Wie inklusiv ist die Kirche?

1. Worum es mir geht

Als 2014 die EKD-Orientierungshilfe zur Inklusion erschien („Es ist normal, verschieden zu sein“), hatten viele das Gefühl, die Kirche greife lediglich ein gesellschaftliches Thema auf. Tatsächlich stand im Hintergrund die UN-Behindertenrechtskonvention von 2008. Als Ziel formuliert sie die „volle und wirksame Partizipation und Inklusion“ (Art. 3) von Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen. Inklusion ist dabei keineswegs nur eine Sache von Expertinnen und Experten. Inklusion soll als Überzeugung und Haltung in den Köpfen und Herzen aller Menschen im Gemeinwesen ankommen und die Praxis im alltäglichen wie im professionellen Handeln bestimmen. Es geht um eine neue Kultur wechselseitiger Anerkennung und Wertschätzung. Unter der Perspektive der Inklusion verändert sich der Blick auf Behinderung. Nicht mehr die medizinische Perspektive steht im Vordergrund, sondern die soziale – Behinderung wird vor allem als Beeinträchtigung von Teilhabe verstanden. Damit wird der Blick auf gesellschaftliche Veränderungen gelenkt. Es geht darum, alle Menschen in die Lage zu versetzen, mit anderen in soziale Beziehung zu treten, persönliche Bindungen einzugehen und sich selbst als Teil des öffentlichen Lebens erfahren zu können, ohne Barrieren überwinden zu müssen. Es bedeutet, nicht auf Mitleid angewiesen zu sein, um Unterstützung und Hilfe zu erhalten.

Dieser Paradigmenwechsel hat unmittelbar mit der Aufgabenteilung in Kirche und Diakonie zu tun. Solange nämlich vor allem die Funktionseinschränkungen des Einzelnen im Blick sind, resultiert daraus die Überweisung an eine Spezialeinrichtung. Im Mittelpunkt steht der Gedanke: Diese Person ist behindert – sie braucht Hilfe. Ein am Konzept der Inklusion geschulter Blick nimmt vor allem die hemmenden Rahmenbedingungen wahr. Im Mittelpunkt steht der Gedanke: Diese Person wird behindert – wir müssen uns verändern. Mit diesem Verständnis ist die Abkehr von bevormundender Fürsorge verbunden. Es geht um die Einlösung von Rechten, um das Subjektsein jeder und jedes Einzelnen. Eine der geistigen Mütter des Paradigmenwechsels, die Philosophin Martha Nussbaum, rückt in ihrem Konzept der Teilhabe und Gerechtigkeit die Würde und die Fähigkeiten jedes Einzelnen in den Mittelpunkt: die Fähigkeit, zu lernen und das eigene Denken zu entwickeln, aber auch die, sich selbst zu versorgen. Auch Bewegungsfreiheit und Mobilität gehören zu unseren Grundbedürfnissen – auch wenn wir auf Rollstuhl oder Rollator angewiesen sind. Wir brauchen das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe und wir müssen die Möglichkeit haben, uns einzumischen, wenn es um die Gestaltung unseres eigenen Lebensraums geht – in der Nachbarschaft, in Gemeinde und Politik.

Hilfesysteme dürfen nicht entmündigen, sie sollen Emanzipation und Teilhabe unterstützen. Von diesem Impuls lebte Ende der sechziger Jahre die Auflösung der großen Heime der Jugendhilfe in kleine Familiengruppen, das trieb die Gemeindepsychiatriebewegung in den Siebzigern und die Hospizbewegung in den Achtzigern voran, und es führt seit zehn Jahren zur Ambulantisierung der Behindertenhilfe und zur Veränderung in der Altenhilfe. Damit verbindet sich eine kritische Sicht auf das gegebene Sozialsystem – und auch in dieser Hinsicht geht es bei der Inklusion um einen Paradigmenwechsel: Im deutschen Sozialstaat hat, wer hilfebedürftig ist, einen Rechtsanspruch auf Hilfe, der sich an der jeweiligen Notlage bzw. an den Bedarfen misst. Dabei bedeutet es einen erheblichen Unterschied, ob jemand akut oder chronisch krank ist, eine Behinderung hat oder pflegebedürftig ist. Denn die im Sozialgesetzbuch geregelten Ansprüche sind nach wie vor defizitorientiert und nur sekundär auf Teilhabe- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten ausgerichtet. Kirche und Diakonie haben die Geschichte des Schulsystems wie die des Sozialstaats mitgestaltet und sind zutiefst darin verwickelt. Gleich, ob es um Rettungsanstalten oder Obdachlosenarbeit, um Anstalten für Körperbehinderte oder später auch um die Gründung psychiatrischer Heime ging, es waren fromme Christinnen und Christen und diakonische Vereine, die die ersten Einrichtungen schufen. Spezielle Institutionen wurden geschaffen – mit Medizin und Pflege, mit Schulen und Arbeitsmöglichkeiten. Neue Orte wurden entwickelt wie in Bethel oder Rummelsberg, die auch den Aufgegebenen und Diskriminierten Wahlfamilien und ein Zuhause bieten sollten. Erst heute ist uns bewusst, dass damit auch die Kehrseite der Exklusion verbunden war. Denn mit den Anstalten, die meist vor den Städten lagen, verschwanden die Menschen aus den Familien und den Gemeinden – und mit ihnen auch das Bewusstsein für Verletzlichkeit und Angewiesenheit. Das Erschrecken über die Beteiligung von Anstaltsleitungen an der sogenannten Euthanasiepolitik im Dritten Reich hat seit den sechziger Jahren zum Umdenken geführt – auch in Diakonie und Theologie.

