Jubiläen, Abschied und Neuanfängen. Die Kaiserswerther Schwesternschaft hatte ein eigenes Liturgiebuch mit Einsegnung und Aussegnung und Reisesegen. Daran ließ sich anknüpfen mit neuen Ritualen, Segnungen für Neugeborene, Teamrunden, Zukunftswerkstätten. Was wir heute dabei brauchen, ist allerdings eine interkulturelle Sensibilität, die auch die Traditionen der muslimischen Bewohner oder der orthodoxen Mitarbeiter achtet. Wenn Menschen das Gefühl haben, das sie ihre eigenen Traditionen einbringen können, wenn auch Angehörige, Nachbarn, Geschäftspartner eingeladen werden, dann entsteht ein Resonanzraum. Der Sinn des Ganzen wird sichtbar und sinnfällig. Im gemeinsamen Feiern, Essen und Trinken, in Musik und Reden. Da werden dann die alten Geschichten erzählt, Neuanfänge initiiert, Brücken geschlagen – Bindung entwickelt. So verwurzeln wir uns.

Neben den Ritualen sind es oft genug Projekte, die Herkunft und Zukunft neu verknüpfen und damit das Ganze sichtbar machen: Eine Schule in Kaiserswerth machte sich einen Namen durch ihre Freiwilligendienste in der gesamte Region – zum Abschluss lud sie immer die Partner und Sponsoren ein. Ein Krankenhaus in Halle lässt jeden Mittag Luftballons für die Neugeborenen aufsteigen und lädt dazu Verwandte und Mitarbeitende ein. Im Rahmen des Palliativ-Care-Projekts der Kaiserswerther Diakonie entwickelte die Schreinerei eine Lade für die Aussegnungen auf den Stationen – mit Kerze und Karte und einem kleinen Parament, das von Ehrenamtlichen gestickt wurde. Solche Initiativen halten nicht für die Ewigkeit; sie vergehen wieder, weil sie an bestimmten Personen und ihren Begabungen hängen. Die Initiatoren sitzen meist nicht in der Führungsetage – es sind Künstlerinnen, Lehrer, Fotografen, Träumer. Sie sind diejenigen, die die alten Instrumente der Unternehmenskultur neu zum Klingen bringen. Kunst und Spiritualität öffnen unseren Blick für eine andere Wirklichkeit – jenseits der Kennzahlen und Zielvereinbarungen und schaffen damit Zugehörigkeit.

In diesen Prozessen geht es auch um die Räume. Krankenhäuser und Altenhilfeeinrichtungen haben in den letzten Jahren Abschiedsräume gestaltet. Mit einer Kerzenbank vielleicht, einem Stein mit Namen für jeden Verstorbenen. Oder einer Rose. So wie es die Hospizbewegung gezeigt hat. Jugendhilfeeinrichtungen und Jugendkirchen haben ehemalige Gemeindekirchen zu Cafés oder auch zu Kletterräumen gemacht – Konfirmandengruppen übernachten im Dom. Neue Gärten, Brunnen und Labyrinthe entstehen, Mittagstische werden in Zeiten des Tablett-Caterings wieder zu einem Herzstück diakonischer Kultur.

In all dem zeigt sich die diakonische Kultur der Gastfreundschaft, die beides verbindet – die Gestaltung von Räumen und Ritualen: der gedeckte Tisch symbolisiert Gemeinschaft, das barrierefreie Hotel, das von Künstlern gestaltete Haus für Obdachlose zeigt: Du bist willkommen, kannst zu Dir kommen und Geborgenheit finden. Das Teemobil, das jetzt durch verschiedene Dörfer fährt, erzählt davon, dass eine Tasse Tee oder Kaffee überall auf der Welt Menschen ins Gespräch bringen kann. Unternehmenskultur wird sinnfällig und berührt über alle Ebenen: Werte, Beziehungen, Räume und Rituale.

