Zwischen Stress, Selbstsorge und Sinnsuche – Wofür arbeiten wir eigentlich?

Vortrag am 31.10.2016 beim Mitarbeiter-und Schwesterntag in Speyer

 

1. Und was ist Ihre Berufung – oder die Suche nach Sinn

„Wann haben Sie das letzte Mal dieses Funkeln in den Augen eines Kollegen gesehen? Wann haben Sie zuletzt aus tiefster Überzeugung heraus geliebt, was Sie tun? Kompromisslos, begeistert, enthusiastisch?“ Das fragen Anja Förster und Peter Kreuz in ihrem Buch „Hört auf zu arbeiten! Eine Anstiftung zu tun, was wirklich zählt“. Dabei geht es nicht um den Ruhestand, auch nicht um die vielbeschworene Work-Life-Balance, sondern um eine lohnende Aufgabe, die Freude macht, unsere besten Kräfte herausfordert und unserer Berufung entspricht.

In den letzten Jahren ist das Thema Berufung wieder wichtiger geworden. In einer Welt, in der wir Jobs und Positionen, Wohnorte, Familien und Freundeskreise oft mehrfach im Leben wechseln, in der Freiheit und Wahlmöglichkeiten immer mehr zunehmen, fragen sich offenbar viele, was der Sinn ihres Lebens ist, was sie an Unverwechselbarem einzubringen haben und wofür sie gebraucht werden. „Viva“, eine Zeitschrift für Leute um die Fünfzig, erzählt am Anfang eines jeden Hefts von Menschen, die ihren Platz gefunden haben: Da wird aus dem Banker ein Lehrer, aus dem Anwalt ein Spieleunternehmer, aus der Sekretärin die Fotografin. Manche lassen sich auf einer Reise inspirieren und bewegen, andere durchleben eine Krankheit, landen in einer Sackgasse und entdecken dann einen alten Traum, einen neuen Lebenssinn. Die Arbeit, sagen sie, sollte auch die eigene Seele füttern. Es geht darum, etwas zu finden, was unseren Einsatz und unsere Hingabe lohnt. Glück erleben wir wie nebenbei, wenn wir tun, was uns begeistert.

Arbeit ist nicht nur Broterwerb. Sie ist wesentlich für unsere Selbstverwirklichung, sie kann Anerkennung bringen, sie verbindet uns mit anderen Menschen – aber sie ist für viele mit steigendem Druck verbunden. Das gilt für die Industrie wie für den Dienstleistungsbereich und auch für die Sozialwirtschaft. Wir erleben eine Ausweitung der Betriebs- und Ladenöffnungszeiten bis hin zum Rund-um-die-Uhr-Betrieb in Fabriken und Callcentern und natürlich auch in Krankenhäusern und OPs. Der moderne Arbeitnehmer soll flexibel, mobil und jederzeit verfügbar sein wie seine Produkte. Das ist in Diakonie und Kirche nicht anders als in Banken und anderen Dienstleistungsunternehmen. Auch wir fragen nach Input und Output, nach Effektivität und Effizienz, machen Gewinn- und Verlustrechnungen auf. In der Diakonie ist das seit den siebziger Jahren selbstverständlich, in den 80ern wurden die alten Werke zu Unternehmen – wohl nicht zufällig mit dem Verschwinden der meisten Diakonissen aus dem aktiven Dienst. Professionalität und Qualität der Dienstleistung galten jetzt als höchster Wert, professionelle Distanz und Qualitätskontrolle dienten als Schutz vor Selbstausbeutung. So haben die allermeisten gelernt, das professionelle Handeln von ihrer Motivation und auch von ihren Gefühlen abzuspalten.

Mein Eindruck ist, dass es inzwischen viele gibt, denen diese Abspaltung zu weit geht. „Professionalisierung, Effektivität und Effizienz heißt immer auch Vereisung“, sagt der Ethiker Andreas Heller. Wo dauernd Budgets und Ziele verglichen werden, zählt am Ende Konkurrenz mehr als Kooperation. Und wer nicht mehr mit einem festen Einkommen rechnen kann, weil er von Zeitvertrag zu Zeitvertrag lebt, lässt sich möglicherweise nicht mehr wirklich ein – auf einen beruflichen Kontext ebenso wenig wie auf einen Wohnort. Vielleicht stehen Familie und Freundschaft, aber auch freiwilliges Engagement und Gemeinwohl gerade deshalb so hoch im Kurs, weil wir spüren, wie viel Kälte in der Funktionalisierung steckt, wie wenig Nachhaltigkeit in der bloßen Marktlogik. Kein Wunder also, dass wieder nach Berufung gefragt wird. Es geht um die Frage, was wir anderen Menschen bedeuten können und welchen unverwechselbaren Beitrag wir für diese Welt leisten können – mit unseren Gaben, mit unserem Können, aber auch einfach mit dem, was wir sind.

Den Zusammenhang zwischen Beruf und Berufung hat vor allem Martin Luther hervorgehoben. Er sah in den unterschiedlichsten Tätigkeiten – vom Bauer bis zum Handwerker, von der Hausfrau bis zum Soldaten – „Berufe“, weil er Menschen Mut machen wollte , Ihre „Berufung“ zu sehen, einen tieferen Sinn in ihrer Arbeit zu finden und so dem Ganzen zu dienen. Vielleicht ist das schwieriger geworden in unserer Welt, in der viele mehrere Berufe und Jobs in ihrem Leben haben. Vielleicht aber auch einfacher. Denn kein Mann muss mehr den Beruf seines Vaters ergreifen und die Firma seiner Eltern fortführen. Und Frauen können auch ohne Mutterschaft ein erfülltes Leben führen. Wir sind frei, unsere ganz eigene Berufung zu entdecken, einen eigenen Weg zu gehen – auch Scheitern und Neuanfängen und unterschiedlichen Lebensabschnitten. Es geht nur um eins: dass wir mit unseren Gaben dem Leben dienen. Ganz unabhängig von elterlichen Aufträgen, gesellschaftlichen Erwartungen, von Einkommen, Status und Hierarchien. In reformatorischer Perspektive sind alle Formen der Arbeit in gleicher Weise zu würdigen: Haus- und Familienarbeit wie Erwerbsarbeit, ehrenamtliche Tätigkeit wie politisches Engagement oder Gartenarbeit.

