Zwischen Autonomie und Angewiesenheit

Zur Kontroverse um die Orientierungshilfe der EKD[1]

 

1. Was für eine Debatte: heftig, fokussiert und nachhaltig

Anders als die misslungene Familienschrift seien die Thesen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zur Bedeutung der Reformation angemessen: gründlich und bei der eigenen Sache. So konnte man es dieser Tage in einem Kommentar von Reinhard Bingener in der FAZ lesen. Der Vergleich hat mich nachhaltig irritiert, weil es in meiner Perspektive um einen grundlegend anderen Texttypus ging. Gleichwohl spiegelt dies die Nachhaltigkeit und Heftigkeit der Debatte um die Orientierungshilfe[2] wider, bei der die FAZ eine entscheidende Rolle gespielt hat.

„Sind Sie nicht überrascht über die Diskussion?“ wurde ich immer wieder gefragt. Doch, zunächst einmal war ich überrascht. Nicht nur über Ausmaß und Heftigkeit der Debatte, sondern auch und vor allem über ihren Fokus. Denn der Rat der EKD hatte im Jahr 2008 eine Ad-hoc-Kommission berufen, um kirchlichen Handlungsempfehlungen für die aktuellen familienpolitischen Herausforderungen zu formulieren. Die Kommission unter Leitung der ehemaligen Familienministerin Dr. Christine Bergmann sollte sich mit der Spannung zwischen dem offensichtlichen Wunsch nach stabilen Ehen und Familien einerseits und der gesellschaftlichen Wirklichkeit mit einer hohen Scheidungsrate und einer großen Zahl Alleinlebender und Alleinerziehender andererseits auseinandersetzen.

Die Zusammensetzung der Kommission – insgesamt 14 Mitglieder: Soziologinnen und Soziologen, Theologinnen und ein Theologe, Juristinnen – Menschen aus Politik und Kirche, Wissenschaft, Diakonie und Verbänden – entsprach der anderer sozialpolitischer Ad-hoc-Kommissionen und Kammern der EKD. Dass unter den 14 Personen in diesem Fall nur drei Männer waren, gab im Nachhinein Anlass zu Fragen. Tatsächlich spiegelt sich aber in der einzigartigen Dominanz von Frauen die Realität in diesem Arbeitsfeld.

Auf dem Hintergrund ihres Auftrags hat sich die Ad-hoc-Kommission mit der soziologischen Wirklichkeit, den familienpolitischen Paradigmen, der Geschichte und Rechtslage beschäftigt, hat Herausforderungen und Brennpunkte der Familienpolitik benannt und schließlich politische wie auch praktisch-theologische Empfehlungen gegeben. Dabei ist die Orientierungshilfe“ in die Reihe der gesellschaftspolitischen Schriften der EKD einzuordnen – wie „Gerechte Teilhabe“, die „Unternehmerdenkschrift“ oder die Orientierungshilfen zum demographischen Wandel oder zur Gesundheitspolitik. Jeder dieser Texte hat auch ein theologisches Kapitel, das eine spezifische, kirchlich-theologische Perspektive in die Fachdebatte einbringt – und jeder hat auch ein Schlusskapitel, das die Empfehlungen auf die konkrete kirchlich-diakonische Arbeit bezieht.

Gleichwohl sind die Begrifflichkeiten von den Fachwissenschaften geprägt – in diesem Fall also: Autonomie und Angewiesenheit, nicht Freiheit und Bindung. Es geht nicht um differenzierte innertheologische Auseinandersetzung mit Schrift und Tradition, auch wenn auf beides Bezug genommen wird. Die Texte sind auch nicht als Grundsatz- oder Katechismustexte“ oder als Seelsorge für die Gemeinde zu lesen, sondern sie sind das Ergebnis einer interprofessionellen Debatte von Christinnen und Christen mit ganz verschiedenen Funktionen in Kirche und Öffentlichkeit und richten sich an die Verantwortlichen in einem bestimmten Arbeitsfeld von der Politik bis zur Ebene vor Ort. Nun ist es nicht das erste Mal, dass die Debatte um eine EKD-Schrift so heftig geführt wird. Auch in der Auseinandersetzung mit der „Unternehmerdenkschrift“ von 2008 gab es ähnlich grundsätzliche Kritik, wenn auch aus einem anderen politischen „Lager“ – die Schrift galt als neoliberal. Auch damals wurde beklagt, dass der theologische Teil zu „dünn“ sei. Es gab Unterschriftenaktionen und Erklärungen mit dem Ziel der Rücknahme des Textes. Wenige Monate später erschien eine Gegenschrift und bei der anschließenden EKD-Synode wurde demonstriert. Interessanterweise ist diese Diskussion aber weder in den Medien noch in der Kirchenkonferenz wirklich wahrgenommen worden; und ich habe mich lange gefragt, warum das beim Thema Familie anders ist.

