Transformation – Reformation: Aufbrüche in Umbrüchen

1. Risse im Gemäuer

„Wie ein Riss in einer hohen Mauer“ – so beschrieb der Prophet Jesaja einen zunächst kaum wahrnehmbaren Veränderungsprozess von grundstürzenden Ausmaßen in Israel, der schließlich zum Kollaps des Reiches führte. 2009, kurz nach der Finanzkrise, griff der Rat der EKD dieses Zitat auf. „Wie ein Riss in einer hohen Mauer“ wurde der Titel einer Stellungnahme zur globalen Wirtschafts- und Finanzmarktentwicklung. Der Riss, von dem der Prophet spricht (Jes 30), ist zunächst kaum sichtbar, aber er frisst sich ins Gemäuer, bis der Mörtel rieselt, der die Steine hält, und am Ende die ganze Mauer einstürzt. Inzwischen haben viele da Gefühl, dass etwas ähnliches passiert – die Schutzmauern brechen. Der Rahmen, in dem sich unser Leben bisher abspielte, hat Brüche. Der Zusammenhalt zerbröselt. Wir erleben eine große gesellschaftliche Transformation – nicht erst in der Finanzkrise von 2007/8 haben wir den Riss gespürt; auch der Anschlag auf das World Trade Center 2001 und der Zusammenbruch der Sowjetunion um 1989 markieren den Umbruch – genauso wie zuletzt die so genannte Flüchtlingskrise von 2015.

Als Große Transformation bezeichnete der ungarisch-österreichische Wirtschaftssoziologe Karl Polanyi 1944 den Wandel der westlichen Gesellschaftsordnung im 19. und 20. Jahrhundert vorwiegend am Beispiel Englands in der Zeit der Industrialisierung. Damals kam es zu tiefgreifenden sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen – zur Herausbildung von Marktwirtschaften und von Nationalstaaten. Auch in Deutschland brachen für viele Menschen die sozialen Zusammenhänge, die sie getragen hatten, zusammen. Die Schattenseite der neuen Produktivität, des Anwachsens der Städte und des steigenden Wohlstandes waren Arbeitslosigkeit und Armut, Wohnungsnot und in der Folge oft Kriminalität, allein gelassene und verwahrloste Kinder und Kranke. Damals suchten die Gründerinnen und Gründer der neuzeitlichen Diakonie wie Theodor und Friederike Fliedner in Kaiserswerth oder Johann Hinrich Wichern in Hamburg kirchliche und soziale Antworten auf diese neuen Herausforderungen. Sie gingen in die Armutsquartiere, nahmen Menschen, die aus dem Gefängnis kamen, bei sich auf, und sie reisten durch Europa, im die Auswirkungen der Krise dort zu studieren, wo die Probleme sich besonders deutlich zeigten. Nach England zum Beispiel oder in die Niederlande. Denn die damalige Transformation war europaweit zu beobachten. Zu den Hauptproblemen gehörten die Überforderung der Familien, Nachbarschaften und Kommunen – die Institutionen, die Halt gaben, trugen nicht mehr, weil die Welt durchgeschüttelt wurde.

Es hat lange gedauert, bis am Ende des Jahrhunderts nationale Sicherungssysteme entstanden, die unseren Sozialstaat heute noch konturieren. Vom Vormärz bis zu Bismarck gab es heftige gesellschaftliche und politische Auseinandersetzungen. Aber Gott sei Dank gab es auch christliche Bürgerinnen und Bürger, die aus ihrem Glauben heraus neue Initiativen entwickelten – wie Raiffeisen, Amalie Sieveking oder die Fliedners. Sie gründeten Vereine, sie schufen Genossenschaften, Gemeinschaften und Wahlfamilie, Kindergärten und Pflegeeinrichtungen, dazu neue Berufe und Ausbildungsgänge und Quartierskonzepte für die Städte. Diese Offenheit für neue Ideen, das bürgerschaftliche Engagement von Stadträten, Unternehmern, adeligen und bürgerlichen Frauen und die Überzeugung, von Gott gebraucht zu werden, haben mich immer begeistert. Das alles hat schließlich dazu geführt, dass sich in Innerer Mission und Caritas neue Netzwerke bildeten, auf denen auch die Politik weiter aufbauen konnte.

Das macht mir Mut, wenn ich auf die Veränderungsprozesse schaue, die wir gerade erleben. Zu reden ist von unsicheren Arbeitssituationen, von steigenden Mieten in den Innenstädten, von Migration und Mobilität und – wie damals – von überforderten Familien. Von Menschen, die nicht mithalten konnten in der immer schneller sich drehenden Arbeitswelt nicht mithalten können, deren traditionelle Bezugssysteme ins Wanken geraten sind. Von der Angst vieler älterer Menschen, keine gute Pflege zu bekommen – und der Sorge der Jungen, dass die Rente nicht mehr ausreichen wird, wenn sie darauf angewiesen sind.

Dis-embedding ist eine Schlüsselkategorie der Moderne. Der klar und verlässlich gezeichnete Rahmen, in dem viele von uns noch aufgewachsen sind, hat sich aufgelöst – das gilt für Geschlechterrollen wie für Familienbilder, für Biographien wie für Berufswege. Heute wohnen die allermeisten Menschen nicht mehr an dem Platz, an dem sie arbeiten, ja – sie wechseln Wohnort und Arbeitsplatz und auch Familienkonstellation und Lebensform oft mehrfach im Leben. Wir erleben, wie Ehen und Partnerschaften zerbrechen, und wie auch der Glaube sich verflüchtigt in unserer säkularen, vielfältigen Welt. Die Verbundenheit mit der Kirche geht zurück, die Identifikation mit dem christlichen Abendland wächst. Was also kann die Kirche, können Christinnen und Christen heute zum Wandel beitragen?

