Lebenslagen und Milieu – Diagnoseinstrumente als Grundlage kirchlicher Seniorenarbeit

1. Iris Apfel oder „Das Beste kommt noch“

Kennen Sie Iris Apfel? Die ältere Frau mit dem faltigen Gesicht und den großen roten Brillen, die die verrücktesten Sachen trägt, als sei sie in ihren 20ern? Sie hat viele andere inspiriert, sich so zu kleiden, wie sie sich fühlen und attraktiv finden. Große Statementketten, witzige Hüte! Street-Art macht vor, wohin die Richtung geht. Ich erinnere mich, dass mein Onkel und meine Tante in den 60-er Jahren mit ihrer Familie in die USA nach Minnesota zogen – zu einem Austauschjahr im Pfarramt. Die dortige Pfarrfamilie zog also für ein Jahr in deren Wohnung ein und gehörte fortan zu unserer Familie – mit den Töchtern Paula und Gretchen und mit der Großmutter. Es war die Großmutter, die mich besonders beeindruckt hat. Als ich sie zum ersten Mal sah, trug sie eine bunte Karohose – dazu knallrote Lippen und Fingernägel. Das war damals hierzulande für eine Frau über 65 nicht denkbar gewesen.

Heute gehen die 68-er Frauen selbstbewusst, kritisch und voll Energie in die neue Lebensphase – nicht anders als die Beat- und Rockgrößen von Udo Lindenberg bis zu den Rolling Stones und David Bowie. Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg…“ wurde zum Bestseller und „Sein letzter Lauf“ zu einem der beliebtesten Filme der letzten Jahre. Fernsehspiele zeigen Rentnerbands, die ein Altenzentrum auf den Kopf stellen und eine Wohngemeinschaft, die den Studenten im Haus zeigt, wie es gelingen kann, barmherzig mit den eigenen Schwächen umzugehen. Und Zeitschriften wie „Brigitte WIR“ transportieren den Mentalitätswandel zurück in den Alltag. Unter dem Motto „Das Beste kommt noch“ machen Sie Mut, der Vorstellung zu widerstehen, dass es mit dem Alter automatisch bergab geht.

Und trotzdem frage ich mich. Ob Iris Apfel heute in einer durchschnittlichen Kirchengemeinde ihren Platz fände? Oder wäre sie noch immer zu selbstbewusst, zu exaltiert? In meiner Wohnortgemeinde kommt eine solche Frau gelegentlich in meine Gottesdienste. Nach und nach kamen wir ins Gespräch – und neulich erzählte sie mir, dass sie lange in Frankreich gelebt hatte. Als sie in unser Dorf gezogen sei, hätten die Nachbarn sie allemal besucht und nach ihr gefragt – als man aber gewusst habe, wer sie sei, habe sich keiner mehr für sie interessiert. Sie sei eben einfach anders.

Und ich frage auch, ob wir wirklich überzeugt sind, dass das Beste noch kommt? Zumindest im Blick auf die Themen Rente und Wahlverhalten scheint der Belastungsdiskurs noch immer im Vordergrund zu stehen. Aktuell ging es wieder um steigende Belastungen in der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung auf dem Hintergrund des demographischen Wandels. Und auch im Blick auf das Wahlverhalten wird zunehmend häufiger der Zeitpunkt beschworen, in dem die Wählerschaft demographisch „kippt“. Dennoch: der Potenzial-Diskurs hat in den letzten 20 Jahren an Gewicht gewonnen – vorangetrieben nicht zuletzt durch die Altenberichte der Bundesregierung, die konsequent danach fragen, welche Ressourcen und Perspektiven ältere Menschen in die Gesellschaft einbringen.