Wer keine Chance mehr sieht, den eigenen Anspruch im Berufsalltag zu verwirklichen, wer sich nicht gewürdigt sieht mit seiner Biographie, mit dem, was er einzubringen hat, geht vielleicht in die „innere Emigration“, die innere Kündigung. Besser: er oder sie macht sich äußerlich auf den Weg – wechselt die Stelle, bildet sich weiter, spezialisiert sich. Das gilt auch und erst Recht in der Sozialen Arbeit und in der Gesundheitsbranche: die verhältnismäßig geringe Verweildauer in Pflegeberufen, die Zahl der Ärztinnen und Ärzte, die in Forschung oder Versicherungswirtschaft arbeiten, ja – auch die der Pflegekräfte und Ärzte, die nach Skandinavien auswandern, sprechen eine klare Sprache. Andere reduzieren die Erwerbsarbeit, um mehr Zeit für die Familie zu haben, oder machen sich selbständig – mit einem Kinderhospiz, einem Jugendhilfeprojekt oder auch in der privaten Krankenpflege. So gründete eine Krankenschwester in Mössingen eine Wohngemeinschaft für Wachkomapatienten und eine Berliner Lehrerin gründete ein Theaterprojekt mit Migrantinnen und Migranten. Andere suchen neben dem Beruf ein ehrenamtliches Standbein, einen Ort, an dem sie ihre Berufung leben können: eine Imkerei vielleicht, ein Theaterprojekt, eine Yogaschule.

Wenn die Bibel von Berufungen erzählt, berichtet sie von solchen Veränderungsprozessen: Paulus wurde vom Christenverfolger zum Missionar, Martha von der Hausfrau zur Predigerin, Petrus vom Fischer zum Gemeindeleiter, Matthäus vom Outcast zum Gastgeber. Es ist diese Erfahrung, gebraucht zu werden, nach der sich heute viele Menschen sehnen – Frührentner wie Hartz-IV-Empfängerinnen, abgehängte Jugendliche und die vielen, die nicht mehr mithalten können in der beschleunigten Arbeitswelt, aber auch die, die ihrem erträumten Beruf nachgehen und sich dabei völlig entfremdet und vereist fühlen.

 

2. Arbeit und Liebe oder das Puzzle der Moderne?

Dis-embedding ist eine Schlüsselkategorie der Moderne. Der klar und verlässlich gezeichnete Rahmen, in dem Menschen über Jahrhunderte gelebt haben, hat sich aufgelöst – das gilt für Geschlechterrollen wie für Familienbilder, für Biographien wie für Berufswege. Die Wurzeln dieser Entwicklung liegen übrigens schon am Beginn der Neuzeit – die Reformation antwortet darauf. Und es gilt auch für die Beschreibung gesellschaftlicher Funktionen. Aus der Wohlfahrtspflege ist die Sozialbranche geworden. Aus dem diakonischen Dienst eine Dienstleistung wie andere auch. Und wie andere Dienstleistungsbereiche leidet die Branche in besonderer Weise unter Kosten- und Arbeitsdruck. Hier werden keine Überschüsse erwirtschaftet, die sich an Mitarbeitende verteilen ließen. Dass allerdings gerade die Mitarbeitenden in der Pflege so schlecht bezahlt werden – Heinz Bude spricht inzwischen von dem neuen Dienstleistungsproletariat – das hat auch mit unserem diakonischen Erbe zu tun. Denn als in der industriellen Revolution Familien wie Arbeitsverhältnisse unter Druck gerieten, da wurden alleinstehende Frauen zu Diakonissen ausgebildet, um sich um die Kinder und die Pflegebedürftigen zu kümmern. Dass sie dafür gar nicht oder mit Versorgung und einem Taschengeld entlohnt wurden, entsprach dem Geist der Zeit. Ihre Aufgabe war ja nicht grundsätzlich anders als die der bürgerlichen Hausfrauen und Mütter; entsprechend lebten sie auch in familienähnlichen Gemeinschaften. Und schließlich war man überzeugt, dass Frauen zur Nächstenliebe geboren waren.

Ja, es hat auch mit der damals biblisch begründeten Geschlechterhierarchie zu tun, dass so genannte Frauenberufe bis heute schlechter bezahlt werden als Männerberufe und dass „Beziehungs- und Zuwendungsarbeit“ noch immer grundsätzlich niedriger bewertet wird als wissenschaftliche und technische Arbeit oder Managementaufgaben – übrigens bis hinein in die verschiedenen Fachrichtungen der Medizin. Dabei wachsen aber auch in der Pflege die Anforderungen an interdisziplinäres Arbeiten, an Effektivität und Wirtschaftlichkeit, die Ausbildungsanforderungen – und damit die Einkommenserwartungen. Auf diesem Hintergrund kommt es zu einer zunehmenden Spreizung von Qualifikationen und Einkommen: einfache Tätigkeiten werden outgesourcet, Fachdienste oft teuer eingekauft und Mitarbeiter ohne weitere Zusatzqualifikationen möglichst flexibel eingesetzt. Teams werden immer neu gemischt, Patienten „durchgeschleust“, einzelne Module und Dienstleistungen in einer Kette aneinandergereiht – längst wird auch Pflege gemanagt und effektiviert.

Aber soziale Arbeit ist eben nicht nur Handwerk und Management, sondern immer auch Beziehungsarbeit. Sie kann nur gelingen, wenn die Mitarbeitenden sich mit ihrer Person einlassen können, ihre Sensibilität und Professionalität, ihre Menschlichkeit und Fachlichkeit, die eigenen Grenzen und Widersprüche einbringen in ihren Dienst. Dass sie mit allen Sinnen, mit ihrer ganzen Erfahrung aufmerksam im Augenblick sind, ist eine wesentliche die Voraussetzung des Gelingens. In anderen Worten: diakonische Arbeit eben nicht einfach Dienstleistung, sondern immer Koproduktion ist. Gesundheit kann man nicht verordnen und auch nicht kaufen.