 

2. Auf der Suche nach Heimat und Identität

20 Jahre ist es nun her, da stand ich im Osten Londons, in einem herunter gekommenen Hafenviertel, vor einer verrammelten Kirche. Eine Gruppe rheinischer Theologinnen und Theologen auf der Suche nach Impulsen für die Kirche der Zukunft – auf Erkundungsreise, wie vor uns schon Fliedner und andere. Was damals in der Church of England geschah, ist inzwischen Alltag auch hier: Kirchen werden geschlossen, aufgegeben und verkauft. Und manche werden umgewidmet – sie werden zu Synagogen, zu Moscheen oder zu Gemeinschaftshäusern. Wie wichtig die Kirchen für das Quartier sind, das war damals in London schon spürbar. Unsere Gruppe traf sich mit einer Bürgerinitiative, die um den Erhalt der verschlossenen Kirche kämpfte. Mitten in einem globalisierten Viertel mit Menschen aller Hautfarben und Religionen, in dem die Armut offensichtlich groß war. Es war verständlich, dass der Bischof von London zur Überzeugung gekommen war, diese Kirche werde nicht mehr gebraucht und sei auch nicht mehr zu finanzieren – oder? Nun, die Menschen, die wir trafen, waren ganz anderer Auffassung. Es stimmte, viele lebten nicht mehr hier. Aber diese Kirche war der Ort, wo sie getauft und getraut worden waren, wo sie auch ihre Kinder hatten taufen lassen. Hier waren sie gesegnet worden, hatten dazu gehört. Hier war ihre Heimat. So etwas gibt man nicht einfach auf.

„Wir lassen der Dom in Kölle“, singen die Black Föös, und ganz ähnlich geht es den Hamburgern mit ihrem Michel und den Münchnern mit der Frauenkirche. Auch für Menschen, die selbst kaum noch hingehen, bleiben die Kirchen eng mit ihrer Heimat verbunden. Der Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden wurde zum zentralen Symbol für den Neuaufbau der Stadt. Noch immer geben die Kirchen in Europa Orientierung in Raum und Zeit – Kirchtürme lassen uns sicher durch die Städte navigieren und wenn die Glocken den Sonntag einläuten, stellt sich ein sentimentales Heimatgefühl ein – die Erinnerung an einen Lebensrhythmus, der so ganz anders ist als die 24/7-Gesellschaft von heute. Kirchen sind Teil unserer kulturellen Identität. Daran erinnern auch die Kirchenkuratoren und Kirchenkuratorinnen, die heute dafür sorgen, dass Dorfkirchen in Brandenburg oder in Mitteldeutschland saniert werden – die Orgelpaten suchen, Veranstaltungen planen, die Kirchen offen halten, auch wenn sie selbst gar nicht Mitglied sind.

Aber dass Familien über mehrere Generationen an einem Ort wohnen, ist längst keine Selbstverständlichkeit mehr. Junge Leute ziehen in die prosperierenden Regionen; zurück bleiben die Älteren, weniger beweglichen – häufig mit Wohneigentum, das sich in schrumpfenden Regionen kaum verkaufen lässt. Väter pendeln von Ost nach West zur Arbeit – wo bereits Kinder in der Familie leben, sind es dann häufig die Mütter, die bleiben. Und auch kinderlose Paare kennen Lebensphasen, in denen sie aus beruflichen Gründen über lange Zeit getrennt leben. Wer häufig umzieht, verliert leicht die alltägliche soziale Einbettung in Familie und Nachbarschaft und damit auch den Zugang zu Kirche und Gemeinde. Das Zerbrechen der hergebrachten sozialen Bezüge ist dabei nicht nur eine emotionale Herausforderung. Alleinerziehende mit kleinen Kindern, aber auch alte oder pflegebedürftige Menschen geraten bei der Bewältigung des Alltags enorm unter Druck, wenn sie nicht auf die selbstverständliche Hilfe von Angehörigen, Nachbarn und Freunden zurückgreifen können. Nur noch ein Viertel der erwachsenen Kinder wohnt mit den Eltern am gleichen Ort – und so geht auch die Möglichkeit, kleine Alltagsdienste zu übernehmen, signifikant zurück.

Und auch die Nachbarschaften verändern sich, weil Menschen von anderswoher zuziehen – als Arbeitssuchende, Migranten oder Geflüchtete. Manche, wie die Einwanderer der 60er Jahre aus Südeuropa oder aus der Türkei, gehören mit ihren Familien seit Generationen dazu; und dennoch hat sich noch nicht überall ein echtes Miteinander entwickelt. Ich erinnere mich an die wütenden Briefe, die ich vor 20 Jahren im rheinischen Landeskirchenamt erhielt, als es um den lautsprecherverstärkten Muezzinruf in Duisburg ging. Wo die Arbeitslosigkeit hoch ist, wo viele leben, die von Transfereinkommen abhängen, wächst die Angst vor dem Verlust des „Eigenen“ – des eigenen Arbeitsplatzes, der eigenen Kultur, der gewohnten Nachbarschaft, ja auch der eigenen Kirche. Da wird spürbar, was Heimat ausmacht: sich auskennen, gebraucht werden, dazugehören. Im Duisburger oder Essener Norden aber leben Menschen zusammen, die sich alle auf ihre Weise ausgeschlossen fühlen – als Hartz-IV-Empfänger, Pflegebedürftige, Migrantinnen, oder kinderreiche Familien. „Gemeinsam ist ihnen, dass sie die Überzeugung gewonnen haben, dass es auf sie nicht mehr ankommt.“, schreibt der Soziologe Heinz Bude. Die Erfahrung von Entwurzelung und Identitätsverlust gehört zu den Schattenseiten der großen Transformation heute wie im 19. Jahrhundert.

 

3. Die Zeichen deuten – die Zeit verstehen

In den gegenwärtigen politischen Debatten erscheint der September 2015 als der Zeitpunkt, an dem die Veränderung in Deutschland begann. Ein Wendepunkt – nicht nur für die Beliebtheit der Kanzlerin und den Aufstieg der AFD. Aber solche Wendepunkte haben eben auch eine Vorgeschichte. Es war ja nicht allein der Tsumami, der zum Atomausstieg führte – nach Jahrzehnten des Ringens war die Zeit reif für die Energiewende. Und auch der Fall der Mauer, den wir im November 1989 erlebten, hatte eine lange politische Vorgeschichte – wer hellsichtig war, konnte die Risse längst sehen. Dennoch: in solchen Augenblicken bekommen die Umbrüche ein Gesicht – mit Folgen bis in unser persönliches Leben, mit Konsequenzen für Arbeitsplätze und Lebensplanung, für den Umgang mit Energie und auch für die Sozialsysteme.