Zwei Antworten darauf habe ich gefunden: Zum einen rührt das Thema „Unternehmen und Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft“ anders als das Thema „Familie“ nicht ans Selbstverständnis kirchlichen Handelns. Hier zeigt sich noch immer eine deutliche Spaltung zwischen der Welt von Wirtschaft und Arbeit mit ihrer ökonomisch-politischen Ausrichtung auf der einen Seite und der Welt von Kirche und Familie mit ihrer Orientierung an Nächstenliebe auf der anderen.

Geld oder Liebe – Politik oder Religion – Außen und Innen – Männer- und Frauenwelt: Dass diese Dichotomie noch immer nicht überwunden ist, hätte ich mir zu Beginn meiner Berufstätigkeit nicht vorstellen können. Und es ist auch deshalb problematisch, weil die sogenannten „weichen Werte“, die Fürsorge-Werte, in Politik und Management den „harten“ ökonomischen Fakten immer noch nachgeordnet werden. Wer in den letzten Wochen Spiegel, Stern oder Brigitte gelesen, wer Talkshows zum Thema „Rente“ gesehen hat, der hat wahrgenommen, dass viele Frauen zwischen 40 und 50 sich als betrogene Generation verstehen: Weder die unentgeltliche Erziehungs- und Pflegearbeit in der Familie noch die professionelle Infrastruktur sind so ausgestattet, dass sie mit dem Anspruch an die Erwerbsarbeit beider Geschlechter vereinbar wären.

Zugleich allerdings, und das ist meine zweite Antwort, erfährt „Familie“ als Lebensgemeinschaft im Wertesystem der Bürgerinnen und Bürger gerade eine enorme Aufwertung. Gerade weil die Erwerbswelt inzwischen für Frauen wie Männer zentral ist und gerade weil sie in einem starken Wandel begriffen ist und enorme Herausforderungen birgt, wird Familie zu einer Art Gegenwelt, auf die sehr viele Menschen große Erwartungen richten. Und dabei erhofft man sich die Unterstützung auch der Kirchen. Ganz im Gegensatz zu der Sehnsucht nach Familie und Gemeinschaft gehört aber die „Versingelung“ der westlichen Gesellschaften zu den Megatrends, die laut Time-Magazin unser Leben verändern. Der Soziologieprofessor Eric Klinenberg kommt zu dem Ergebnis, dass Alleinleben der beste Weg ist, die modernen Werte einer individualistischen Gesellschaft zu leben: Freiheit, Selbstverwirklichung und Selbstkontrolle – eben Autonomie. Auch viele Paare kennen im Übrigen Lebensphasen, in denen sie aus beruflichen Gründen über lange Zeit getrennt leben und die eigenen Spielräume neu ausloten. Immerhin jedes dritte Paar in den ersten Berufsjahren ist betroffen – und für viele ist das der selbstverständliche Preis für berufliche Mobilität und Karriere. Die jungen Frauen, die in Deutschland oder Polen mit der Arbeit von Ost nach West gezogen sind, die Familienväter, die montags bis freitags unterwegs sind, sie gehen den Märkten nach. Zurück bleiben die Alten und oft genug die Kinder.