Aber Zeit wird gekauft und verkauft; denn Dienstleistung wird nach Zeit berechnet. Deshalb ist Zeit in den sozialen Diensten das teuerste Gut – und so wird, wo immer möglich, an Zeit gespart. Damit werden die „Resonanzflächen“ geringer und die Möglichkeiten, sich einzufühlen und Feedback im Alltag aufzunehmen, schwinden.[1] Vor Jahren hat mich eine Untersuchung über den Schritt in der Altenpflege beeindruckt, die deutlich machten, wie schnell die Mitarbeiterinnen über die Flure gehen mussten, wie langsam dagegen die Bewohnerinnen vorankamen – beide konnten einander so wenig auf Augenhöhe begegnen wie die Menschen im durchfahrenden Zug den Wartenden auf dem Bahnsteig. Zielvereinbarungen, Nutzerfragebögen, Regelgespräche können zwar dafür sorgen, dass Feedback organisiert wird, sie bleiben aber letztlich Managementinstrumente. So beschweren sich viele Mitarbeiterinnen wie Nutzerinnen über den wachsenden bürokratischen Aufwand. Immer häufiger verzichtet man auf Stationsbesprechungen beim Schichtwechsel – aber Übergabebögen und Internet können das kollegiale Gespräch nicht ersetzen. Wer Hilfebedürftige nur noch ein kleines Stück auf dem Weg begleiten kann und nicht mehr sieht, wie es bei den Kollegen mit ihnen weiter geht, wer sich immer neu einlassen und schnell wieder abgeben muss, verliert das Kostbarste, was diese Berufe ausmacht – das Gefühl von Resonanz.

Dass Arbeit mehr ist als nur ein Job, dass sie mit Passion, Begegnung, Kreativität – eben mit Sinnsuche – zu tun hat, das wird zurzeit vor allem in der Szene der Gründer, Freiberuflichen und Künstler neu entdeckt. „Work is not a job“, heißt ein kürzlich erschienenes Buch von Catharina Bruns. Sie versteht Arbeit als Umwandlung von Energie, als unseren Selbstausdruck in der Welt, ein Gestaltungselement mit persönlicher, aber auch mit gesellschaftlicher Dimension. Ihr geht es um neue Formen des selbstbestimmten Arbeitens und der Kooperation, wie sie sich im Zeitalter der Digitalisierung, des Crowdfunding und der Social Entrepreneurs entwickeln. Nicht die Karriere steht hier im Mittelpunkt, sondern die persönliche Entfaltung. „Ist es zu viel verlangt, sich in dem, was man den ganzen Tag tut, wiederfinden zu wollen“ fragt sie. Wer seine Arbeit nur als Job verstehe, der sortiere am Ende alles nach Arbeitszeiten und Zuständigkeiten. Und suche dann die Work-Life-Balance in dem, was vom Leben übrig bleibt. Wer aber seine Arbeit als Berufung verstehe, der engagiere sich für die Rahmenbedingungen und kämpfe darum, dass die eigene Arbeit im Einklang mit den persönlichen Begabungen und Interessen bleibe.

„Arbeit ist sichtbar gemachte Liebe“ meint Catharina Bruns. Damit sind wir sehr nah an den Motiven, die den Aufbruch der Diakonie im 19. Jahrhundert kennzeichnen. Es ging um Nächstenliebe – um die Liebe zu den Schwachen in den Zeiten der ersten Globalisierung und Industrialisierung; es ging darum, den Ausgeschlossenen zu zeigen, dass sie gebraucht wurden. All die Kindergärten, Kranken- und Rettungshäuser entstanden aus den Initiativen ehrenamtlich Engagierter – von Unternehmern, Kommunalbeamten, gut ausgebildeten Frauen ohne Beruf. Es waren Menschen, die von ihrer Sache begeistert waren: Fromme, erweckte Christen, die sich engagieren wollten, Pfarrerinnen und Pfarrer, die ihre Kirche verändern wollten. Aus diesen Initiativen entstanden die diakonischen Gemeinschaften, die Kraftorte der Diakonie an den Brennpunkten ihrer Zeit und auch ganz neue Berufe für die, die sich abgehängt und nutzlos fühlten. Arbeitslose junge Männer wurden Handwerker und Diakone, alleinstehende Frauen, die eine Aufgabe suchten, wurden Diakonissen, Erzieherin oder Krankenschwester.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden dann aus freiwilligem Engagement bezahlte Berufe. „Nicht dienen, um zu verdienen“, wollte man – wie Friedrich Zimmer gegen Ende des Jahrhunderts sagte, wohl aber „verdienen, um dienen zu können“. Die Gründerinnen und Gründer der neuzeitlichen Diakonie schmiedeten mit ihren Diensten Ketten der Hilfe als Alternative zu den Vertriebsketten auf den neuen globalen Märkten der Industrialisierungszeit. In einer Zeit, in der Menschen auf der Suche nach Jobs vom Land in die Städte zogen und oft genug ihren Halt verloren, schufen sie Haltepunkte, Häuser und Gemeinschaften, die Menschen stark machten und eine ungeheure Anziehungskraft hatten. Florence Nightingale, die Gründerin der Krankenpflegeschulen in England, kam als junges Mädchen nach Kaiserswerth, weil sie so begeistert war von den neuen Ideen. Ein ganzes Jahr lang hatte sie mit dem Jahresbericht der Diakonissenanstalt unter dem Kopfkissen geschlafen; „Liebesanstalt“ hatten Fliedner sie genannt. Hier sollte Arbeit tatsächlich sichtbar gemachte Liebe sein – und Florence erlebte das auch so: in Kaiserswerther Krankenhaus, schrieb sie, würden „Pflegende wie Gepflegte Gewinn davon tragen“.

Dass die Frage nach der Berufung heute wieder eine zentrale Rolle spielt, hat auch damit zu tun, dass wir erneut in einer globalen Transformation leben – diesmal von der Dienstleistungs- zur Wissensgesellschaft. Mit wachsenden Erwartungen an Mobilität und Verfügbarkeit, neuen Abhängigkeiten, Verdichtungen und Überforderungen. Die Wachstumsgesellschaft scheint an eine Grenze zu stoßen, die Wohlfahrtindustrie steht unter erheblichem Druck, die versprochene Vereinbarkeit von Beruf und Familie gelingt so nicht. Für, die, die darunter leiden, geht es nicht mehr um Karriere – es geht um ein gutes und stimmiges Leben. Viele wechseln aus ganz anderen Branchen in Kirche oder Diakonie, weil sie nach einer sinnvollen Arbeit suchen – um dann zu erleben, dass die Sozialbranche heute nach denselben Gesetzen gesteuert wird, wie andere auch. Unsere Unternehmen sind nur noch selten die große Alternative – eher schon die kleinen ehrenamtlichen Initiativen und Start-Ups.