Wie lernen wir, zu sehen, was „dran“ ist und wozu sie herausgefordert sind. Nach 1933, als der Nationalsozialismus die Gesellschaft in Deutschland mehr und mehr prägte, wurde der Theologe Dietrich Bonhoeffer zu einer USA-Reise eingeladen. Viele bedrängten ihn, dort zu bleiben, so wie andere Emigranten es taten. Er entschied sich, nach Deutschland zurückzukehren, wo er kurz vor Kriegsende hingerichtet wurde. „Dienet der Zeit“, schreibt er. „…Es heißt nur die tiefe reine Gestalt dieser Zeiten zu verstehen und in unserer Lebensführung darzustellen, so werden wir mitten in unserer Zeit auf die heilige Gegenwart Gottes stoßen.“ Der Zeit dienen, bedeutet: die Zeit verstehen. Mitten hinein gehen in die Umbrüche – aber auch von außen drauf sehen – auf einer Reise zum Beispiel wie Bonhoeffer, Fliedner oder Wichern. „Man muss die Tiefe der Wirklichkeit mit den klaren Augen des Glaubens sehen, um sie mit den rettenden Armen der Liebe gestalten zu können“, schrieb Wichern.

Ein Versuch, unsere Zeit zu verstehen, ist der Blick auf die globalen Veränderungsprozesse. Wissenschaftler unterscheiden mehrere große, einander bedingende Krisen: Die ökologische Krise, die sich in einem beschleunigenden Klimawandel, wachsenden Konflikten um Rohstoffe und einem fortschreitenden Rückgang der Biodiversität zuspitzt. Dann die Ernährungskrise, die immer mehr Menschen mit Hunger bedroht und durch die weltweite Spekulation mit Land und Nahrung noch verstärkt wird. Die Finanzkrise, die bei fehlender politische Regulierung und Kontrolle der Finanzmärkte zu einer Destabilisierung von Demokratie, Wirtschaft und Beschäftigung führt. Und die Staatsschuldenkrise, die vor allem in Südeuropa dazu führt, dass Staaten handlungsunfähig und Gesellschaften in Geiselhaft der Finanzmärkte genommen werden. Schließlich Globalisierung und Digitalisierung und die Krise der Arbeit, die sich weltweit in der Ausweitung prekärer Beschäftigung, Arbeitslosigkeit und informeller Tätigkeit zeigt und zu einer Zuspitzung der Ungleichheiten zwischen Arm und Reich führt, und die schwelende Sozialstaatskrise, die Menschen Angst macht, dass Rente und Arbeitslosengeld nicht mehr sicher sind. Seit 2015 ist vor allem die so genannte „Flüchtlingskrise“. Die Kriege und die ökologischen und wirtschaftlichen Katastrophen, vor denen sie fliehen, sind ihrerseits mitbegründet durch die weltweiten Konflikte um Nahrung, Wasser und Energie und die Stellvertreterkriege in Nahost und Afrika. Tatsächlich stellen die Migrationsbewegungen selbst eine wachsende Herausforderung dar: Für die Geflüchteten, die Länder, in denen sie ankommen, und letztlich auch für Europa, das um die Zukunft seiner national ausgerichteten Sozial- und Wohlfahrtsstaaten ringt. Für die Industriestaaten ist nämlich noch ein wesentlicher Faktor zu berücksichtigen, der sogenannte demografische Wandel mit seinen Herausforderungen für die sozialen Sicherungs- und die Pflegesysteme.

Eine Hydra mit acht Köpfen – jeder Versuch, das eine oder andere Problem in gewohnter Weise zu lösen, scheint in Widersprüche zu führen. Die Debatte um den Kohleabbau und den Erhalt von Arbeitsplätzen hat das in jüngster Zeit jedem vor Augen geführt. Die Ohnmacht, die viele angesichts solcher Dilemmata empfinden, entlädt sich in Wut oder Resignation, im Desinteresse an Politik. So mancher hat jetzt das Gefühl, das unser ganzer Lebensstil von den Migranten aus dem Nahen Osten und Afrika in Frage gestellt wird. Wenn der Hass sich nicht ausbreiten soll, brauchen wir tragfähige Formen des Miteinanders, Konzepte notwendig, die über Wohnungsbau und Integrationsklassen hinausreichen. Nicht zuletzt geht es um Fragen der Religion und Kultur.

Längst können wir auf den Stadtplänen verfolgen, wie die soziale Segmentierung sich ausweitet. Die zunehmende Spreizung der Einkommen, die wachsenden sozialen Unterschiede zwischen Erwerbstätigen und Hilfebeziehern, zwischen Einheimischen und Migranten, zwischen Bildungsgewinnern und Bildungsverlierern und auch von jungen, arbeitsfähigen und alten Menschen führen zu einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft. Wohin es führen kann, wenn Stadtteile zu Ghettos werden, lässt sich an den Vorstädten von Paris beobachten. Viele Soziologen gehen davon aus, dass die Radikalisierung, die hinter den Anschlägen in Paris 2015 und von Brüssel 2016 steckte, dort ihren Anfang nahm. Stadtplanung ist gefragt, gemischte Quartiere werden gebraucht und Quartiersarbeit wie schon einmal zu Wicherns Zeiten. Aber die Kommunen ächzen unter dem finanziellen Druck, der vor allem durch die hohen Kosten für Transferleistungen entsteht: Eine wachsende Zahl der Bürgerinnen und Bürger ist von solchen Leistungen abhängig – weil das Arbeitseinkommen nicht reicht, um die Familie zu ernähren, weil Langzeitarbeitslose vom Aufschwung am Arbeitsmarkt nicht profitieren, weil die Pflegeversicherung die Kosten für die Pflege nicht deckt. Viele Kommunen haben deshalb längst die Notbremse ziehen müssen: haben Verkehrs- und Energiebetriebe und auch den Wohnungsbestand verkauft. Heute aber zeigt sich: Damit schwindet die Infrastruktur, die für ein gutes Zusammenleben nötig ist. Öffentliche Aufgaben, Gemeingüter, der öffentliche Raum wird privatisiert. Unsere Fahrt nach London hat mich daran erinnert, dass die Kirche noch immer über öffentlichen Raum verfügt – fast in jeder Gemeinde gibt es Kirchen und Gemeindehäuser, Pfarrgärten und Grundstücke: Heimat für die Eingesessenen, ein Gasthaus für die Ankommenden.