Genau wie Unternehmen in schwankenden Märkten müssen Menschen ihre Finanz- und Lebensplanung anpassen, wenn sie nicht mehr mit einer festen Arbeitsstelle oder einem festen Einkommen rechnen können – so beschreibt Markus Väth[3] die Zukunft von Arbeit und Gesellschaft. Ob es um Familienplanung, Haus, Karriere oder Wohnort geht: In Zukunft werden wir sehr bewusst über die Bestandteile unseres Lebens entscheiden müssen. Die Frage ist, so Väth, wo wir als Gesellschaft die Grenze zwischen Flexibilität und Selbstaufgabe ziehen. Wofür übernimmt der Einzelne die Verantwortung, wofür der Staat und was ist die Herausforderung für die Wirtschaft? Im Hamsterrad des Wettbewerbs, in dem viele sich verschleißen und ausbrennen, zerfällt der Lebenslauf in Projekte. Angesichts der Mobilität schwindet die Möglichkeit, an einem Ort wirklich Wurzeln zu schlagen. Erfahrung wird durch Innovation entwertet, und die schiere Zahl der Lebens- und Arbeitsbeziehungen bedroht die Dauer der Bindungen.

Der Philosoph Hartmut Rosa beschreibt diese Prozesse als strukturelle Entfremdung und zeigt zugleich, wie sehr wir eben auf Erfahrungen und Beziehungen, auf Verortung angewiesen sind, um Resonanz zu erfahren.[4] Das kann aber nur gelingen, wenn Politik und Wirtschaft Rahmenbedingungen schaffen, die diese Lebensform unterstützen. Insofern ist die Frage nach der Lebensform auch in einem freiheitlichen Staat eben nicht nur eine private Frage. Und die Frage, was wir meinen, wenn wir von Familie sprechen, ist eben gesellschaftspolitisch hoch relevant.

2. Zwischen Empirie, Entwicklungspfaden und Leitbildern – zur Arbeit der Kommission

Vielleicht gehört es zu den im Nachhinein nicht unproblematischen Rahmenbedingungen, dass diese politische wie die historische Rahmung familiärer Lebensformen für die Kommission ganz selbstverständlich war. In den ersten Sitzungen, in denen es darum ging, sich über den eigenen Auftrag zu verständigen, bestand schon bald Übereinstimmung, dass wir zunächst eine empirische Bestandsaufnahme brauchten, dass sodann klar werden und auch beschrieben werden sollte, welche Entwicklungspfade die Familienpolitik in Deutschland genommen hatte, welche Trends erkennbar sind und wo auf diesem Hintergrund heute die Brennpunkte liegen. Dabei wurde deutlich: Die Veränderungsprozesse und Herausforderungen, die Familien heute kennzeichnen, haben allesamt mit Modernisierungsprozessen zu tun – mit der überragenden Bedeutung von Bildung und Erwerbsarbeit in der Arbeitsgesellschaft, mit der Entwicklung von Autonomie, Individualität und Vielfalt und schließlich mit der wachsenden Ungleichheit und der Unterschätzung von Sorgearbeit. Vier will ich kurz herausgreifen:

  • Die Zeit für Familiengründung ist knapp geworden. Lange Ausbildungszeiten und schwierige Berufseinstiege haben zur Folge, dass die Geburt von Kindern im Lebenslauf immer weiter hinausgeschoben wird. Und – auch daran sei hier erinnert – ein nicht kleiner Teil der betroffenen Frauen leidet darunter, dass ihr Kinderwunsch sich nicht, wie geplant, erfüllt, weil die Zeit knapp geworden ist, weil sie den richtigen Partner nicht gefunden haben. Reproduktionsmedizin spielt bei der Familienplanung eine immer größere Rolle. 100.000 Samenspenderkinder leben inzwischen in Deutschland.
  • Die Vielfalt des Familienlebens nimmt zu. Ein Drittel aller Kinder werden nichtehelich geboren. Das sind doppelt so viele wie noch vor zwanzig Jahren. Die Ehe ist nicht mehr Voraussetzung, sondern Folge gemeinsamer Kinder. Dabei ist der Anteil alleinerziehender Familien deutlich angestiegen. In Ostdeutschland machen verheiratete Familien nur noch knapp die Hälfte aus, während jede vierte Familie eine Ein-Eltern-Familie ist. Familien auf Ehebasis sind zunehmend Patchwork-Konstellationen. Das alles bedeutet: Familie ist nicht mehr die vielbeschworene „Gemeinschaft des Blutes“, sie ist nicht einfach Schicksalsgemeinschaft, sondern mehr und mehr auf Entscheidungen füreinander gegründet. Die Soziologie spricht von Familie als Herstellungsgemeinschaft“. Das bedeutet: Familie zu leben braucht bewusste Arbeit an einer gemeinsamen Identität und Kultur und Zeit für vielfältige Kontakte – und eine gute finanzielle Basis.
  •  Die gesellschaftliche und ökonomische Spreizung wächst. Auffällig ist die Polarisierung sozialer Lebenslagen zwischen Ein- und Zwei-Verdiener Haushalten – vor allem aber zwischen denen, die für Kinder sorgen, und denen, die keine Kinder zu versorgen haben. Familienarbeit wird finanziell nur honoriert, wenn sie auf Ehe- oder Lebenspartnerschaft basiert. Auch deshalb sind Alleinerziehende, die kaum in Vollzeit arbeiten können, überdurchschnittlich häufig von Einkommensarmut betroffen.
  • Die Zuordnung von Familienerziehung und öffentlicher Erziehung hat sich in Gesamtdeutschland verändert. Der Streit um Betreuungsgeld und Krippenplätze dreht sich nicht zuletzt um die Frage, was nötig ist, um die Chancen dieser Kinder zu verbessern. Aus der Geschichte der DDR bringt Deutschland nicht nur die selbstverständliche Erfahrung von Krippenerziehung und Ganztagsschulen mit, sondern dazu gehört auch ein anderes Miteinander von Schule und Elternhaus und natürlich die Sorge vor staatlichen Eingriffen und Ideologisierung im Dienst von Staat und Wirtschaft.