Denn die Ganzheitlichkeit, nach der viele suchen, ist eben auch bei uns zerbrochen. Als wir kürzlich in einer Steuerungsgruppe der Zehlendorfer Diakonie darüber sprachen, wie sich die Schwesternschaft verändern muss und weiterentwickelt kann, sagte jemand, die Gemeinschaft sei ja eben nur noch ein kleiner Teil des eigenen Lebens. Vielleicht nur ein Achtel oder Sechzehntel der Torte, die ansonsten aus Beziehung, Kindern, Beruf und Haushalt, Pflege der Eltern, Freundeskreis besteht. Die Pflegenden von heute sind keine Diakonissen mehr, bei denen vieles in der Gemeinschaft aufging: Beruf und Wohngemeinschaft, Beziehungen und Freundeskreis, Haushalt und Spiritualität. Oder mit den Worten der Tradition: Glaubens- , Lebens-, Dienstgemeinschaft. Wenn wir in Kaiserswerth Einführungstage halten und eine alte Diakonisse erzählte, dass die Mittagstische und Andachten, die Stunden an einem Sterbebett Teil des Dienstes waren – dann leuchteten die Augen der Jungen. Sie wussten, wir wissen alle – es gibt keinen Weg zurück und niemand möchte mehr auf der Station wohnen. Aber zugleich sahen sie vor ihrem inneren Auge die Puzzleteile ihres Lebens, die kaum noch zusammen zu führen waren.

Und es ist klar: was wir im Außen erleben: das Zerbrechen der alten Ordnung in einzelne Vollzüge – das findet eben auch im Leben der Einzelnen statt – und es spiegelt sich in unserem Inneren wieder. Auch unsere persönlichen Werte und unsere eigene Spiritualität sind nicht mehr unbedingt deckungsgleich mit denen am Arbeitsplatz oder mit denen unserer Partner. Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Funktionsbereiche strikt getrennt sind. Arbeit und Wirtschaft, Familie und Nachbarschaft, Spiritualität und Religion gehören zu unterschiedlichen Lebensbereichen. Aus den Krankenhäusern und Pflegediensten, die einst von diakonischen Gemeinschaften getragen wurden, wurden diakonische Unternehmen. Und aus der diakonischen Dienstgemeinschaft wurde ein arbeitsrechtlicher Begriff, der inzwischen längst unter Druck steht, weil viele Mitarbeitende ohnehin keiner Kirche mehr angehören. Normalerweise empfinden wir Religion als Privatsache – jedenfalls war es so, bis die neuen muslimischen Kolleginnen und Kollegen kamen. Glaube, Gemeinschaft und Dienst, „Believing“ und „Belonging“, sind in einem diakonischen Unternehmen kaum noch zur Deckung zu bringen. Es fehlt der gemeinsame Rahmen – das meint ja Dis-embedding.

 

3. Was uns heilig ist – Werte teilen

„Die Arbeit ist für viele Menschen der Ort, an dem sie sich selbst verwirklichen möchten – und zugleich der Ort, an dem die Auswirkungen von Beschleunigung, Rationalisierung und Globalisierung großen Druck ausüben. Die Anpassung an diese Bedingungen fordert Reflexion und Verantwortung. (Wir müssen) unseren Referenzwert, die Orientierungskoordinaten für unser Leben ständig überprüfen, (und wir) müssen Aufmerksamkeit für die Gefahr der Erschöpfung entwickeln“, schreiben Unger und Kleinschmidt in ihrem Buch „Bevor der Job krank macht“.[2] Das gilt für Mitarbeitende in der Diakonie in besonderer Weise. Denn die Referenzwerte des Unternehmens sind meist auch die, die unsere eigene Motivation beschreiben: es geht um Nächstenliebe; wir wollen sie leben, wir werden daran gemessen, wir wollen sie aber auch selbst erfahren. Wenn wir nicht mehr im Einklang mit unserer Berufung stehen oder wenn bestimmte Aspekte der Organisation mit diesen Referenzwerten nicht mehr übereinstimmen, ist das purer Stress. Und kann zu Erschöpfung und Entfremdung führen.

Ich denke an ein Schaubild, dass Studentinnen der Pflegewissenschaft in einem Ethikseminar entwickelt hatten. Es ging um die Werte der Organisation und die Werte der Personen. Auf dem Plakat sah man oben die Leitung mit ihren Erwartungen an die Mitarbeitenden – Leistung, Einsatz, Qualitätsmanagement, Loyalitätserwartungen. Unten die Kunden mit ihren Erwartungen an gute Pflege, Akzeptanz ihrer jeweiligen Biografie und ihrer persönlichen Werte. Und dazwischen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – zwischen Kassen und Kunden. Eine meiner Studentinnen hatte das Gefühl auf der Intensivstation Handlangerin ethischer Entscheidungen zu sein, die sie selbst so gar nicht getroffen hätte. Eine andere hatte sich komplett ohnmächtig gefühlt, als der zuständige Hausarzt in der ambulanten Pflege den Missbrauch nicht anzeigen wollte, den sie zur Sprache gebracht hatte.

Meine Ruhrgebietsstudentinnen kamen vielfach aus Migrantenfamilien, die meisten waren Musliminnen. Ihre Werte waren ihnen wichtig für die eigene Arbeit – im Blick auf Altern und Sterben, Religion und Geschlechterrollen. Aber sie hatten bis dahin wenig Gelegenheit gehabt, aus ihrer eigenen Haltung heraus auf ihre Arbeit zu schauen und das auch zu formulieren. Meist gab es schon fertige Leitbilder und Ziele, an die sie sich anpassen sollten. Aber ohne die eigene Person einzubringen, wird man auf Dauer weder pflegen noch erziehen, weder beraten und leiten können. Darum ist es so wichtig, sich mit den eigenen Werten auseinander zu setzen, ins Gespräch zu kommen, notfalls sogar einen Konflikt zu riskieren, damit die Energie wieder fließt. Und immer wieder zu schauen, ob die Ausrichtung der Organisation mit der eigenen Haltung und den eigenen Werten zusammen passt.