 

4. Inspiration Reformation

Auch in der Reformationszeit hat die Kirche eine große Transformation entscheidend mitgestaltet. Denn mit dem Aufkommen des internationalen Handels, des Geld- und Bankenwesens war auch die Reformationszeit von erheblichen ökonomischen Umbrüchen geprägt. Der Preisverfall einheimischer Erze entzog den Bergleuten die Existenzgrundlage. Der Paradigmenwechsel von der Naturalien- zur Geldwirtschaft wirkte sich dramatisch aus. Und die Verelendung betraf nicht nur die bekannten Randgruppen der Gesellschaft wie Arme, Alte oder Kranke, sondern auch geachtete Stände wie Bauern, Bergleute oder Handwerker. Die Auflösung der Ständegesellschaft im Frühkapitalismus forderte eine Verantwortung, die auch die Bedürfnisse der Verlierer sicherte. Denn auf der einen Seite drohten Aufstände, auf der anderen ließ die Spendenfreude nach – auch deshalb, weil man sich angesichts der neuen protestantischen Theologie nicht mehr sicher war, ob die Gabe für die Armen das eigene Seelenheil sichern würde.

Ein Symbol für den Paradigmenwechsel der Reformationszeit ist die „Leisniger Kastenordnung“ von 1523, „das erste Sozialpapier der Welt“, die von Luther selbst entwickelt wurde. Luther verband die Frage nach der sozialen Verantwortung von Staat und Kirche mit der nach der Zukunft des Besitzes der mit der Reformation aufgelösten Klöster und Stiftungen. Seine Antwort bestand in der Zusammenführung religiöser und weltlicher Verantwortung, die gleich mehrere Probleme löste: „die prekäre Lage der Ärmsten, die nachlassende Spendenfreude und die gerechte Verteilung ehemals papstkirchlicher Besitztümer“. Zu den Einnahmen der Stadt Leisnig zählten nun die Einkünfte aus Zinsen, die Abgaben der Dörfer genauso wie das Vermögen der Pfarrgemeinde – die Ausgaben waren für Infrastruktur genauso wie die für Waisenkinder, Arme, alte und bedürftige Fremde bestimmt. Diese umlagefinanzierte Kastenordnung ist die Wurzel des modernen Konzepts einer staatlichen Solidargemeinschaft, in der die Bedürftigen eben nicht mehr Bettler, sondern unterstützungsberechtigte Mitbürger sind.

Auch im Blick auf Ehe und Familie ging es Luther um die Rechte der Mehrheit – und auch hier hat er für eine neue institutionelle Grundlage gesorgt. Denn damals stand die Ehe gar nicht allen offen: Denen, die nicht über die Meisterwürde verfügten, fehlten schlicht die ökonomischen Grundlagen. Knechte und Mägde bedurften der Zustimmung des Hausvaters. Oft wurden deshalb Familien einfach dadurch begründet, dass Mann und Frau Tisch und Bett öffentlich teilten. Aber auf dem Hintergrund der gesellschaftlichen Umbrüche war diese Lebensform prekär geworden. Die alten Dorfgemeinschaften und Zünfte hatten ihre Funktionsfähigkeit und die Wanderungsbewegungen führten zu Mehrfachehen. In dieser Situation baute Luther die Zahl der Ehehindernisse radikal ab; er forderte die öffentliche Eheschließung für jedermann und stärkte die Bedeutung des wechselseitigen Versprechens von Braut und Bräutigam. „Ein weltlich Ding“ sei die Ehe, sagte er – und es ging ihm um eine neue gesellschaftliche Ordnung, bei der die Beziehungen in Ehe und Familie eine entscheidende Rolle spielen.

Dabei wertete er die Rolle der Hausfrau und Mutter auf – er verstand die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung als Gott gegeben. Und diese Rollenverteilung hat unser Familienbild, unseren Sozialstaat bis heute geprägt. Gerade in Deutschland, sagt Christine Eichel, wurde die Familie zur „Wärme- und Werteinsel, die Kontinuität und Solidarität verspricht.“ Deshalb ist es so wichtig, dass wir die Zerreißproben in den Blick nehmen, die Familien heute erleben. Die diakonischen Einrichtungen, die im 19. Jahrhundert Kindergärten und Pflegeheime schufen, standen in dieser Tradition.

Und noch ein dritter Impuls aus der Reformationszeit kehrt in der Transformation wieder – heute wie schon im 19. Jahrhundert: Das Priestertum aller Getauften. Die Aufbrüche in der neuzeitlichen Diakonie wären nicht möglich gewesen ohne Wicherns dreifaches Verständnis der Diakonie. Für Wichern gab es die staatliche Diakonie – also die Gestaltung der Daseinsfürsorge, die schon Luther mit der Leisniger Kastenordnung am Herzen lag – die bürgerschaftliche Diakonie in den Einrichtungen und Diensten und schließlich das Diakonentum aller, das sich für ihn aus Luthers Priestertum aller Getauften ergibt.

 

5. Zeit, Geld und Liebe

Die Frage nach dem gnädigen Gott und das neue Verständnis von Arbeit, Familie und Gesellschaft, dass die Reformation bestimmte, hatte eine Vorgeschichte. In ihrem Buch „Das Leben als letzte Gelegenheit“, zeigt die Erziehungswissenschaftlerin Marianne Gronemeyer, dass die Pestepidemie Mitte des vierzehnten Jahrhunderts ein wesentlicher Auslöser für ein neues Zeitgefühl war. Damals starben in Europa je nach Region zwischen dreißig und fünfzig Prozent der Bevölkerung. Wenn das nicht, wie zunächst manche dachten, das Jüngste Gericht war, dann fiel es schwer, überhaupt noch an einen gnädigen Gott und an ein Leben nach dem Tod zu glauben. Vielleicht gab es gar kein Jenseits? Vielleicht blieben eben nur diese wenigen Jahre im Hier und Jetzt? Dann galt es, die kostbare Zeit zu nutzen. In den Zeiten der Renaissance und der Reformation entwickelten sich die Naturwissenschaften in atemberaubender Geschwindigkeit, neue Welten wurden entdeckt, die Globalisierung begann, der Einzelne trat in den Vordergrund, die Arbeitsgesellschaft entstand. „Und wenn morgen die Welt unterginge“, soll Luther gesagt haben, „so will ich doch heute noch mein Apfelbäumchen pflanzen.“