 

2. Ein Blick auf die Lebenslagen

Die Untersuchungen der letzten Alterssurveys zu Familie, Engagement, Gesundheit und Wohlbefinden zeigen: Ein negatives Altersstereotyp trifft nicht das Selbstbild älter werdender und alter Menschen. Im Gegenteil:

Noch nie in der Geschichte sind Menschen so gesund alt geworden, noch nie war die Breite der Bevölkerung so gut ausgebildet, so kompetent und selbständig wie heute, noch nie gab es auch so viele Möglichkeiten, sich zu vernetzen und gut zu organisieren. Wir haben im Schnitt zehn gesunde Jahre hinzugewonnen. Legt man den Alterssurvey von 2014 zugrunde, sind 70-jährige kaum weniger leistungsfähig als gesunde 55-jährige. Und 73 Prozent der Befragten ab 60 Jahren fühlen sich jünger, als sie es vom kalendarischen Alter her sind, und zwar im Durchschnitt 5,5 Jahre. Mehr als ein Drittel der 55- bis 69-jährigen hat keine oder höchstens eine Erkrankung und noch die Hälfte der 70- bis 85-jährigen fühlen sich trotz der einen oder anderen Krankheit funktional gesund. Gleichwohl zeigen sich im Jahr Alterssurvey 2014 deutliche Gruppenunterschiede: Insbesondere Personen mit niedriger Bildung, aber auch Menschen mit Migrationshintergrund sind bei allen Gesundheitsdimensionen benachteiligt. Wir haben alle 10 gesunde Jahre dazu gewonnen – aber es lohnt sich, noch einmal genauer hinzuschauen: auf Menschen mit niedriger Bildung, geringen Abschlüssen und prekärer Beschäftigung.

Ein zweites: 40 Prozent der Älteren leben allein. Entgegen häufigen Befürchtungen, dass die Mehrzahl der Älteren einsam ist, haben die meisten aber stabile Bezugsnetze. Zwar nehmen traditionelle Formen der Partnerschaft ab, dennoch teilen die meisten ihr Leben bis ins hohe Alter mit einer Partnerin oder einem Partner. Zwar sinkt auch bei den 55- bis 69-Jährigen der Anteil der Verheirateten – wie in der gesamten Gesellschaft steigt die Zahl der Geschiedenen beziehungsweise Getrenntlebenden. Zugleich zeichnet sich aber einer Verschiebung von der ehelichen zur nichtehelichen Partnerschaft ab. Und die steigende Lebenserwartung ermöglicht, wie sich bei den 70- bis 85-Jährigen zeigt, ein längeres Zusammenleben im Alter: Im Jahr 2014 waren weit weniger Menschen im Alter zwischen 70 und 85 Jahren verwitwet (24,0 Prozent) als im Jahr 1996 (39,1 Prozent). Und schließlich spielen Freudinnen, Freunde und Wahlverwandtschaften eine immer größere Rolle. Einsamkeit ist für die Mehrheit kein Problem: Aber es gibt sie, die Singles ohne Partnerschaft und Kontakte in die Nachbarschaft. Und im Blick auf die anderen ist es für Kirche sicher wichtig, den Blick zu weiten – alternative Formen von Familie und Partnerschaft sind inzwischen auch im Alter normal.

Ein drittes: Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen ist in der zweiten Lebenshälfte kontinuierlich gestiegen. Das gilt vor allem für die 54- 59-jährigen und auch für die 60- bis 65-Jährigen, bei denen auch die Erwerbsbeteiligung seit 1996 um etwa 20 Prozentpunkte gestiegen ist. Zugleich haben sich die Unterschiede in den Erwerbsquoten zwischen Männern und Frauen verringert. Allerdings kommen immer mehr Bürgerinnen und Bürger in die Situation, Beruf und Haushalts- beziehungsweise Sorgetätigkeiten vereinbaren zu müssen. Betroffen sind vor allem die 50 – 65- jährigen Frauen, die die Betreuung der Enkelkinder und der Unterstützung ihrer betagten Eltern übernehmen. Ihr Anteil hat sich zwischen 1996 und 2014 vervierfacht. Wirtschaftlich geht es dieser Generation so gut wie lange keiner – allerdings gibt es eine Zielgruppe, die gerade die Gemeinden nicht aus dem Blick verlieren sollten: die älteren Frauen, die sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen, weil sie Erziehungs- und Pflegeaufgaben übernehmen.