Unger und Kleinschmidt, die sich damit beschäftigt haben, was gute Arbeit ausmacht, empfehlen, sich regelmäßig Auszeiten zu nehmen, um sich solche Fragen zu stellen. „Entspricht meine Arbeit noch meinen persönlichen Werten und Zielen? Achte ich gerade genug auf mich selbst, meine Rhythmen und Körpersignale? Wie verantwortlich und wertschätzend bin ich mir selbst und mir wichtigen anderen Menschen gegenüber?“ Es geht um eine furchtlose Inventur; ein Coaching oder eine Supervision können dabei hilfreich sein. Vielleicht auch einfach eine Zeit am Tage, in der wir die Stille auf uns wirken lassen. Ohne Selbstsorge jedenfalls kann die Sorge für andere auf Dauer nicht gelingen.

Der Philosoph und Politikwissenschaftler Matthew Crawford, der mit den widersprüchlichen Anforderungen in dem Thinktank, in dem er arbeitete, nicht mehr zurecht kam, kündigte und eröffnete stattdessen eine Motorradwerkstatt. Er findet den Sinn seines Tuns in seinem Handeln. Aus seiner Sicht ist es entscheidend, dass Arbeit uns in einer Wertegemeinschaft verankert. Was ich tue, sagt er, muss Teil eines umfassenderen Bedeutungskreises sein – es soll dem Leben dienen. Ich arbeite nur mit Menschen, denen es genauso geht. Dieses Bewusstsein, das gar nicht ausgesprochen werden muss, konstituiert unser Team. Wir stehen in einer Art „tätigem Gespräch“ miteinander – und durch dieses Gespräch kann die Arbeit unser Leben zu einem in sich schlüssigen Ganzen machen. Crawford versucht zu beschreiben, was gute Arbeit ausmacht: Um als Fotograf gute Arbeit zu tun, schreibt er, muss man nicht nur Fotos machen, sondern Fotograf werden – man stellt sich damit in eine lange Traditionsreihe von Menschen, denen es vor allem um eines ging: Man muss sehen lernen.

Auch wir stehen in einer solchen Traditionskette, die über unsere eigene Arbeit, ja, sogar über unsere Berufung hinausreicht. Wer Pädagogik, Soziale Arbeit oder Pflege studiert und gelernt hat, will vor allem eins: für Menschen da sein. Dem sollten die diakonischen Einrichtungen mit ihren Ämtern und Diensten, mit den Kirchen und Andachten, den Gärten und Bildungseinrichtungen dienen. Wenn wir merken, dass die heutigen Rahmenbedingungen unserer Arbeit mit diesem Ziel nicht mehr übereinstimmen, gibt es Klärungsbedarf.

Heike Lubatsch vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD hat eine Studie zu den Arbeitsbedingungen in diakonischen Krankenhäusern gemacht. Knapp 2000 Fragebögen wurden in diakonischen Krankenhäusern in Niedersachsen versandt, etwa ein Drittel kam zurück und konnte ausgewertet werden. Hinzu kamen 500 Fragebögen in den neuen Bundesländern sowie als Vergleichsgröße knapp 300 in städtischen Häusern. Ziel der Studie war es, mehr über Arbeitszufriedenheit und Sinnerleben im Pflegeberuf zu erfahren. Angesichts hoher Burnout Gefährdung in der Pflege ging es dabei wesentlich um die Kraftquelle der Pflegenden. Es wird niemanden überraschen, dass sich knapp die Hälfte der Befragten mit Entlohnung und Anerkennung ihrer Leistung unzufrieden zeigten, dass 80 Prozent über Zeitdruck klagten – und dass beim Thema Zufriedenheit die vielfältigen Aufgaben und vor allem die sozialen Beziehungen zu den Kollegen ganz vorn standen. An erster Stelle das Wohl der Patientinnen und Patienten – mit 80 Prozent vorn-, aber gleich danach ein gutes Team, eine sinnstiftende Tradition und schließlich die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung in der Arbeit. Die SI-Untersuchung zeigt: Wenn diakonischer Anspruch und gelebte Wirklichkeit in einem eklatanten Widerspruch stehen, wächst die Burnout Gefährdung, steigen die Fehltage.[3]

 

4. Zusammenarbeit : Das Ganze nicht aus dem Blick verlieren

In seinem Buch über Zusammenarbeit hat der Soziologe Richard Sennett dargestellt, wie sehr dieser Blick aufs Ganze angesichts unserer oft so zerstückelter Jobs, Zeitarbeitsverhältnisse und individualisierter Medien bedroht ist – und wie sehr wir auf Zusammenarbeit angewiesen sind, um wenigstens eine Ahnung von dem großen Zusammenhang zu bekommen, in dem wir arbeiten. Wir brauchen das tätige Gespräch, das Gefühl, am guten Leben mitzuarbeiten, von dem eben schon die Rede war. Wo das nicht gelingt, so Sennett, entsteht Destruktion: kleine Gruppen verteidigen das Eigene auf Kosten und in Abgrenzung zu anderen. Ich erinnere an Lokführer und Piloten. In der Gewerkschaftsbewegung kann man sehen, wie der Zerfall von Solidarität zum Stillstand des Ganzen führt.

Vor kurzem erzählten mir einige Pflegedienstleitungen vom Trend zu selbständigen Pflegefachkräften. Auf dem leer gefegten Markt bestimmen sie die Rahmenbedingungen ihres Einsatzes weitgehend selbst: sie kommen, wenn Personalmangel auf Station ist, aber sie machen keinen Nachtdienst, oder arbeiten nicht am Wochenende oder nur, wenn die Kinder in der Schule sind. Der Rest muss von den fest Angestellten aufgefangen werden. Die selbständigen Fachkräfte sind für mich der konsequente Endpunkt der langen und schwierigen Entwicklung der Pflege: vom Engagement zur Beruf, vom Taschengeld zum Entgelt, von einer ordensähnlichen Gemeinschaft zur freien Berufsausbildung, von der Institution zur Einzelnen, die nun ihren Erfolg selbst in die Hand nimmt. Dabei wird zugleich klar, wie fragil die Zusammenarbeit in einer Klinik oder einer Pflegeeinrichtung ist – sie setzt voraus, dass Menschen bereit sind, sich für andere einzusetzen, sich mit anderen abzustimmen, Beruf und Familie irgendwie unter einen Hut zu kriegen. Die Organisationen leben von der Bereitschaft, sich selbst als Teil eines Ganzen zu verstehen – gerade das war in den Schwesternschaften über viele Jahrzehnte Voraussetzung. „Eigenbrötler und Einspänner“ sind nicht gewünscht, schreibt Ulrike Gaida in einer Studie zur Ev. Diakonie Zehlendorf. Anpassung war gefordert, oder – in der Diakonissentradition – ganz ausdrücklich Gehorsam. So aber lässt sich das Ganze nicht mehr gewinnen.