„Heute muss ein junger Amerikaner mit mindestens zweijährigem Studium damit rechnen, in 40 Arbeitsjahren wenigstens 11mal die Stelle zu wechseln und dabei sein berufliches Wissen mindestens 3mal auszutauschen.“ Auch an jedem einzelnen Tag versuchen wir möglichst viel zu schaffen, möglichst viel zu erleben. Die ständige Beschleunigung hat eine starke wirtschaftliche Komponente, die sich verdichtet in der Formel „Zeit ist Geld“. Da geht es um immer höhere Taktzahlen an den Maschinen, um schnell zurückgelegte Wege – zu schweigen von den nur noch von Computern zu realisierenden Aktivitäten an den Finanzmärkten. Die Herrschaft über die Zeit geht so weit, dass sich längst auch Geburt und Tod unter dem Zugriff des Menschen verändert haben: Schwangerschaften und Geburten werden so gelegt, dass sie in die Lebensplanung passen, auch der Todeszeitpunkt unterliegt mehr und mehr menschlicher Planung. Unsere Krankenhäuser sind davon nicht ausgenommen – denn zur Geschichte der Diakonie gehört auch die zunehmende Ökonomisierung und Funktionalisierung. Im Gesundheitssystem steht Effizienz im Vordergrund – Begegnung und Beziehung bleiben dahinter zurück.

Kurz: Wirtschaft, Politik, Gesundheit, Familie und Religion folgen nicht mehr verschiedenen, je eigenen Logiken – sie sind alle unter das Gesetz der Beschleunigung und der Ökonomie geraten. 28 Prozent aller US-Haushalte sind heute Singlehaushalte, verglichen mit 9 Prozent in den 1950er Jahren – ein enormer Anstieg. In Schweden sind es übrigens sogar siebenundvierzig Prozent, in Großbritannien vierunddreißig. Alleinleben ist offenbar der beste Weg, die Werte einer individualistischen Gesellschaft zu leben: Freiheit, Selbstverwirklichung und Selbstkontrolle. Drei Jahre lang haben mein Mann und ich eine Pendelbeziehung geführt. Am Wochenende war es meist er, der pendelte – zwischen Mönchengladbach und Hannover. In der Woche war ich selbst viel unterwegs, zum Teil am im Ausland. „Wochenendehe“, „Fernbeziehung“ – wie immer man dieses Lebensmodell nennt – wir haben es mit vielen geteilt. Jedes achte Paar im deutschsprachigen Raum lebt die „Liebe aus dem Koffer“, jedes dritte Paar in den ersten Berufsjahren. In achtzig Prozent der Wochenendehen sind beide Partner berufstätig. Oft sind es die Kinder oder pflegebedürftige Eltern, die den einen – oder meist die eine – der beiden zum Bleiben bewegen.

Aber Erwerbsarbeit deckt ja nur einen Teil unserer Alltagsarbeit ab. Auch sorgende und fürsorgliche Tätigkeiten in der Familie sind Arbeit. Wer Kinder zu versorgen hat oder sich um Pfleggebedürftige kümmert, steht im Schatten unserer Arbeitsgesellschaft. Haushalte, in denen nur eine Person verdient, verfügen proportional über deutlich weniger Geld als Zweiverdienerhaushalte. Familienarbeit wird finanziell ja nur honoriert, wenn sie auf einer Ehe basiert, eben durch das Ehegattensplitting. Auch deshalb sind Alleinerziehende, die kaum in Vollzeit arbeiten können, überdurchschnittlich häufig von Einkommensarmut betroffen. Das gilt leider auch für die traditionellen Frauenberufe in Hauswirtschaft, Erziehung und Pflege, die die Familienarbeit professionell ergänzen. Diese Gerichtschätzung der Carearbeit, die auf die Vorstellung zurückgeht, die Nächstenliebe gehöre zur Natur der Frau, führt bis heute zu eklatanten Ungerechtigkeiten – beim Lohn wie bei der Altersversorgung.

Die Kommission für den Siebten Familienbericht der Bundesregierung hat darauf aufmerksam gemacht, dass ein Caredefizit droht, wenn es nicht gelingt, den absoluten Vorrang des ökonomischen Denkens in Frage zu stellen. Nicht nur die demographischen Folgen – Geburtenrückgang und die so genannten Überalterung sind bedrohlich – sondern auch das Schwinden der privaten Fürsorge in Familie, Nachbarschaft und Gemeinden. Offensichtlich ist an dieser Bruchlinie etwas aus der Balance geraten. Und auch das ist – wie die Fragen nach Heimat und Identität, ein Thema, das die Kirche unmittelbar angeht. Es geht um einen neuen gesellschaftlichen und sozialpolitischen Rahmen.

Mit ihrer Kampagne für die 28-Stunden-Woche wirbt die IGM um eine Arbeit, die dem Leben dient. Und immer mehr Städte und Gemeinden denken darüber nach, wie sie Netzwerke für Ältere oder Sorgende Gemeinschaften bilden können. Es geht um die Frage, was Leben wirklich lebenswert macht. Es geht um Lebensgemeinschaften und um Rhythmen, um Zeit für Familien und Engagement. Es geht darum, dass wir leben statt zu funktionieren. Dass wir geben und nehmen können, ohne ein Geschäft daraus zu machen.

 

6. Gemeinschaft der Freunde – Kirche als Netzwerk

„Eine Zeit, die ihre soziale Energie auf die Fragen nach Nützlichkeit oder Verfügbarkeit reduziert, ist nicht nur widerwärtig, sondern beraubt die ihr unbedacht Folgenden auch aller Erfahrungen von Fürsorge, Loyalität und Großzügigkeit“, schreibt die Philosophin Ariadne von Schirach in ihrem Buch „Du sollst nicht funktionieren.“ Und der Theologe Andreas Heller schreibt: „Wir brauchen eine Kultur der Freundschaft. Freundschaft begründet sich in dem Wissen, dass wir wohl immer mehr empfangen, als wir zu geben in der Lage sind.“ Freundschaften gewinnen an Bedeutung. Teams und Projekte, Arbeits- und Lebensorte wechseln – umso mehr suchen wir Menschen, auf die wir uns verlassen, denen wir vertrauen können. Freunde eben. Unter Freunden gibt es keine Über- und Unterordnung, kein hierarchisches Gefälle. Freunde stehen zueinander, wenn andere Beziehungen wechseln, sie entlasten einander und muten einander, wo möglich, die Wahrheit zu. Wo der Kontakt zu Angehörigen sich lockert, werden Freundeskreise zu Wahlfamilien. Das gilt für die ganz Jungen, die ihren „Tribe“ haben, mit dem sie viel Zeit verbringen, aber auch für die Älteren, die eine Gegenkraft gegen das Alleinleben, eine neue Wohngemeinschaft suchen.