Werden also die Altersgruppen feiner analysiert, verliert sich die Gleichheit. Die 50- 70-jährigen sind zwar heute die relativ wohlhabendste Altersgruppe in Deutschland. 54 Prozent besitzen Wohneigentum oder Vermögensrücklagen. Von den anderen 46 Prozent allerdings lebt die Hälfte von relativ niedrigen Einkommen. Sie waren Arbeiter, geringfügig Beschäftigte oder kleine Selbständige, sie sind eben alleinstehende oder geschiedene Frauen, die heute wegen der Kinder, die sie versorgt haben, eine kleine Rente haben. Bei den 70- bis 85-jährigen Frauen in Ostdeutschland zeigt sich das am deutlichsten: sie haben etwa ein Drittel weniger Geld zur Verfügung. Bei diesen Gruppen ist auch die Mobilität besonders gering.

Und schließlich: Die moderne Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft, die Entwicklung der Technik und die Akzeptanz ganz unterschiedlicher Lebensentwürfe machen es grundsätzlich leichter, bis ins hohe Alter mobil zu bleiben und selbstbestimmt zu leben. Wer nicht mehr mobil ist, kann zumindest virtuell Kontakte knüpfen und pflegen. Inzwischen gibt es mehr und mehr Projekte der digitalen Nachbarschaft – wie z.B. das Portal „Nebenan.de“. Es ist auch nicht ehrenrührig, sich Unterstützung zu organisieren – vom Einkaufsservice bis zum Wäschedienst nutzen das auch die vielen mobilen Berufstätigen. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass die Bildungs- und Vermögensunterschiede uns dann eben doch unterschiedlich altern lassen. Wer von der Grundsicherung lebt, hat weit weniger Möglichkeiten, sich zusätzliche Freiheit zu „kaufen“. Aber was ich nicht kaufen kann, kann ich vielleicht tauschen oder teilen – und manches lässt sich auch gemeinsam mit Freunden und Nachbarn organisieren. Das braucht allerdings ein soziales Netz, Kontakte und die Bereitschaft zum Engagement. Nicht nur das ökonomische, auch das Sozialkapital ist ungleich verteilt – Bildung und Beziehungen haben auch mit den ökonomischen Ressourcen zu tun.

„Die Lebensphase „Alter“ begründet also keine einheitliche Lebenslage; vielmehr differenzieren sich die Lebenslagen auch im Alter weiter aus“, heißt es im Vorwort zum 7. Altenbericht. Dabei betreffen soziale Ungleichheiten zwischen verschiedenen Gruppen älterer Menschen finanzielle Ressourcen, Bildung, Wohnbedingungen, soziale Netze und Gesundheit. Eine Auseinandersetzung mit Sorgearrangements für ältere und mit älteren Menschen muss die Verschiedenheit der Lebenslagen und Bedarf berücksichtigen“. Es geht also um Zugangsvoraussetzungen für gesellschaftliche Teilhabe – um die Beteiligung an Entscheidungsprozessen und die Artikulation eigener Interessen. Dabei geht der Altenbericht davon aus, dass der Anteil derer, die ökonomisch, sozial und in der Folge häufig auch gesundheitlich benachteiligt sind, zukünftig „in erheblichem Maße“ ansteigen wird – dass also das Alter deutlich ungleicher wird. Dabei geht es nicht nur um die in den Milieustudien berücksichtige vertikale Dimension der sozioökonomischen Faktoren, sondern auch um horizontale wie Geschlecht oder Migration.

 

3. Milieus als Diagnoseinstrument: Sinusstudie „Alter“ 2002, KMU 2008, Sinus 55 plus, 2010

Richten wir also jetzt den Blick wieder auf Werte, Sozialkultur und Lebensstil – die unterschiedlichen Einstellungen, Verhaltensweisen, Kommunikationsformen und Gemeinschaftsformaten bis hin zum Musikgeschmack – wobei es durchaus einen wechselseitigen Bedingungs-, Stabilisierungs-und Reproduktionszusammenhang von Milieus und Lebenslagen gibt. Ein Blick auf das Feld Gesundheitsvorsorge macht schnell deutlich, was das bedeutet. Es sind vor allem die gesellschaftlichen Leitmilieus der Etablierten und Postmateriellen, die aktive Gesundheitsvorsorge betreiben mit dem Ziel, ihre Leistungsfähigkeit zu erhalten. Dagegen ist diese Bereitschaft in der modernen Unterschicht deutlich weniger ausgeprägt. Das lässt sich im Blick auf Adipositas, Diabetes oder Herz-Kreislauferkrankungen weiter differenzieren. Dabei zeigt sich dann, wie wesentlich die jeweiligen Alltagskulturen sind.