3. Zur Rolle der Kirche im politischen Wertesystem

Die wechselseitige Einflussnahme von Politik, gesellschaftlichen Entwicklungen und Kirche als Institution ist gerade auf dem Feld von Ehe und Familie in Deutschland besonders groß. Mit ihren biblisch begründeten Leitbildern haben die Kirchen immer Einfluss genommen auf die Entwicklung von Eherecht und Familienleben. „Kinder, Küche, Kirche“ waren nie unpolitisch – im Gegenteil: in diesem Feld hat sich die Kirche deutlich positioniert – ob es um Elternrechte und Kindererziehung ging oder auch um die Verhinderung der Erwerbstätigkeit von Frauen. Das familienpolitische Modell in Deutschland ist im Miteinander der beiden großen Kirchen ganz wesentlich von der christlichen Soziallehre geprägt. Und dieses Leitbild wirkt bis heute nach – von den Sozialsystemen bis zur Halbtagsschule. Die Mitglieder der Kommission waren sich schnell darüber einig, dass die Kirche, die bis heute für die Entwicklung und Gestaltung von Erziehung und Pflege in Deutschland wesentlich Verantwortung trägt, nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht hat, sich auch politisch über die Zukunft von Familien zu äußern. Dabei ist es unverzichtbar, den Blick über Deutschland hinaus auf Europa hin zu weiten. Denn es ist letztlich die europäische Rechtsprechung, die das Verhältnis von individueller Gleichstellung – zum Beispiel ehelicher und nichtehelicher Kinder oder homo- und heterosexueller Menschen – und dem Schutz der familiären Gemeinschaft auch in Deutschland verändert hat. In der Debatte um unseren Text spüre ich eine große Skepsis gegenüber familienpolitischen Leitbildern, die ganz sicher damit zusammenhängt, dass wir in Deutschland schlechte Erfahrungen mit den Eingriffen totalitärer Systeme ins Private gemacht haben. Und die Vielfalt heutigen Familienlebens ist ja auch ein starkes Argument für die ganz persönliche Gestaltungsfreiheit dieses Lebensraums. Aber auch Wahlfreiheit braucht eine politische Rahmensetzung und Infrastruktur, die sie ermöglicht.

„Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“ – der Titel der EKD-Schrift ist also Programm. Es geht darum, Rahmenbedingungen zu schaffen, die es Menschen ermöglichen, die Gemeinschaft zu leben, die sie leben wollen. Denn wir haben es längst mit neuen Leitbildern bei alten familienpolitischen Realitäten zu tun. Dann brauchen Familien aber auch endlich Unterstützung bei Erziehung und Bildung, bei der Pflege und in Krisensituationen.