Schon gar nicht in einer Sozialwirtschaft und in Unternehmen, die wesentlich ökonomisch ausgerichtet sind. Bei knappen Kassen setzen sich im Krankenhaus Ärzte auf Kosten der Pflegenden durch, Pflegende auf Kosten der Küchen – und Hauswirtschaftskräfte. Die Konkurrenz zwischen den Berufsgruppen wächst. Mit Rationalisierung, Verkürzung der Liegezeiten, Auflösung der starren Fachstrukturen, Verbesserung der Behandlungspfade werden die letzten Effizienzreserven gehoben. Oft gerade dort, wo der diakonische Mehrwert liegt: in der Zeit für Zuwendung und Zusammenarbeit. Fusionsprozesse und Neuaufstellungen wirbeln ganze Teams durcheinander, viele verlieren den Halt auf ihrer Station, in ihrem Haus oder Arbeitsbereich. Manche steigen aus, wechseln den Job, andere fühlen sich „abgehängt“ oder werden krank.

Vielleicht liegt es an den flexiblen Arbeitsverhältnissen, dass Freundschaft heute wie die Frage nach der Berufung Konjunktur hat. Und die Kolleginnen und Kollegen spielen dabei eine wichtige Rolle – manche sprechen schon von Frollegen. Es tut gut, zu wissen, wem wir vertrauen können, wohin wir gehören, wenn wir an die Arbeit gehen. Wir sind darauf angewiesen, dass Informationen fließen, dass wir Rückmeldungen bekommen und geben können, dass wir uns einmischen können, wenn unsere Arbeit sich verändert. Wir brauchen Besprechungen, die mehr sind als das Abhaken von to-do-Listen, Zeiten zum Austausch, Probleme zu klären, einander Mut zu machen. Und eben auch Zeiten und Räume, die aus dem Alltag herausgenommen sind. Ein Raum der Stille, ein Einführungskurs, ein Ethikzirkel, aber auch Feste und Fachtage geben die Chance, uns klar zu machen, wo wir stehen, wohin wir gehören, wohin wir unterwegs sind. In Gruppengesprächen, beim gemeinsamen Essen, in einem gemeinsamen Abschluss entsteht ein Resonanzraum, der über den Augenblick hinausweist, unsere Rollen überschreitet und unsere Gefühle einbezieht. Das macht Lust, zusammen weiter zu arbeiten. Weil auch die Seele ihren Platz wieder gefunden hat.

Aber „entscheidend ist auf Station“, sagte mir einmal eine Pflegekraft im Bewerbungsgespräch, als wir über Leitbild und die Kirchenzugehörigkeit sprachen. Sie hatte Recht: wenn über die Versorgung am Lebensende entschieden wird, wenn die Demenzkranke nachts durchs Haus unterwegs ist, wenn der Jugendliche wieder mal die Ausbildung geschmissen hat, wenn einer unter die Räuber gefallen ist eben – dann geht es ums Ganze .Entscheidend ist auf Station. Ob und wie gut es gelingt, gemeinsame Werte zu erarbeiten und dabei auch Ausnahmesituationen gerecht zu werden, das hat auch mit der Arbeitsorganisation zu tun. Dazu muss es Räume des Vertrauens geben. Dazu gehört die Erfahrung, dass sich die Dinge ordnen, wenn Menschen den Schwächsten in den Mittelpunkt stellen. Und wenn alle zugleich das Ganze im Blick haben. Am deutlichsten ist das für mich in der Begleitung Sterbender geworden. Hier können Professionelle, Angehörige, Freiwillige für eine Weile zu einer verlässlichen Gemeinschaft werden, sich offen austauschen, sich unterstützen – jenseits von Rollen, Funktionen und Hierarchiestufen. Aber wie die Zeit für Zuwendung, steht eben auch das verlässliche Miteinander in der Zerreißprobe.

 

5. Leib und Seele: uns selbst nicht aus dem Blick verlieren

Marco von Münchhausen, der ein Buch mit dem Titel „Wo die Seele auftankt“[4] geschrieben hat, spricht über die Momente, in denen wir eine tiefe Leere empfinden. Vor lauter Investition ins Außen, vor lauter Anforderungen in Beruf, Familie, Nachbarschaft haben wir das Gefühl, uns in den täglichen Zerreißproben selbst zu verlieren – unsere innere Mitte zu verlieren. Wir funktionieren, aber wir spüren uns nicht mehr – es sei denn mit Kopf- oder Rückenschmerzen. Wer kennt sie nicht, die Sehnsucht nach Entschleunigung, die damit einhergeht. Was dagegen hilft, hat mit unseren leiblichen und sozialen Rhythmen zu tun: mal wieder spazieren gehen statt Auto fahren, selbst kochen statt bei Mc Donalds vorbei hasten, einen langen Abend zusammen sitzen und klönen. Oder auch nur eine Viertelstunde auf die Matte gehen, im Atmen zur Ruhe kommen, die Mitte stärken, die alles tragen muss.

„Man soll dem Leib etwas Gutes bieten, damit die Seele Lust hat, darin zu wohnen“, steht an der Wand eines Cafés in Erfurt. Darunter: Winston Churchill. Naja – fast richtig. Denn das Wort ist viel älter, es stammt von Teresa von Ávila und heißt wörtlich und sehr persönlich und direkt: „Tu Deinem Leib Gutes, damit Deine Seele Lust hat, darin zu wohnen.“ Teresa von Ávila, eine spanische Mystikerin aus dem 16. Jahrhundert, verstand den Leib als Tempel der Seele. Gebaut aus dem gleichen Stoff wie die Welt, in der wir leben- und zugleich Teil unserer Person. Aus Erde gemacht, wie die Bibel erzählt – und lebendig, weil der Atem Gottes auch in uns atmet und durch unserer Körper hindurchfließt. Der mittelalterliche Theologe Thomas von Aquin spricht von der verleiblichten Seele. Heute sprechen wir von Embodiment-Erfahrungen verleiblichen sich. Dass kranke und sterbende Menschen nicht nur behandelt, sondern gepflegt werden, dass wir gerade auf die letzte Lebenszeit, auf ihre Tiefe, besonders achten, das hat natürlich auch mit der Vorstellung des beseelten Leibes zu tun; wer einen anderen berührt, rührt damit an Erfahrungen, die sich tief in den Körper eingeprägt haben. Und wer die Wunden eines Menschen pflegt, sorgt damit auch für das Heilen der Seele. Auch das gehört zu unserer christlich-jüdisch-muslimischen Pflegetradition.