In den letzten 25 bis dreißig Jahren haben sich die sozialen Dienste in Deutschland noch einmal grundlegend verändert – ein Prozess der Ambulantisierung, Privatisierung und auch Vermarktlichung. Dienstleistungen sind an die Stelle von Einrichtungen getreten. Man kommt nicht mehr in eine Station oder Einrichtung, man schließt einen Vertrag über ein individuelles Hilfepaket – im Krankenhaus über die Operation und einige Tage Aufenthalt auf der Station, in Jugend- und Behindertenhilfe über Wohnung, Arbeit, Coaching und Mobilität. Dabei geht es letztlich darum, das Soziale entlang der Lebensvollzüge zu denken, die jeden von uns betreffen: Wohnen und Arbeiten, Bildung und Gesundheit, Mobilität und Zugehörigkeit, Engagement und Beteiligung. Dieses Konzept liegt auch Netzwerken zugrunde wie Wohnquartier hoch 8 in Alsterdorf, die sich nach den wesentlichen Bedarfen bei Wohnungen, Bildungs- und Freizeitangeboten, Gesundheit, Pflege und Mobilität organisieren und dabei auch andere Partner im Blick haben: von den Verkehrsbetrieben und dem Wohnungsbau über Ärzte und Sportvereine bis zu den Kirchengemeinden. Das Soziale neu zu denken, eine neue Subsidiarität zu entwickeln, ist eine große Herausforderung. Es muss darum gehen, jeden Menschen in seinen ganz individuellen Fähigkeiten zu fördern und in seiner Selbstbestimmung zu unterstützen. Kommunen und Kirchengemeinden sind dabei in besonderer Weise herausgefordert. Mit der Ambulantisierung diakonischer Einrichtungen und mit staatlichen Programmen wie Soziale Stadt ist in den letzten Jahren eine neue Aufmerksamkeit für die Quartiersarbeit entstanden. Schon die Diakoniedenkschrift der EKD („Herz und Mund und Tat und Leben“), die 1998 zum 150-jährigen Jubiläum der Inneren Mission veröffentlicht wurde, verfolgt eine gemeinwesenorientierte Strategie. Pate standen Konzepte der gemeindenahen Behindertenhilfe, die lange vor der UN-Konvention umgesetzt wurden. Es geht darum,

  • die Kontakte zu Betroffenen und zivilgesellschaftlichen Initiativen zu verbessern,
  • die Distanz zwischen Kirchengemeinden und diakonischen Diensten zu überbrücken
  • und schließlich die Gemeinden mit außerkirchlichen Initiativen im Gemeinwesen zu vernetzen.

In einem solchen Netzwerk kann die Kirche ein Knoten sein – sie muss nicht alles schultern. Aber Platz nehmen an den runden Tischen, das sollte sie schon. „Wir sind Gottes buntes Völkchen“, sagte der Theologe Ulrich Bach aus Volmarstein, „bei uns kann jeder mitfeiern, wie er kommt.“ In Gottesdienst, Seelsorge und Gemeindeleben sollte das spürbar sein. Auch in einer „ganz normalen“ Gemeinde.

2. Beispiele für Vortragsthemen

  • Welches Inklusionspotenzial hat die Kirche?
  • Inklusionsprozesse zwischen Anspruch und Wirklichkeit –
  • Geschwisterlichkeit und Grenzerfahrungen in der Gemeinde

3. Mein Erfahrungshintergrund:

Im Diakonischen Werk der Landeskirche Rheinland wie in der Kaiserswerther Diakonie war ich zuständig für „Behindertenhilfe“ bzw. „Eingliederungshilfe“. Außerdem war ich Geschäftsführerin des Gremiums zur Erarbeitung der EKD-Orientierungshilfe „Es ist normal, verschieden zu sein“ und bin heute Mitglied des Kuratoriums der Pfeifferschen Stiftungen, Magdeburg.

4. Mein Buch zum Thema und andere Publikationen

„Es ist normal verschieden zu sein“, Orientierungshilfe der EKD, 2014 (Mitautorschaft, Geschäftsführung)

„Was ist gelingendes Leben? Zielvorstellungen und gesellschaftliche Wirklichkeit“ in: Johannes Eurich, Andreas Lob-Hüdepohl (Hg.): Behinderung. Profile inklusiver Theologie, Diakonie und Kirche, Stuttgart 2014