4. Zur Bedeutung von Angewiesenheit und Sorgearbeit – die übersehene Botschaft der Orientierungshilfe

Sorgearbeit ist Arbeit, die schon immer im Schatten stand, und zunehmend abgewertet wurde. Zunächst auf dem Hintergrund einer traditionellen Familienverfassung mit geschlechtshierarchischer Arbeitsteilung, dann durch die Dynamik einer berufsorientierten Emanzipationsbewegung, die die traditionelle Geschlechterhierarchie thematisierte und auflöste. Am Ende dieser Entwicklung steht eine ökonomisierte Erwerbs- und Konsumgesellschaft, in der nichts gilt, was nichts kostet. Haus- und Familienarbeit, Erziehung und Pflege brauchen deshalb eine neue gesellschaftliche Wertschätzung – und zwar jenseits der geschlechterspezifischen Arbeits- und Rollenteilung. Die Orientierungshilfe deutet die Situation von Familien auf dem Hintergrund moderner Vorstellungen von Autonomie, Gleichheit und Gerechtigkeit. Individualität und Vielfalt moderner Gesellschaften werden deshalb akzeptiert und nicht verworfen. Das ist aber nur die eine Seite des Spannungsfeldes, sozusagen der erste Teil, der für die Mitglieder der Kommission selbstverständlich war – in der Tat, vielleicht auch deshalb, weil die Frauen in der Mehrheit waren.

Dabei wird übersehen, dass die Orientierungshilfe sich in ihrem zweiten Teil durchaus kritisch zu den Schattenseiten der Moderne positioniert. Sie macht nämlich zugleich deutlich, dass die wechselseitige Angewiesenheit aller in den Modernisierungsprozessen unterschätzt wurde.

Und hier kamen durchaus auch biblische Überlegungen mit ins Spiel: Dass Angewiesenheit für unser Menschsein konstitutiv ist, versucht das theologische Kapitel am Beispiel der Schöpfungserzählung wie des Segenshandelns Gottes in den Mittelpunkt zu rücken. Leitlinie einer evangelisch ausgerichteten Förderung von Familien, Ehen und Lebenspartnerschaften muss die konsequente Stärkung aller fürsorglichen Beziehungen sein, heißt es am Ende konsequent im Text. Wo Menschen auf Dauer und im Zusammenhang der Generationen Verantwortung füreinander übernehmen, sollten sie Unterstützung in Kirchengemeinden und diakonischen Einrichtungen finden – mit praktischen Hilfen, mit gottesdienstlichen, pädagogischen und diakonischen Angeboten. Die Form, in der Familie und Partnerschaft gelebt werden, darf dabei nicht entscheidend sein. Die Mitglieder der Kommission waren und sind überzeugt, dass beides zusammengehört: der Respekt vor der Freiheit wie die Stärkung fürsorglicher und gerechter Beziehungen. Der Rat der EKD hat die Gedanken zu Fürsorge und Angewiesenheit, die der Text sehr starkmacht, immer begrüsst und hervorgehoben. Genauso unstrittig war, dass die Kriterien, die eine gelungene Ehe ausmachen, auch auf andere Lebensformen Anwendung finden sollten. Strittig scheint mir bis heute, wie wichtig dabei die Vorstellung eines Leitbildes der Ehe als des traditionellen Modells für uns als Kirche ist. Für die Ad-hoc-Kommission war dabei die Akzeptanz unterschiedlicher Formen bei gleichen Kriterien und die Freiheit des Menschen, die Gestaltung seines Lebens zu wählen, unverzichtbarer Bestandteil der Arbeit. Sie hat deshalb im Sommer 2011 dem Rat vorgeschlagen, dem Text die Überschrift „Ehe, Familien und Lebenspartnerschaften stärken“ zu geben. An dieser Stelle ist der Rat nicht mitgegangen und hat sich auf dem Hintergrund des familienpolitischen Auftrags entschieden, nur den Begriff Familie zu nutzen.