Franziskus von Assisi spricht vom Leib als dem Bruder Esel. Und erinnert er an die alte Geschichte von Bileam[5], dem Propheten, der mit seinem Esel unterwegs ist. Plötzlich bleibt der Esel stehen. Bileam gibt ihm einen Klaps, er brüllt den Esel an, schließlich prügelt er ihn, aber der Esel steht – alle Hufe fest am Boden. Denn im Unterschied zu Bileam sieht er den Engel, der ihnen den Weg versperrt. Ein Warnsignal – die beiden sind auf Abwegen. Bileams Esel ist nicht einfach nur störrisch, er nimmt mehr wahr als der Prophet selbst. So, sagt Franz von Assisi, sei es mit unserem Leib, dem Bruder Esel. Der sei oft klüger als unser Kopf mit all seinen Plänen. Er sieht die Grenzen, die Gefahren auf unserem Weg. Und sendet Warnsignale. Wenn und solange unser Körper funktioniert, solange wir uns bei einer sinnvollen Aufgabe selbst vergessen können, solange die Energie reicht, um unseren Projekten nachzugehen, denken wir nicht viel darüber nach. Der Philosoph Hans Georg Gadamer hat von Gesundheit als dem selbstvergessenen Weggegebensein an das Leben gesprochen. Erst wenn die ersten „Warnsignalen des Körpers“[6] sich bemerkbar machen, spüren wir, dass unser Leib eben mehr ist als ein verfügbares Instrument. Plötzlich geht es wieder um uns selbst, um unseren Lebensstil, unsere Motivation und unsere Kraftquellen, um den Sinn unserer Arbeit.

„Ich fürchte, dass Du, eingekeilt in Deine zahlreichen Beschäftigungen, keinen Ausweg mehr siehst und deshalb Deine Stirn verhärtest; dass Du Dich nach und nach des Gespürs für einen durchaus richtigen und heilsamen Schmerz entledigst. Es ist viel klüger, Du entziehst Dich von Zeit zu Zeit Deinen Beschäftigungen, als dass sie Dich ziehen und Dich nach und nach an einen Punkt führen, an dem du nicht landen willst. Du fragst an welchen Punkt? An den Punkt, wo das Herz anfängt, hart zu werden. Frage nicht weiter, was damit gemeint sei: wenn Du jetzt nicht erschrickst, ist Dein Herz schon so weit“, heißt es in einem Brief von Bernhard von Clairvaux. Nicht an irgendwen, sondern an einen Papst, Papst Eugen III.[7]

Wir müssen also nicht erschrecken, wenn es auch uns so geht. Deswegen sind wir ja hier. Um für uns zu sorgen. Auf unser eigenes Leben zu achten. Und das heißt auch: auf unseren Umgang mit Arbeit. Abhängen und sich verwöhnen lassen genügt nämlich auf Dauer nicht, wenn wir uns leer und kraftlos fühlen. Wenn die Lebensfreude schwindet und selbst Aufgaben, die gestern noch Spaß gemacht haben, zur bloßen Pflicht werden. Es geht darum, aufzubrechen und uns auf eine innere Reise zu machen, wie es so viele tun, die auf einen Pilgerpfad gehen und mit den Füßen beten. Dabei kommt es letztlich darauf an, unseren Tag und dann auch unseren Alltag neu zu gestalten, eine neue Balance zu finden. Zwischen zielgerichtetem Handeln und einem tragfähigen Miteinander, zwischen Fürsorge und Selbstsorge. Erinnern Sie sich an die Antworten der Pflegenden zur Frage nach ihren Kraftquellen? Die Resonanz ihrer Patientinnen und Patienten und ein gutes Team, hilfreiche Traditionen und eigenes Wachstum standen ganz oben. Immer, wenn wir auf der Beziehungsebene weiter gekommen sind, wenn wir uns von einer Person oder eine Gruppe anerkannt und eingebunden fühlen, spüren wir auch Erfolg. Wenn wir aber alle Energie aufs Funktionieren richten, dann spüren wir am Ende möglicherweise nicht einmal mehr die eigene Anspannung, selbst Schmerz und Enttäuschung nicht.

Genau deshalb ist es so wichtig, inne zu halten und eben auch die Warnsignale des Körpers ernst zu nehmen. Manchmal genügen viel Schlaf, eine Runde Yoga oder ein warmes Bad, manchmal muss es die Seelenspeise aus unserer Kindheit sein, damit wir rauskommen aus Rechtfertigungsdruck und guten Ratschlägen, aus Zeitdruck und Selbstüberforderung. Und auch Religion ist mit ihren Bildern und Ritualen ein Angebot, unseren Ort im Lebenslauf, „zu verleiblichen und zu vergemeinschaftlichen“.

 

6. Rhythmen, Räume, Rituale: Kraft tanken im Alltag

„Der moderne Individualismus steht meines Erachtens nicht nur für einen persönlichen Impuls, sondern auch für einen sozialen Mangel, einen Mangel an Ritualen… Die moderne Gesellschaft hat die durch Rituale hergestellten Bindungen geschwächt“, schreibt Richard Sennett am Schluss seines Buches über Zusammenarbeit. In der Tat können Rituale in Umbrüchen das Gemeinsame sichtbar machen, eine schwierige Situation in einen neuen Rahmen stellen, die Gemeinschaft wieder an den Koordinaten auszurichten, die sie prägen. Sie können Komplexität reduzieren, Abschiedsprozesse und Übergänge gestalten, Dankbarkeit zum Ausdruck bringen. Mit Ritualen lassen sich Erfolge feiern; wir können sie nutzen, um Feedback zu geben und ein Team zu bilden, aber auch um die Meilensteine auf einem Veränderungsweg zu markieren.