Nehmen wir das Beispiel: Gesundheitsvorsorge: Die Sinusstudien zeigen, welche Auswirkungen Ernährungsgewohnheiten, der Umgang mit Experten, die Bereitschaft, neue gesellschaftliche Trends zu übernehmen für bestimmte Krankheiten haben. So finden sich Adipositas und Diabetes vor allem in traditionellen Milieus, Allergien vor allem im expeditiven. Was kann das für den Lebensbereich Religion, Spiritualität und Kirche bedeuten?

Schauen wir uns jetzt aber die Altersverteilung der unterschiedlichen Milieus an, wie sie die Sinus-Studie von 2002 skizziert. Leider sind die Zahlen von 2002 die jüngsten im Blick auf die ältere Bevölkerung. Die Senioren, die zur Zeit der Sinus-Studie 2002 60 Jahre und älter waren, gehörten zum größten Teil zu den Milieus der Hochkulturellen, der Bodenständigen und der Zurückgezogenen. Es waren 93,8 Prozent der über 70 -jährigen, bei den 60 – 69 -jährigen immerhin noch 82 Prozent. Da seitdem 16 Jahre vergangen sind, werden wir uns gleich einige Befunde zu den Personen 55 plus anschauen – also zu denen, die die Beteiligung von Älteren heute und in der Zukunft bestimmen. Denn klar ist: Die konservativ-traditionelle Grundhaltung ist zwar noch dominierend und wird vielleicht gerade in und von der Kirche erwartet und gestützt, doch zeigt sich im Alter längst ein viel bunteres Spektrum an Lebensstilen. Und wenn man auf die Untersuchung von 2002 schaut, zeigt sich tatsächlich ein Abbruch bei den 50- 59 -jährigen, ein kleiner Erdrutsch, sagt Susanne Fetzer, die ein Buch über die Zukunft der Seniorenarbeit geschrieben hat. Denn bei den 50- 59-jährigen hatte sich der Anteil der traditionellen Milieus praktisch halbiert. Als Beispiel sei hier der Musikstil angeführt: Hörten im Jahr 2006 noch 62 Prozent der 60 – 60-jährigen gern Blasmusik, waren es schon 2015 nur noch 41 Prozent.

Die Ergebnisse der EKD-KMU zum Thema Milieus stammen aus dem Jahr 2008 und nutzen etwas andere Kategorien. Ich beziehe mich im Folgenden auf die Studie „Milieus praktisch“ von Claudia Schulz und anderen. Dabei zeigte sich bei den 60- 69-jährigen wie bei den über 70-jährigen ein deutlicher Schwerpunkt bei den Bodenständigen: bei den 60 – 69-jährigen waren es 34 Prozent, bei den über 70-jährigen sogar über 45 Prozent. Ihre sozialen Kontakte in Familie, Nachbarschaft und Vereinen sind für die Gemeindearbeit von ganz besonderer Bedeutung. Aus dieser Gruppe speist sich auch das soziale Ehrenamt der Frauen. Gerade hier zeigt sich aber auch eine besondere Herausforderung für Gemeinden: Wo diese eher einkommensschwachen Frauen wegen der privaten Sorgearbeit geringe Renten haben, steht die Frage an, ob soziale Ehrenämter nicht auch finanziell gestützt werden müssen – zum Beispiel mit Übungsleiterpauschalen. Bei den 50- 59-jährigen wurden nur noch 14,6 Prozent dieser Gruppe zugeordnet. Es kommen die Geselligen – mit immerhin 17 Prozent. Menschen mit durchschnittlichem bis höherem Bildungsstand und etwas überdurchschnittlichem Einkommen. Auch sie pflegen Kontakte am Wohnort und engagieren sich in ihrem Lebensumfeld. Sie sind bereit, sich fortzubilden – aber sie möchten das Leben eben auch genießen, Sport treiben, Musik hören.