5. Und die Theologie?

Was ist Familie? Über Jahrhunderte zuerst eine Hausgemeinschaft, für die nicht einmal der Begriff „Familie“ eine Rolle gespielt hat. Und was ist Ehe? Über lange Zeit eine Rechtsbeziehung, zu der auch mehr als eine Frau gehören konnte. Die Zeit, in der Familien Eigentumsverhältnisse waren, ist noch nicht lange vorbei – und auch die Zeit der Geschlechterhierarchie nicht. Bis zu Beginn der 1970er Jahre entschieden Männer als Haushaltsvorstand über die Erwerbstätigkeit ihrer Frauen. Erst in dieser Zeit gewannen Pastorinnen in der evangelischen Kirche die gleichen Rechte wie ihre Kollegen. Auch ich bin deshalb überzeugt, dass die unterschiedlichen Familienformen von heute – die sogenannte klassische Familie, Patchworkfamilien, Alleinerziehende, Regenbogenfamilien – weit mehr gemeinsam haben als die traditionelle Familie mit den unterschiedlichen Formen in biblischen Zeiten, ja noch der Reformationsund Neuzeit. Was wir unter Familie verstehen, ist in einem dauernden Wandel begriffen – und der Kommission lag viel daran, deutlich zu machen, dass es viel zu kurz gegriffen wäre, diesen Wandel als Verfallsgeschichte zu verstehen.

Angesichts der Vielfalt biblischer Bilder und der historischen Bedingtheit des familiären Zusammenlebens entsprächen ein normatives Verständnis der Ehe als „Göttliche Stiftung“ und eine Herleitung der traditionellen Geschlechterrollen aus einer vermeintlichen „Schöpfungsordnung“ weder der Breite des biblischen Zeugnisses noch unserer Theologie, hat der Ratsvorsitzende deshalb bei der Pressekonferenz zur Orientierungshilfe formuliert. Die Schrift setze vielmehr das geschichtliche Gewordensein und den Wandel familiärer Leitbilder voraus.

Dabei könne sie sich auch auf Martin Luther beziehen, der bei aller Hochschätzung als „göttlich Werk und Gebot“ die Ehe zum „weltlich Ding“ erklärt, das von den Partnern gestaltbar ist und gestaltet werden müsse – als generationenübergreifender Lebensraum mit Verlässlichkeit in Vielfalt, Verbindlichkeit in Verantwortung, Vertrauen und Vergebungsbereitschaft, Fürsorge und Beziehungsgerechtigkeit.

Aus einem evangelischen Eheverständnis kann also deshalb eine neue Freiheit auch im Umgang mit gesellschaftlichen Veränderungen erwachsen – gleichwohl empfiehlt der Text einen verbindlichen institutionellen Rechtsrahmen, an dem zum Beispiel auch finanzielle Entlastungen andocken können, und nimmt dabei ausdrücklich auf die Ehe Bezug. Dennoch blieben die theologischen Überlegungen des Ratsvorsitzenden von Anfang an nicht ohne Widerspruch: „Schöpfungsordnung“, „Scheidungsverbot“ und Ablehnung von „Homosexualität“ in der Bibel bilden die „Ecksteine“ für die biblisch-theologische Kritik. In all diesen Fällen enthält die Orientierungshilfe implizit oder explizit eine andere „Einordnung“. Polarität wird eben nicht nur als Geschlechterpolarität verstanden, das Scheidungsverbot wird vor allem als Schutz der Schwächeren interpretiert, die biblische Ablehnung der Homosexualität wird darin begründet, dass ein unserem heutigen Verständnis vergleichbares Konzept homosexueller Liebe auf Augenhöhe nicht existierte. Gleichwohl wird nicht erst heute das eigene, zeitbedingte Selbstverständnis in diese Texte „hineingelesen“, während irritierende Wahrnehmungen in biblischen Texten (gesegnete Vielehen, Rechtlosigkeit von Frauen und Kindern etc.) ausgeblendet werden. Der Versuch, die biblischen Texte einer solchen Überformung oder zeitlosen Abstraktion zu entkleiden, um ihre befreiende Kraft wahrzunehmen, wird offenbar von vielen als „desorientierend“ erlebt. Wer aber die Kirche vor allem als Normen- und Werteagentur versteht, nimmt die Breite gemeindlichen und diakonischen Handelns sowie die vielfältige Praxis in sozialen Projekten und Einrichtungen nicht wirklich zur Kenntnis.