Solche Freundeskreise gehören auch zur Geschichte der Kirche. Die ersten Christen, die oft ihre Familien um des Glaubens willen verlassen hatten, bildeten Wahlfamilien. Sie wurden den neu hinzukommenden Paten und geistliche Väter und Mütter, sie nannten sich Brüder und Schwestern – und zwar quer über die unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten hinweg. Ja, sogar über die Geschlechterschranken hinweg: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, nicht Mann noch Frau, nicht Sklave noch Freier…“ schreibt Paulus im Galaterbrief. Was für eine Tradition – und was für eine Vision, wenn es darum geht, Brücken zu bauen zwischen den Parallelgesellschaften und die Blasen platzen zu lassen, in denen wir uns bewegen! Leider sind aber auch Gemeinden heute oft eher geschlossene Gesellschaften. Man kennt sich, kommt aus ähnlichen Milieus, fühlt sich wohl im Miteinander, als sei die Kirche ein Verein oder ein Club. Das hat nicht zuletzt mit der inzwischen auch mental etablierten Trennung zwischen Kirche und Diakonie zu tun. Danach gehören im Bildungsbereich allgemeinbildende Schulen, häufig Gymnasien, in kirchliche Trägerschaft, Förderschulen in diakonische Trägerschaft. Im Blick auf Familien finden Angebote für Alleinerziehende, Welcome-Programme, Mutter-Kind-Kuren in der Diakonie statt, Tageseinrichtungen in der Kirchengemeinde. Und ähnlich in der Beratung: Ehe- und Lebensberatung in der Kirche, Schuldner- und Suchtberatung in der Diakonie.

Wir müssen also sehr konkret darüber nachdenken, was wir tun können, um dieses Schubladendenken zu überwinden. Wie Kirchengemeinden sich ändern können, um sorgende Gemeinschaften zu werden und die Teilhabe ganz unterschiedlicher Menschen zu fördern. Es geht um die Zusammenarbeit von Kirche und Diakonie mit Kommunen, Initiativen und Organisationen im Gemeinwesen, wie sie in Projekten wie „Kirche findet Stadt“ oder „Wir sind Nachbarn. Alle“ modellhaft erprobt wird. „Wenn ich einen Traum von der Kirche habe, so ist es der Traum von den offenen Türen“, schreibt Dorothee Sölle.

In einer Welt, in der das Unterwegssein für viele zur Selbstverständlichkeit geworden ist, könnten Kirchengemeinden tatsächlich wie Gasthäuser sein, wo Menschen einander begegnen, ihre Geschichten teilen, sich füreinander einsetzen und einander auf diese Weise ein Stück Heimat geben. Für die, die von nah und fern zuziehen. Und für alle, die bisher nicht viel mit der Kirche anfangen konnten. Die offenen Stadtkirchen, die Stadtteilläden und Vesperkirchen, die Diakonieläden sind Herbergen am Weg. Um dort anzukommen, muss man nicht schon immer am Ort zu Hause sein. Man kann kommen und auch wieder gehen.

Noch immer hat die Kirche enorme, auch materielle Ressourcen. Neben den Gebäuden gehören dazu Grundstücke, Ackerland und auch Bauland. Vielerorts entstehen auf diesen Flächen neue, auch integrative Wohnprojekte, Mehrgenerationenhäuser, Wohnanlagen für Flüchtlinge und Studenten. Anderswo werden die kirchlichen Flächen für ökologischen Landbau oder für neue Energiegewinnung genutzt. So kann die Kirche Vorbild sein in Sachen Transformation. Wo das gelingt, da erlebe ich auch neue Aufbrüche – nicht nur für Gesellschaft und Stadtteile, sondern auch und gerade für die Kirchengemeinden. So hat in Ludwigsburg ein Architektennetzwerk die Gemeinde beim Zukunftsforum Kreuzkirche unterstützt, bei dem es um den Umbau des Gemeindehauses zum Stadtteilhaus ging – ganz unterschiedliche Stakeholder aus Kirchengemeinde und Bürgerschaft nahmen teil. Und die Evangelische Gemeinde in Lindlar dokumentiert ihr Engagement für die Quartiersentwicklung unter dem Motto „Die Zukunft im Blick“. Die ökumenische Aktion „Kirche findet Stadt“ hat viele dieser Aufbrüche und Modelle begleitet und dokumentiert.

Wo sich Gemeinden aufmachen in Richtung Gemeinwesen, wo sie ihre Räume für andere öffnen, geht es allerdings nicht immer ohne Konflikte. Manchmal kommt es zum Streit zwischen „Vereinsgemeinde“ und Engagementgruppen, zwischen Traditionsgemeinde und Quartiersbewegung. Es geht darum, das Gemeindebild zu klären, und zwar nicht nur im Sinne von Leitbild- und Strategieentwicklung, sondern im biblischen, im spirituellen Sinne. Wer sind wir als Kirche und wohin sind wir unterwegs? „Die ‚Christenheit‘ hat ihr Wesen und ihren Zweck nicht in sich selber und nicht in ihrer eigenen Existenz, sondern lebt von etwas und ist für etwas da, das weit über sie hinausreicht. Will man das Geheimnis ihrer Existenz und ihrer Handlungsweisen begreifen, so muss man nach ihrer Sendung fragen. Will man ihr Wesen ergründen, so muss man nach ihrer Zukunft fragen, auf die sie ihre Hoffnungen und Erwartungen setzt. Ist die Christenheit selber in den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen unsicher und orientierungslos geworden, so muss sie sich wieder darauf besinnen, wozu sie da ist und worauf sie aus ist“, schrieb Jürgen Moltmann bereits 1964.

