Das darf nicht sein. Dass Schulen und Krankenhäuser beschossen werden. Dass Familien auf der Flucht in ihren Autos sterben. Dass Menschen in den belagerten Städten ohne Wasser, Strom und Gas frieren und hungern. Dass die Supermärkte leer sind. Es darf nicht sein, dass die wunderbaren Städte, die schönen alten Kirchen in Schutt und Asche liegen. Und dass ein Land ein anderes überfällt. Krieg darf nach Gottes Willen nicht sein.
Plötzlich höre ich Worte, die mich an die Kriegsgeschichten meiner Kindheit erinnern: Ausgebombt, verschüttet, entführt und verhört. Ich denke an die Familien, die damals ohne Väter blieben. An die Ruinen, in denen ich gespielt habe. Ich denke an die Kriegskinder, die jetzt im Alter noch einmal sehen, was sie nie wieder erleben wollten. Und an die Menschen unter uns, die aus den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien geflohen sind, aus Syrien oder Afghanistan oder vom Horn von Afrika. Alte Wunden reißen auf.
Wir sind in einer anderen Welt aufgewacht, hat Anna-Lena Baerbock am 24. Februar gesagt. Und es war eine Zeitenwende für uns alle. Tatsächlich sehen wir die Welt jetzt mit anderen Augen. Plötzlich erkennen wir, wie lange dieser Krieg geplant war – wir hätten es wissen können, aber wir haben Putin nicht ernst genommen. Jetzt sehen wir eine Aggression, die wir in Europa nicht mehr für möglich hielten. Unsere Träume vom ewigen Frieden sind wie Seifenblasen zerplatzt. Wir sehen russische Soldaten – 18, 19 Jahre alt-, die aus dem fernen Sibirien in die Ukraine gebracht werden. Wir hören von den Soldatenmüttern, die jetztum ihre Söhne bangen und trauen. Wir erleben, wie mutige Demonstranten in Moskau und St. Petersburg zusammengeknüppelt werden. Und wir bewundern den Freiheitswillen und den Widerstand der Menschen in der Ukraine. Es war und ist richtig, dass wir den Widerstand, dass wir die Notwehr dieses Volkes unterstützen. Mit Sanktionen, ja – auch mit Defensivwaffen. Aber jetzt braucht es eine Waffenruhe, eine Feuerpause. Die Ukraine braucht sichere Fluchtkorridore für die Kinder, die Alten, die Familien.
Dabei weiß ich, viele wollen bleiben. So war es auch im letzten Krieg, als wir Deutschen das Land überfielen. „Ich fragte meine Mutter, warum ihre Großmutter Anna in Kiew geblieben sei“, schreibt die ukrainische Schriftstellerin Anna Petrowskaja. „Sie habe das Grab ihres Ehemanns Ozjel nicht verlassen wollten, sagte meine Mutter voller Gewissheit, und dann fügte sie etwas weniger überzeugt hinzu, Anna habe gedacht, es gäbe keine Notwendigkeit zu fliehen, oder vielleicht sei sie zu alt für die Flucht gewesen – aber eigentlich wisse sie das nicht“. Ich lese das und denke an die alte Frau, die sie in einer Schubkarre aus einem Dorf bei Kiew herauszogen.
Aber dieser Krieg findet nicht nur in der Ukraine statt. Die Flüchtlinge entfliehen ihm nicht. Er betrifft uns alle. Beim Presseclub gestern Mittag saßen die internationalen Gäste vor den Bildern der zerstörten Stadt Charkiv. Das ist die jetzt die Welt, in der wir leben und es gibt keinen Lebensbereich, der nicht betroffen ist: Von der Ernährung bis zur Kultur, von Social Media bis zur Wirtschaft. Der Informationskrieg, der nun in der ganzen Welt stattfindet, tobt auch in unseren Köpfen: Es geht auch um unsere Freiheit und um unsere Demokratie.
Die Kriegslogik in unseren Köpfen – sie lässt uns den Blick nicht vom Handy nehmen. Viele können nicht mehr ruhig schlafen. Aber es ist wichtig, die Augen einmal zu schließen. Zur Ruhe zu kommen und Kraft zu schöpfen. Es ist wichtig, neue Klarheit zu gewinnen, damit der Hass nicht die Oberhand gewinnt. Damit wir uns immer wieder verwurzeln im Frieden. Denn der Friede ist da – auch wenn wir ihn nicht sehen. In uns , um uns – eine andere Wirklichkeit. Menschen singen, Orchester spielen vom Frieden. Andere gehen in eine Kirche und zünden Kerzen an. Ich schließe die Augen und bete. Und heute stehen wir zusammen.
Der Krieg ändert unser Leben total. Aber er hat nicht das letzte Wort. Das letzte Wort ist Frieden. Frieden machen, das ist der Ernstfall. Noch weiß niemand, wie das gehen soll in er Ukraine. Aber wir können viel tun, damit das bei uns gelingt: Wir können die Augen und die Hände aufmachen. Wir können spenden und Hilfsmittel liefern. Und wir können für die Geflüchteten da sein, die jetzt am Messebahnhof ankommen. Bei uns werden sie wohnen, ihre Kinder werden in unsere Schulen gehen – so wie die Kinder und Jugendlichen, die mit ihren Eltern aus Russland gekommen sind. Wir können dafür sorgen, dass der Krieg nicht weitergeht auf unseren Schulhöfen oder in den Pflegeteams in unseren Heimen und Krankenhäusern. Das darf nicht sein, dass Menschen nach nationaler Herkunft getrennt werden. Wir sind eine offene Gesellschaft- das macht unsere Freiheit aus. Die Freiheit, nach der sich so viele sehnen. In der Ukraine und auch in Russland. Die Demonstranten in Moskau und St. Petersburg, die Künstlerinnen und Künstlern, die Wissenschaftlern: Vergessen wir sie nicht. Sie sind die zweiten Opfer des Krieges. Denn Kriege kann man nicht gewinnen. Kriege kennen nur Verlierer. Gewinnen werden wir nur im Frieden.