Kirche lebt vom Miteinander in den Familien – gerade die jüngste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung hat gezeigt, wie wichtig Familie als religiöse Sozialisationsagentur, als Keimzelle gesellschaftlichen und nachbarschaftlichen Zusammenhalts, als Ort ethischen Lernens ist. Oft genug bilden Familien die Mitte und das Rückgrat der Gemeinden. Aber mehr als die Kirche Familien braucht, brauchen Familien die Kirche. Acht Aspekte will ich dafür benennen:

Familien brauchen:

  1. Eine Kirche, die offen ist für Rollenveränderungen – zwischen den Geschlechtern wie bei den Altersbildern. Und dabei geht es ans Eingemachte. Ehrenamt, Fürsorge und religiöse Sozialisation – das alles ist tangiert von den neuen Rollenbildern: Frauen- und Männergruppen, Ehrenamt und Altenarbeit in der Kirche müssen sich so ändern, dass die Kompetenzen und Lebensschwerpunkte von Menschen, aber auch ihre Sehnsucht nach Gemeinschaft und Zuwendung und ihr Einsatz fürs Gemeinwesen ernst genommen werden.
  2. Eine Kirche, die Hochzeiten feiert und Krisen ernst nimmt: Kirche ist nach  wie vor der Ort, wo Taufen und Konfirmationen, wo Weihnachten gefeiert wird, wo Beerdigungen begangen werden. Mit solchen Festzeiten verknüpfen sich heute ganz neue Herausforderungen, Brüche ernst zu nehmen und Zusammenhalt zu gestalten. Kirche als Gemeinde kann diesen Herausforderungen nur gerecht werden, wenn sie mit Kirche als Diakonie zusammenarbeitet, Beratung ernst nimmt und Angebote an den Knoten- und Krisenpunkten des Lebens verknüpft.
  3. Gemeinden, die mit der Trägerschaft von Tageseinrichtungen und Familienzentren punkten: Dabei geht es nicht nur um den quantitativen, sondern auch um den qualitativen Ausbau der Tageseinrichtungen für Kinder. Denn angesichts der Schwierigkeiten der in vielen Fällen finanzschwachen Kommunen, allein das quantitative Ausbauziel zu erreichen, droht die Verbesserung der Qualität der angebotenen Bildungs- und Betreuungsplätze zu kurz zu kommen. Nicht zuletzt geht es darum, in Familienbildungsstätten und Familienzentren die Elternarbeit zu stärken und auch auf religiöse Bildung und Wertekompetenz zu achten.
  4. Eine Kirche, die bewusst Zeitpolitik betreibt: Dabei geht es einerseits um die Trägerschaft von Einrichtungen und deren Vereinbarkeit mit der Erwerbswelt – nicht nur im Blick auf Produktion und Dienstleistung, sondern auch im Blick auf die eigene diakonische Arbeit. Die Kirche muss hier wie bei der Gestaltung von Festen Akzente setzen, die auf die geringe Zeit von Familien Rücksicht nehmen, und sie gestalten.
  5. Eine „familiaritas“ aller Generationen: Wenn es um die Weitergabe von Glauben und Werten, Traditionen und Erfahrungen geht, brauchen Familie und Gesellschaft alle Generationen. Ohne die private Solidarität der älteren Generation geriete die jüngere in Schwierigkeiten – und der private „Austausch“ von Leistungen entspricht dem sozialstaatlichen in den Sicherungssystemen durchaus. Die multilokale Mehrgenerationenfamilie funktioniert, aber sie stößt in einer mobilen Welt an Grenzen in Zeit und Raum. Hier kann Gemeinde mit dem Aufbau von Netzwerken viel zur Entlastung beitragen.
  6. Eine gemeinwesenorientierte Kirche: Pflege und auch die Hilfe bei familiären Krisen und Problemen wird der Diakonie zugeordnet – das gilt für soziale und ökonomische Notlagen genauso wie für die Arbeit mit Alleinerziehenden oder Adoptivfamilien. Jede Familie ist anders. Es geht darum, rund um Hochzeiten und Trennungen, Taufen und Konfirmationen, Umzüge, Krankheitserfahrungen oder diakonische Krisenintervention genau und sensibel hinzusehen und Familien mit den passenden Angeboten anzusprechen. Das kann nur gelingen, wenn Kirchengemeinden und diakonische Einrichtungen sich noch stärker miteinander und mit der Zivilgesellschaft vernetzen.
  7. Eine moderne Arbeitgeberin: Auch als Arbeitgeberin ist Kirche gefragt, wenn es darum geht, Familie zu unterstützen: Das betrifft die Tarifgestaltung in den Erziehungs- und Pflegeberufen genauso wie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, es betrifft aber auch die Erwartung an Pfarrerinnen und Pfarrer. Pfarrhäuser bilden den Wandel ab. Die wachsende Vielfalt von Familienformen hat in den letzten Jahrzehnten immer wieder zu Konflikten geführt – von der Berufstätigkeit der Pfarrfrauen bis zum Zusammenleben gleichgeschlechtlicher Partner und der bireligiösen Ehe einer Vikarin. Teilzeitbeschäftigungen und Pendelbeziehungen gibt es inzwischen auch im Pfarrhaus, auch hier wird um eine gute Vereinbarkeit von Beruf und Familie gerungen, genauso wie um einen angemessenen Umgang mit Scheidungen und die Frage, wie Familie als Wahlverwandtschaft gelebt werden kann. Diese Erfahrung kann auch ein Schatz sein, den die Kirche in die Gesellschaft einzubringen hat.
  8. Familienkompetente und politisch wache Gemeinden: Aus all dem resultieren neue Anforderungen für alle, die Verantwortung in der Gemeinde übernehmen, die planen und gestalten. Sie sollten die Gegebenheiten und Veränderungen nicht nur sensibel wahrnehmen, sondern sie bei der Entwicklung von Angeboten gezielt berücksichtigen. Sie brauchen ein Bewusstsein für die engen Zeitspielräume von Familien, wenn es um Gottesdienstzeiten oder um Öffnungszeiten von Einrichtungen geht. Sie sollten sich einbringen in kommunale Netzwerke und Prozesse und mit anderen Trägern und Initiativen in der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten. Sie sollten sich politisch einmischen, wenn es um Quartiersentwicklung und Verkehrssysteme, um Schwimmbäder und die Qualität von Einrichtungen geht. Kirchen haben die Möglichkeit der Mitarbeit vom Jugendhilfeausschuss bis zum Sozialausschuss, von der Stadtplanung bis zu den neuen Netzwerken der Bürgerbeteiligung. Sie müssen sie nutzen.