 

6. Verantwortung für Partner und Netzwerke – CSR hat Geschichte

Damit Transformationen gelingen, sind Netzwerke nötig. Und Gott sei Dank arbeiten ja nicht nur soziale Unternehmen an einer neuen Sozialkultur. Auch hier wird es Unternehmen geben, die ganz bewusst ihre soziale Verantwortung wahrnehmen. Kommunen, die gesellschaftliche Netze bilden – für eine familienfreundliche oder altersgerechte Stadt oder auch für die Inklusion von Menschen mit Behinderung in Wirtschaft, Arbeitswelt, Schule und Nachbarschaft. Es gibt Initiativen für Nachbarschaftscafés, Demenznetzwerke, Bürgerbusse – und es lohnt sich gerade für soziale Unternehmen, mit allen Akteuren im Dritten Sektor zu kooperieren. Die Gründerpersönlichkeiten unserer Einrichtungen lebten von ihren guten Verbindungen zu Politik, Kirche und Unternehmern. Oft genug waren es ehrenamtliche Politiker, selbständige Unternehmer, die ihre Arbeit ins Leben rufen – einfach engagierte Christinnen und Christen, manchmal auch Pfarrer. Es hat eine Weile gebraucht, bis unser versäulter Wohlfahrtstaat sich auf diese Tradition besann; jetzt aber arbeiten Familienzentren oder Mehrgenerationenhäuser wieder ganz selbstverständlich mit Bürgerinitiativen und mit den örtlichen Unternehmen zusammen. Nach der Ökonomisierung des Sozialen geht es heute um die Sozialisierung der Ökonomie. Kommunale Netzwerke für eine familienfreundliche und alternsgerechte Stadt gehen von Handwerks- und Unternehmensverbänden genauso aus wie von Vereinen – und noch nicht oft genug von der Kirche.

Wir sollten uns aber nicht zu schade sein, auch von Wirtschaftsunternehmen zu lernen, was eine soziale Unternehmenskultur ausmacht. Mit dem Arbeitsplatzsiegel „ARBEIT PLUS“ hat die Evangelische Kirche in Deutschland vor mehr als 15 Jahren definiert, was sie unter „Guter Arbeit“ versteht. Mit einem Evaluationsverfahren, das in Zusammenarbeit mit dem Institut für Wirtschafts- und Sozialethik in Marburg eingesetzt wird, werden die Unternehmen auf Lebenschancen, Beteiligungschancen, Entfaltungschancen und Sozialkultur untersucht. Da geht es um die Beschäftigungschancen für Langzeitarbeitslose und Schwerbehinderte. Um Fort- und Weiterbildung und Gesundheitsmanagement. Familienförderung und Age Management kommen in den Blick. Und schließlich geht es um Mitarbeiterbeteiligung, Führungskultur und Corporate Citizenship. Das alles wird nicht nur an Zahlen überprüft, sondern auch mit Vorstand und Betriebsrat diskutiert. Und dabei spielt auch die Unternehmenskultur eine Rolle.

Unternehmen wie Henkel oder Ford unterstützen ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei ihrem freiwilligen Engagement – lassen sie vielleicht für ein ganzes Jahr einen Auslandsdienst übernehmen. Siemens schickt Mitarbeitende als Lehrer an die Schulen. Die Deutsche Bank hat Caring-Büros, in denen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Hilfe bekommen, wenn die Mutter, die an einem anderen Ort wohnt, plötzlich Pflege braucht. Oder wenn das eigene Kind krank wird. Ein Architekturbüro hat einen gemeinsamen Mittagstisch eingeführt und in meinem Sportstudio duzt man sich: Unternehmenskultur.

Je mehr die Gesellschaft sich spaltet, die Exklusion wächst, der öffentliche Raum schwindet, Familien die Kraft zur Integration verlieren, desto wichtiger wird es, dass gerade wir in der Diakonie Gemeinschaft stiften, Familien unterstützen und junge Leute ermutigen, für andere da zu sein. Und je mehr Diakonie zur Dienstleistung wird, desto wichtiger wird aber, dass Diakonie und Kirche wieder zusammenarbeiten. Denn Gemeinden haben ein hohes Sozialkapital – an Kontakten, Netzwerken und Beziehungen. Pfarrerinnen und Pfarrer, Kirchenvorstände und Ehrenamtliche leben im Stadtteil und können schnell und informell Anknüpfungspunkte finden. Kirchen haben zudem noch immer enorme Ressourcen an Land und Immobilien und in aller Regel einen großen Vertrauensvorschuss. Wer die Chancen, die damit verbunden sind, nutzen will, muss Brücken zu bauen – zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen, zwischen Professionalität und Lebensweltorientierung zwischen Nachbarschaft und Dienstleistern. Dieser Brückenbau gehört zu den Traditionen der Diakonie. Denn eine Zeit, die ihre soziale Energie sich aufs Geschäft und auf die Frage der Nützlichkeit reduziert, ist (…) widerwärtig“ und „sie beraubt die ihr unbedacht Folgenden auch aller Erfahrungen von Fürsorge, Loyalität und Großzügigkeit“[7], schreibt Ariadne von Schirach in ihrem Buch „Du sollst nicht funktionieren“. Aus dieser Erfahrung erwächst eine starke Gegenbewegung in der Zivilgesellschaft. Bürgerinnen und Bürger engagieren sich ganz bewusst für das Ganze. Gleich, ob es um Armut oder um die Zukunft der Pflege geht oder um die Inklusion behinderter Menschen geht oder um die Integration von Flüchtlingen geht. Auch daran lässt sich anknüpfen.