Die zweite große Gruppe in der KMU 2008 waren die Hochkulturellen: ihr konnten 29 bzw. 27 Prozent der beiden Gruppen zugeordnet werden. Aus dieser Gruppe speisen die kirchlichen Kulturangebote ihre Teilnehmergruppen: die Konzerte und Akademietagungen oder die Literaturkreise. Aber auch hier gab und gibt es eine große Bereitschaft, sich sozial zu engagieren – von Lesepaten über Ausbildungsmentoren bis zu Stiftungen. Unter den 50 – 59-jährigen fanden sich allerdings schon 2002 nur noch 16,7 Prozent, die dieser Zielgruppe zugeordnet werden konnten. An Bedeutung gewannen unter den 50- 59 -jährigen die „Kritischen“ mit fast 21 Prozent. Auch sie sind kulturell interessiert- nun aber mit breitem Musikgeschmack, sie gehen ins Kino, treiben Sport, leben mit dem Internet – und ja, sie bringen sich auch in Diskussionen ein und engagieren sich für andere.

Insgesamt verteilt sich also diese Altersgruppe viel gleichmäßiger auf die Milieus mit traditioneller und moderner Werteorientierung. Und bei denen, die damals 2002 40- 49-Jahre alt waren, sehen wir bereits eine deutliche Verschiebung vom traditionellen zum modernen Lebensstil. Das ist die Altersgruppe, die in den nächsten Jahren in Rente gehen wird.

Nehmen wir den Musikgeschmack als Indikator, dann waren es bei den 50-59-jährigen 2006 noch 56 Prozent, die gern Rock-und Popmusik hörten, so waren es 2015 schon 75 Prozent. Sender wie WDR4, die bis vor einigen Jahren vor allem deutsche Schlagermusik im Programm hatten, haben sich inzwischen darauf eingestellt.

Von einer Gruppe habe ich noch nicht gesprochen – von den Zurückgezogenen. Das waren 2002 in allen befragen Altersgruppen um die 20 Prozent, bei den 50-59-jährigen aber 24 Prozent – was vermutlich auch mit der höheren Belastung in den letzten Berufsjahren zu tun hat – die übrigens, wie der jüngste Alterssurvey zeigt, noch weitergewachsen ist. Wer über kirchliche Angebote nachdenkt, wird diese Zielgruppe möglicherweise vernachlässigen – wenn es aber um Fragen der Sorgenetzwerke oder der Beteiligung in der Nachbarschaft geht, wäre das nicht ungefährlich.

Schauen wir zunächst noch einmal auf zwei Charts zur Sinusstudie von 2010: zum Thema „55 plus“

Zum einen sehen wir hier noch einmal deutlich die Differenzierung und Verschiebung: neben den traditionellen Milieus werden jetzt die bürgerliche Mitte, aber auch die sozial-ökologischen und die prekären Milieus wichtig.

Und schaut man auf die Repräsentanz der Altersgruppe über 50 in den unterschiedlichen Milieus, dann sind es immer noch 30 Prozent, die wir im traditionellen Milieus finden, immerhin aber bereits 21 Prozent in der bürgerlichen Mitte.

Ein drittes Chart über die historischen Wurzeln der Altersgruppen zeigt die gesellschaftspolitischen Prägungen der Generationen

Es lohnt sich, darüber nachzudenken, dass und wie Kirche selbst den Übergang in den Postmaterialismus und ins sozial-ökologische Milieu mitgeprägt hat. Hier spielen die 60er Jahre mit ihren Reformprojekten und auch der Kirchentag eine entscheidende Rolle. Dass die heutigen jungen Alten sich nicht mehr unbedingt mit traditionellen kirchlichen Formen identifizieren, bedeutet also nicht unbedingt, dass sie nicht religiös sind: ihr Engagement und ihr Lebensstil sind häufig geprägt in der kirchlichen Jugendarbeit oder bei Kirchentagsbesuchen. In der zivilgesellschaftlichen Bewegung oder auch in der Politik habe ich sie immer wieder gefunden und ihre innere Verbundenheit wahrgenommen.