6. Es gibt noch viel zu denken und zu tun – zu den Konsequenzen

Ich erlebe, dass in der Debatte Themen aufbrechen, die für die Kommission selbst keine Rolle gespielt haben oder nicht zum Auftrag gehörten: Dass nicht nur die pastoralpsychologische, sondern auch die medizinische Seite im Text unterbelichtet ist – eben die Fragen von Sexualität, Generativität und Reproduktionsmedizin, hängt ebenfalls mit Auftrag und Zusammensetzung zusammen, bleibt aber ein Defizit. Dass die Frage der Institution in einer Zeit zunehmender Individualisierung und Vertraglichkeit theologisch noch einmal reflektiert werden muss, war während der Debatten in der Kommission schon spürbar. Und dass schließlich die hermeneutischen Fragen und die Auseinandersetzungen mit den entscheidenden Texten von der Genesis bis zum Scheidungsverbot noch einmal auf die Tagesordnung kommen müssen, ist gut und richtig. Die familienpolitischen oder auch die kirchlich-diakonischen Handlungsfelder im Text werden so gut wie nicht diskutiert. Deshalb bleibt es so wichtig, darüber nachzudenken, wie Kirche für gelingendes Familienleben eintreten kann – in der Verbindung von Gemeinde und Diakonie, in nachbarschaftlichen Netzwerken, aber auch als Arbeitgeberin.

Weitere Informationen finden Sie unter:  www.pthi.de

 

[1] Beim folgenden Beitrag handelt es sich um die für die Veröffentlichung überarbeitete und gekürzte Version eines Referates, das die Autorin auf der Fachtagung des Amtes für Gemeindedienst in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern „Familien als verlässliche Gemeinschaft stärken – Herausforderungen für Kirche und Diakonie“ am 19. Mai 2014 in Nürnberg gehalten hat. Die Autorin, ihrerseits Oberkirchenrätin in der EKD, war Geschäftsführerin der im Text angesprochenen Ad-hoc-Kommission.
[2] Kirchenamt der EKD (Hg.), Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken. Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2013.
[3] Markus Väth, Cooldown. Die Zukunft der Arbeit und wie wir sie meistern, Offenbach 2013.
[4] Hartmut Rosa, Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit. Aus dem Englischen von Robin Celikates, Berlin 2013.