Diakonie ist reich an Ritualen – mit Weihnachts- und Sommerfesten, Einführungen und Abschieden, Tagen der Offenen Tür, Konzerten und Jubiläen. Was das angeht, hat Diakonie unendlich viel zu bieten. Wir haben Rituale für Abschied und Neubeginn, für Geburtstage und Jubiläen. Was wir heute brauchen, ist allerdings eine interkulturelle Sensibilität, die auch die Traditionen der muslimischen oder nichtkirchlichen Mitarbeiter achtet. Wenn Menschen das Gefühl haben, das in solchen Ritualen auch ihre persönlichen Motive und Wege vorkommen, sind wir auf einem guten Weg. In der nachchristlichen Gesellschaft kann ein gemeinsamer Glaube, der zum gemeinsamen Handeln führt, nicht mehr als tragendes Fundament vorausgesetzt werden. Die Richtung führt nicht mehr vom „Believing“ zum „Belonging“, sondern umgekehrt: vom Behaving zum Belonging zum Believing. Über das gemeinsame Handeln erschließt sich die Gemeinschaft.

Neben den eher ritualisierten Anlässen sind es oft genug neue Projekte, in denen Entwicklungsmöglichkeiten für das Ganze stecken: Der Palliative-Care-und Ethik-Prozess in der Kaiserswerther Diakonie begann mit den Tränen einer Schwester. „Nach vier Jahren in der Lungenklinik kann ich meine Traurigkeit nicht mehr herunterschlucken“, sagte sie. Sie hatte zu viel Abschied erlebt – und zu wenige Möglichkeiten gehabt, ihre Gefühle wahrzunehmen und zu gestalten. Mit diesen Tränen begann etwas Neues – zunächst mit einer ehrenamtlichen Hospizgruppe von Schwestern in der Rente, die sich endlich Zeit nehmen konnten, am Bett zu sitzen und ganz da zu sein. Ich habe die Anfangsschwierigkeiten nicht vergessen – zunächst einmal störte sie den Betrieb. Aber dann kam der Aufbruch. Die Atemtherapeutin, die Stationsschwester, ein junger Arzt arbeiteten mit und aus der kleinen Gruppe wurde eine Bewegung, die mehr als 200 Leute in Krankenhaus und Altenhilfe erfasste. Die Schreinerei entwickelte eine kleine Schub-Lade mit Kerze, Spruchkarte, Kreuz und einem weißen Deckchen für den Nachtisch – für jede Station, für jede Pflegekraft, die einen Abschied gestalten will. Und in das weiße Tuch stickten Ehrenamtliche aus der Paramentik einen Schmetterling als Zeichen der Wandlung. Es hat mich begeistert, zu sehen, wie diese Arbeit immer neue Früchte trug – ganz greifbar und praktisch vom Moseskörbchen in der Geburtsstation bis zur Ethikberatung in der Altenhilfe – das Schönste war, dass Mitarbeitende sich beflügelt fühlten, weil sie endlich wieder die eigene Berufung spürten. Wer in diesem Sinne bei sich selbst ist, kann auch bei anderen bleiben. Aber zu sich selbst und zu anderen kommen, die eigenen Gefühle und die der anderen wahrnehmen – das braucht Gestaltung in Zeit und Raum.

Wir sind dazu ausgebildet, auf die Bedürfnisse anderer zu achten und für sie zu sorgen. Vielleicht gehört dazu auch die Vorstellung, dass von den Menschen, für die wir arbeiten und mit denen wir arbeiten, etwas zurückkommt. Wenn uns die Resonanz fehlt, führt das manchmal dazu, dass wir noch mehr tun und uns selbst dabei vergessen. Bis eben nichts mehr geht. Wenn es soweit ist, dann gibt es nur eines: da anfangen, wo der Schmerz sitzt – bei der Wut, der Enttäuschung vielleicht. Sich die uneingestanden Wünsche und Bedürfnisse bewusst zu machen. Und wirklich zu begreifen, dass Fürsorge ohne Selbstsorge nicht funktioniert. Und dann klein beginnen – einen Tag für sich selbst nehmen; den Arbeitsplatz neu gestalten, ein paar Blumen kaufen, einen Spaziergang machen. Es gab eine Zeit, da hatte ich 20 Ideen, wie ich mir gut sein konnte, am Kühlschrank hängen.

Meine Erfahrung ist, irgendwas geht immer, um zurück in die Spur zu kommen. Für mich am besten: Walken und Tagebuch schreiben. Bis ich den Kopf frei kriege und meine Seele auch. Und es ist gut, dabei Begleiter zu haben – Freunde, Personaltrainer, geistliche Begleiter. Auch eine Erfahrung von Teresa von Ávila hilft mir: die innere Burg, der Schutzraum in mir selbst. Oder – wie es die Hypnotherapeuten sagen: die innere Kapelle. Es tut gut, in Stille und Meditation, den Ort aufzusuchen, an dem meine Seele zur Ruhe kommt. Dieser Raum ist immer da – wir tragen ihn in uns. Meiner sieht übrigens aus wie der Chorraum der Zionskirche in Bethel: ganz ausgeschmückt mit Sternen auf blauem Grund. So können Bruchstücke aus der Tradition zum Ganzen zurückführen. Wenigstens für eine Weile werden sie zum Haltepunkt auf dem Weg, zu einer Gelegenheit, Atem zu schöpfen.

Zum download: power-point-speyer-2016-10-31-final

 

[1] Vgl. die Überlegungen von Hartmut Rosa zu „Beschleunigung. Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Berlin 2005 – und seitdem vielfältige Aufsätze und Texte zu Resonanz und Beschleunigung vom gleichen Autor
[2] Unger, Hans-Peter/ Kleinschmidt, Carola: Bevor der Job krank macht, München 2006, S.
[3] „Führung macht den Unterschied“, Heike Lubatsch, Sozialwissenschaftliches Institut der EKD, Hannover 2012
[4] Marco von Münchhausen, Wo die Seele auftankt, Frankfurt 2004
[5] 4. Mose 22, 21 ff.
[6] Vgl. z.B. Volker Fintelmann, Marcela Ullmann, Warnsignale des Körpers, Beschwerden von Körper und Seele ganzheitlich verstehen, München 2004
[7] Zitiert nach Anselm Grün, Buch der Lebenskunst, Freiburg 2002