 

4. Milieus und Kirche: KMU 5 und Sinusstudie für Baden und Württemberg

Wie sieht es aber mit der Beziehung zur Kirche selbst aus? An dieser Stelle lohnt noch ein Blick auf die Ergebnisse der 5. KMU („Engagement und Indifferenz“ – Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis), die allerdings die unterschiedlichen sozialen Milieus nicht differenziert, sowie auf die Sinusstudie Evangelisch in Baden und Württemberg von 2012. Es ist ja deutlich: Die absolute Zahl der Kirchenmitglieder sinkt kontinuierlich, Kasualien werden seltener begehrt und mit jeder nachrückenden Generation wird die Relevanz von Glaube und Kirche in der Gesellschaft undeutlicher“, so Thies Gundlach zur KMU 5. Die 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) der EKD unterscheidet bei der religiösen Kommunikation eine eher informativ-intellektuelle, eine praktisch-handlungsorientierte und eine existenzielle Dimension. „Existenziell-religiöse Kommunikation, das Gespräch über den Sinn des Lebens gilt als persönliches, intim empfundenes Thema, das in erster Linie mit dem Partner/der Partnerin besprochen wird, dann auch mit Freunden/Freundinnen und schließlich mit der Familie. Dabei zeigt sich, dass es „über die Generationen hinweg zu einer kontinuierlichen Abnahme sowohl der Verbundenheit mit der Kirche als auch der Religiosität kommt. Je jünger die Befragten sind, umso seltener geben sie an, religiös erzogen worden zu sein. Von den Evangelischen ab 60 Jahren wurden nach eigene Angaben etwa 83% religiös erzogen, von den Kirchenmitgliedern unter 30 Jahren sagen das nur noch 55%. Anders noch als früheren KMUs, die den Blick auf die distanzierten Mitglieder lenkte, betont die jüngste die in persönliche Netzwerke eingebundene Praxis der Mitgliedschaft. Jetzt, wo die traditionellen Motive von Pflicht und Konvention zurücktreten, wird die Teilnahme am Gottesdienst nun aber als aktive Teilnahme verstanden. Aus meiner Sicht bleiben dabei allerdings noch viele Fragen offen.

Die Sinus-Studie für Baden und Württemberg macht auf die notwendige Differenzierung aufmerksam. Schaut man tiefer in die Daten hinein, wird sichtbar, dass sowohl das Hedonistische als auch das prekäre Milieu der Kirche kritisch gegenüber steht – aber aus völlig unterschiedlichen Motivationslagen. Die einen würden gerne mit leben in Kirche, aber ihnen fehlen vielfach die Ressourcen. Die anderen sehen in Kirche den Inbegriff von Konvention und Bürgerlichkeit und lehnen sie deshalb als „Spaßbremse“ ab. Und für die Pragmatischen ist Kirche schlicht nicht relevant für die eigenen Lebenszusammenhänge.

Heinzpeter Hempelmann hält im Vergleich der Studien fest, dass der Zusammenhang zwischen Verbundenheit mit der Kirche, Glaube und Engagement unterschiedlich aussehen kann.

  • Es gibt eine hohe Verbundenheit mit der Kirche ohne aktive Praxis – wie es schon beim Typus des traditionellen Kirchgängers der Fall ist.
  • Es gibt hohe Verbundenheit mit christlichem Glauben und eine entsprechende ehrenamtliche Praxis, verbunden mit einer deutlichen Distanz zur verfassten Kirche.
  • Und es gibt intensive religiöse Praxis ohne Engagement im Raum der verfassten Kirche

Kurz: Kirchlichkeit, Engagement und Spiritualität können auseinanderfallen.

Und auch Religiosität und Spiritualität müssten noch einmal unterschieden werden, betont Hempelmann. Der Mitgliedschaftstypus des spirituell Suchenden, v.a. im expeditiven Milieu beheimatet, sei weder an der Institution Kirche als solcher interessiert, noch an ehrenamtlichem Engagement, er sei aber sehr offen für alles, was Kirche im weitesten Sinne hier zu bieten hat.