 

7. Kirche in Bewegung: Zur Bedeutung des ehrenamtlichen Engagements

Mit ihren Flüchtlingsinitiativen ist die Kirche in den letzten beiden Jahren sichtbar zu ihrem öffentlichen Auftrag zurück. Dabei waren es vor allem freiwillig Engagierte, die den Geflüchteten Unterkunft und Kleidung, Sprachkurse und Begleitung im Alltag anboten und dafür auf Strukturen und Räume der Kirche zurückgreifen konnten. Mich hat das an die Anfänge der Diakonie im neunzehnten Jahrhundert erinnert, als sich engagierte Bürgerinnen und Bürger um diejenigen kümmerten, die bei der Industrialisierung auf der Strecke blieben – um Migranten genauso wie um unversorgte Kranke und Sterbende, überforderte Familien oder arbeitslose Jugendliche. Inzwischen haben die Wohlfahrtsverbände in den Augen vieler einen eher „staatsanalogen“ oder inzwischen auch marktförmigen Charakter bekommen. Aber die Ehrenamtlichen in Stadtteilläden, Flüchtlingsinitiativen oder Tafeln geben heute wieder Impulse zur Erneuerung und Veränderung. Das hat neben der positiven auch eine problematische Seite. Denn der Einsatz von Ehrenamtlichen ist ja auch deshalb hoch willkommen, weil die öffentlichen Kassen leer sind. Zugleich aber zeigen die letzten Freiwilligensurveys der Bundesregierung auch einen neuen Aufbruch – von Ich- und Wir-Orientierung, von der Ausrichtung auf Geselligkeit hin zu Engagement für das Gemeinwohl. Das Engagement von Ehrenamtlichen ist wie ein Seismograph für gesellschaftliche Veränderungen. Ehe noch Programme und Strukturen entwickelt werden, ehe Hauptamtliche eingestellt werden, engagieren sich Menschen in ihrer Freizeit, wo es brennt.

Und damit verändern sie auch die Kirche. So war es in der Diakonie des 19. Jahrhunderts, mit den Jugendverbänden und später auch mit der Erwachsenenbildung, denen es von Anfang an um Mündigkeit im Glauben ging. Aber auch in der Friedens- und Ökologiebewegung, in der Frauen- und Hospizbewegung haben sich Christinnen und Christen eingebracht und von dort eigene Impulse in die Kirche getragen. Die sogenannte Amtskirche braucht Menschen, die nah dran an den gesellschaftlichen Umbrüchen und persönlichen Notlagen sind, die die Organisation von außen sehen können, andere berufliche Erfahrungen und Kompetenzen einbringen. Die Kirchentagsbewegung ist geradezu ein Symbol für dieses Bemühen, die Debatten der Zeit aufzunehmen, der Kirche den Spiegel vorzuhalten, innezuhalten und die anstehenden Herausforderungen auch theologisch zu reflektieren.

Wie lassen sich solche Ansätze weiterdenken? Wie können Ehrenamtliche in der Seelsorge unterstützt werden? Was wird in Zukunft an Fortbildung und Supervision für diese Aufgaben gebraucht? Und wo sind die Grenzen der Funktionalisierung? Welche Angebote und welche Anerkennungs- und Finanzierungsformen können die Schwelle senken, damit auch Hartz-IV-Empfänger oder Menschen mit Behinderung ihre Gaben einbringen? Und welche Budgetverteilung wird in Zukunft nötig werden, um Ehrenamtliche mit Fortbildungsangeboten oder Supervision zu unterstützen? Mit Ehrenamtsakademien, Ehrenamtsstandards und Internetangeboten sind erste Anfänge gemacht. Aber es gibt noch viel zu tun, damit das verlässlich und flächendeckend gelingt. Und es gibt eine doppelte Herausforderung: Zum einen brauchen wir eine Antwort auf den nicht unberechtigten Vorwurf, dass die Ehrenamtlichen zum billigen Jakob von Kirche und Sozialstaat geworden sind. Und genauso auf die Situation derer, die sich Ehrenamt wegen niedriger Renten eigentlich gar nicht leisten können.

Denn die Zukunft des kirchlichen Ehrenamts ist eng mit den Herausforderungen und Veränderungsprozessen verbunden. Nicht nur in der Kirche sind Frauen die wichtigsten Akteure im sozialen Ehrenamt. Die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen, neue Familienmodelle und die Zerreißproben einer mangelnden Vereinbarkeit von Berufstätigkeit, Erziehung und Pflege machen es nötig, über neue Zugänge zum Ehrenamt für Frauen und Männer auch in der Berufstätigkeit und über eine andere Verankerung des Ehrenamts in den Umbrüchen des Lebens nachzudenken. Es geht um das freiwillige Jahr zwischen Schule und Beruf, das Engagement während der Elternzeit oder beim Übergang in die dritte Lebensphase.

Die Reformprozesse, die vor uns liegen, führen auch zu Veränderungen im Profil hauptamtlicher Arbeit. Hauptamtliche Pfarrerinnen und Pfarrer, Diakone, Gemeindepädagoginnen und Jugendmitarbeiterinnen sehen sich immer mehr in der Rolle der Coaches, verstehen sich als Moderatoren von Veränderungsprozessen. Davon profitieren alle Beteiligten von der Zusammenarbeit zwischen Gemeinden, Diakonie, Erwachsenenbildung und Jugendarbeit – und auch Schulen müssen mehr in den Blick kommen. Anstelle getrennter Funktionsbereiche ist heute Netzwerkdenken angesagt. Das Neben- und Miteinander unterschiedlicher Leitungsaufgaben in der Kirche wurde übrigens bereits zur Reformationszeit in der Kaufmannsstadt Genf gedacht, in die damals – wie Calvin – viele Glaubensflüchtlinge aus Frankreich kamen. Pfarrer, Lehrer, Diakone und Gemeindeleiter bildeten ein Team, je nachdem in der sogenannten „Drei-Ämter-“ oder „Vier-Ämter-Lehre“ der reformierten Tradition beschrieben. Die alten Hierarchien waren für die dortigen Christen überholt. Angesichts der selbstbewussten Bürgerinnen und Bürger musste auch die Kirche sich modern organisieren.