 

7. Unternehmenskultur gestalten – Spannungsfelder guter Arbeit

Work is not a job. Work with people, who love their job. And stand up for something, sagt Catharina Bruns. Darum geht es mir heute. In einem der Zukunftsworkshop der Kaiserswerther Diakonie gingen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an die faszinierenden Orte und an die Brennpunkte, die Tradition und Image des Unternehmens prägten. Eine Tafel aus dem alten Krankenhaus war dabei – Was darauf stand, verstand eigentlich niemand mehr: „Ich bin der Herr, Dein Arzt“, der Schwesternfriedhof der Diakonissen gehörte dazu und auch die Frühgeborenengräber auf dem diakonischen Friedhof. Und natürlich das Mutterhaus mit den Bibelsprüchen im Eingang. Jede Gruppe kam mit einer Tafel, einem Bild, einem Anspiel zurück. Die Gruppe, die aus dem Mutterhaus kam, brachte ein Poster mit: „Zwischen Verheißung und Verheizung“ stand darauf. Sie hatten sich intensiv über die Unternehmenskultur der Diakonissenanstalt ausgetauscht, die das Werk so lange geprägt hatte. Aber ihnen war auch bewusst geworden, dass wir selbst in einem solchen „Zwischenraum arbeiten“: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen einer großen Motivation und den kleinen, oft bürokratischen Rahmenbedingungen, zwischen augenöffnenden Begegnungen und knapper Refinanzierung, zwischen Kollegialität und Konkurrenz gestalten wir Arbeit und Unternehmenskultur. Wir müssen Arbeitsprozesse planen – aber wir dürfen dabei nicht vergessen, dass der Umgang mit Zeit nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine soziale und eine geistliche Dimension hat. Wir brauchen Qualitätsstandards und Routineprozesse, aber wir dürfen nicht vergessen, dass gerade die lebendige Verschiedenheit innovatives Potenzial hat und dass wir an Störungen lernen. Die Einzelnen brauchen eigenverantwortliche Spielräume – und gleichwohl geht es um eine gemeinsame Kultur. Wir folgen der Leitidee einer Dienstgemeinschaft und müssen uns gleichwohl mit der Spaltung von Kernbereichen und Servicebereichen auseinander setzen. Lauter Spannungsfelder. Ich wünsche Ihnen, dass sie in diesem Zwischen immer wieder Freiräume schaffen können – für den gemeinsamen Mittagstisch, für ein Fest oder ein Gedenken, für ein neues Projekt. Anregungen gibt es genug. Nicht nur aus unserer Geschichte, sondern auch von unseren Partnern vor Ort. Geben Sie nicht auf, sich dafür einzusetzen. Denn die Geschichte der Diakonie zeigt: die Orientierung an den Referenzwerten muss immer neu gewonnen werden- in immer neuen Formen, Projekten, Unternehmensaufstellungen. In Spannungen und in Konflikten. Aber: genau diese Geschichte gibt uns auch Inspiration und einen langen Atem, Kraft, mit dem aktuellen Druck zukunftsorientiert umzugehen.

 

 

[1] Höhler, Gertrud: „Die Sinn-Macher“, Wer siegen will, muss führen, München 2002, S. 339ff.

[2] Elke Schlehuber, Rainer Molzahn: Die heiligen Kühe und die Wölfe des Wandels, warum wir ohne kulturelle Kompetenz nicht mit Veränderungen klarkommen.“, Offenbach 2007

[3] Heinz Bude, Gesellschaft der Angst, 2015

[4] Catharina Bruns, Work is not a job, 2015

[5] Unger, Hans-Peter/Kleinschmidt, Carola: Bevor der Job krank macht, München 2006, S.

[6] Dorothee Echter, Rituale im Management, Strategisches Stimmungsmanagement für die Business Elite, München 2003, S.

[7] Ariadne von Schirach, Du sollst nicht funktionieren, Für eine neue Lebenskunst, München 2014, S. 148