Hempelmann empfiehlt im Ergebnis, die wachsende Fragmentierung gesellschaftlicher Entwicklung auch im Blick auf kirchliche Angebote wahr zu nehmen und sich nicht zu sehr auf die kleinen Netze in Kirchengemeinde und Nachbarschaft zu konzentrieren. Auf diesem Hintergrund kritisiert er auch einige Items der KMU wie z.B. die Gruppe der Geselligen. Geselligkeit meint er, sei eigentlich kein Item, sondern eine Eigenschaft. Viel sinnvoller ist es, nach Gemeinschaftsformaten zu fragen. Geselligkeit sei nur eine davon. „Kaffee und Kuchen, Bötchen fahren und nett plaudern, ist aber nur für einen Bruchteil der Menschen in Kirche und Gesellschaft erstrebenswert. Performer, Expeditive sind aber auch Kirchenmitglieder. Sie fallen voll durchs Netz des „Interesses an Geselligkeit“. Zumal die Studie selbst betone, dass es eine „große Zahl der weniger an Geselligkeit Interessierten unter den Kirchenmitgliedern (32% der Frauen und 43% der Männer) gibt. Letztlich spiegele sich in solchen Merkmalen eben auch ein Bild von Kirche.

 

5. Alter, Milieus und Kirchenbilder

Auch wenn wir also über das Thema Alter und Milieus sprechen: Letztlich kommen wir nicht darum herum, über unser Bild von Kirche zu reden. Dabei haben Sie, die die Breite der Älteren mit ihren Interessen und Problemlagen im Blick haben, eine besondere Verantwortung. In den letzten Jahren wird in der Seniorenarbeit vor allem der „Abschied vom Seniorenkreis“ diskutiert. Das zeigt sich sowohl in unserer EKD-Orientierungshilfe „Im Alter neu werden können“ als auch in der Vielfalt der Modelle und Aktivitäten. Das Thema „Geselligkeit“ zeigt aber, dass es nicht genügt, lediglich über neue Formen von Gemeinschaftsbildung zu sprechen. Auch andere Aspekte wie die sozialen Netze in der Nachbarschaft oder das kommunalpolitische Engagement für und mit Älteren in der Kirche müssen in den Blick kommen – genauso wie neue Angebote zur Spiritualität im Alter.

Susanne Fetzer, die sich auf dem Hintergrund der traditionellen Seniorenkreis-Arbeit mit neuen Formen und Angeboten befasst, betont gleichwohl, dass es auch im Blick auf die Gemeinschaftsformen einen Paradigmenwechsel gibt: Gemeinschaft muss sich wandeln von der Betreuungsperspektive zum Miteinander auf Augenhöhe und vom Bildungsangebot zum Begegnungsangebot. In einer Zeit, in der es an Unterhaltungsangebote nicht mangle, gehe es darum, Leben miteinander zu teilen und Begegnung zu ermöglichen.

Vor allem aber gilt: „Selbst organisieren statt versorgt werden“ – das ist auch für Annegret Zander von der „Fachstelle zweite Lebenshälfte“ in Hessen, die das Heft „Abschied vom Seniorenkreis“ geschrieben hat, der zentrale Paradigmenwechsel. Ihr zentraler Satz “Menschen in der nachberuflichen Phase, ganz gleich welchen Alters, die keine oder nur wenig Hilfe im Alltag benötigen, können sich wunderbar selbst organisieren. Und wir als Kirche können ihnen dafür Raum geben.“ Für Zander geht es darum, die nachbarschaftlichen Bezüge der Kirchengemeinden zu stärken. „Als Kirchengemeinde sind wir Teil der Gemeinschaft vor Ort, kein besonderes Wesen. Wir leben alle am selben Ort, sind in Vereinen, auf dem Markt, in Geschäften unterwegs, stolpern über dieselben Schwellen, beobachten wunderlich gewordene Nachbarn.“ Dabei wird zweierlei noch einmal deutlich: Wir kommen nicht umhin, über unser Kirchenbild zu reden. Und: wir sind es, um die es geht. Fangen wir also bei uns an. Es ist immer wieder dieselbe Frage: Welche Kirche wünschen wir uns, wenn wir älter werden?

 

Cornelia Coenen-Marx, 08.02.2018, Nürnberg, Landeskonferenz zur Altersarbeit 2018 in Bayern