Ehrenamt hat auch die Dimension, Engagierten einen Platz und eine Heimat zu geben – anders als das Ehrenamt in den traditionellen Vereinen basiert es nicht mehr nur darauf, dass Menschen sich aus Zugehörigkeit engagieren. Nicht alle, die sich in Kirche und Diakonie engagieren, sind Kirchenmitglieder. Wie viel Verantwortung dürfen sie in kirchlichen Strukturen übernehmen? Welche Rolle spielt dabei die Taufe? Bei uns begründet in der Regel die Kindertaufe die Mitgliedschaft und damit die Möglichkeit, in Gremien mitzuarbeiten. Was ist aber mit denen, deren Eltern schon nicht Mitglied waren? Kann nicht gerade das Engagement in der Gemeinde den Weg zur Taufe ebnen? Wäre – wie in der Schweiz angedacht – eine Kirchenmitgliedschaft auf Probe denkbar? Für die Zukunft der Kirche wird jedenfalls entscheidend sein, wie sie Engagierte und Suchende auf ihrem Weg zum Glauben begleiten kann und welche Rolle dabei nicht nur die funktionale und fachliche, sondern eben auch die religiöse Bildung spielt. Das ehrenamtliche Engagement bietet die Chance, Gemeinschaft zu erfahren und dabei Glauben ganz neu zu entdecken.

 

8. In Ritualen Umbrüche bearbeiten

Mit der zunehmenden Individualisierung, der Veränderung von Familien, der wachsenden Mobilität und der Kirchenferne von immer mehr Menschen erodieren die alten Rituale wie Trauung und Beerdigung oder sie wandeln sich – denken wir nur an die Trauung gleichgeschlechtlicher Paare. Ähnliches gilt auch für Beerdigungen: Nicht nur die Zahl der Einäscherungen, sondern auch die der anonymen Bestattungen nimmt zu; die Tradition der Familiengräber ist bald schon vergessen. Dabei verändert der soziale Wandel nicht nur die Rituale; umgekehrt schwächen die fehlenden Rituale den sozialen Zusammenhalt. Denn die Anlässe, bei denen Großfamilien und Freundeskreise zusammenkommen, um gemeinsam nach Sinn zu fragen und Beziehungen zu stärken, werden weniger. „Der moderne Individualismus steht meines Erachtens nicht nur für einen persönlichen Impuls, sondern auch für einen sozialen Mangel, einen Mangel an Ritualen. […| Die moderne Gesellschaft hat die durch Rituale hergestellten Bindungen geschwächt“, schreibt der US-amerikanische Soziologe Richard Sennett in einem Buch Zusammenarbeit.

Viele spüren diesen Mangel. „Andere Zeiten“ im Advent oder vor Ostern, Projektchöre für eine Bach-Passion und neue Formen der Osternacht, Segenshandlungen beim Einzug ins Altenheim, beim Sterben dort oder im Krankenhaus sind neu entstanden. Viele Gemeinden verbinden inzwischen Tauf- oder Konfirmationsfeste mit einer Einladung ins Gemeindehaus an alle, die nicht allein in der Kleinfamilie feiern wollen – sei es, weil es schwierig ist, das Fest in einer Patchworkfamilie zu gestalten, sei es, weil die finanziellen Mittel fehlen. Wie Trauungen werden Taufen nun auch (wieder) im Freien gefeiert – bei einem Sommerfest am Fluss oder am nahegelegenen See. Kindergartenabschluss und Schulanfang, oft mit einem Gottesdienst gefeiert, gewinnen für alle Generationen an Bedeutung und Abifeiern werden zu Festen, für die man ganze Hallen mietet. Alte und neue Übergänge verlangen mehr denn je, nach einer sinn-vollen und für alle sichtbaren Gestalt.

In einem lebendigen Gottesdienst vollzieht sich geradezu idealtypisch das, was der Philosoph Hartmut Rosa Resonanz nennt: das Gefühl, dass man sich auf der gleichen Wellenlänge bewegt und sich in dem, was ein anderer sagt, erkannt und verstanden fühlt. Lebendige Beteiligung ist ein Schlüssel zum Gelingen – ein Grund, warum die Kirchen der Reformation ihre Gottesdienste in der Landessprache hielten und den Gemeindegesang förderten.

 

9. Nur Mut: Alle sind gefragt

In seinen Augen öffnendem Buch „Das Floß der Medusa“ zeigt Wolfgang Schmidtbauer, wie gefährlich es sein kann, wenn wir in einer Situation notwendiger Veränderungsprozesse sprichwörtlich den Kopf in den Sand stecken. Die gegenwärtige Häufung von Krisen – Klima, Energie, Geldwirtschaft, Terror und Flüchtlingselend – sei ohne Vorbild in der Geschichte, schreibt Schmidtbauer, und er ist sich sicher, die Menschen müssten Gruppen bilden, gemeinsam lernen, das Gemeinwesen neu organisieren und verschüttete Begabungen freilegen. So könnten wir neue Flösse bauen. Das Buch dreht sich um eine Schiffskatastrophe – um den Untergang der französischen Fregatte „Medusa“, die 100 Jahre vor der Titanic sank. Die Berichte der wenigen Überlebenden zeigen: Grund für die Katastrophe war eine Führung, die Angst hatte vor dem Verlust der Schiffsladung, und ein unsachgemäßes Festhalten an Status und Macht. Wer sich angesichts kommender Herausforderungen in Machtkämpfe verstrickt, auf Positionen beharrt, um seinen Besitz fürchtet, kann die Zukunft nicht gewinnen. „Es gelang der Führung nicht, die Menschen an Bord dabei zu unterstützen, ihre Fähigkeiten für eine Rettungsaktion zu koordinieren“, schreibt Schmidtbauer. „Im Schiff, das sich Gemeinde nennt, muss eine Mannschaft sein“, heißt es in einem unserer Lieder. Nur gemeinsam können wir Fährleute sein, um Menschen zu helfen, in Zeiten der Verunsicherung Neues zu wagen. Das kann gelingen, wenn wir uns unserer eigenen Fragen und Unsicherheiten nicht schämen. Denn Fährleute kennen die Untiefen. Und sie bringen Erfahrung mit.

Cornelia Coenen-Marx, Saarbrücken, 16.02.2018