„Uns allen blüht das Leben!“

Wie Menschen im Schatten des Todes die Schöpferkraft Gottes erfahren.

 

 

1. Die Rosen blühen wieder: über die Grenzen des Lebens

Um diese Zeit blühen in unserem Garten die Rosen – so wie über Jahrzehnte vor dem Mutterhaus in der Kaiserswerther Diakonie. Dieses Rosenbeet war ein Zeichen des Lebens gegen Todesangst und Todesmacht. Als nämlich die Schwesternschaft im Jahr 1841 gegen eine Typhusepidemie kämpfte, erkrankte auch Auch Theodor Fliedner und drei seiner Kinder. Im November 1841 starben kurz die 9-jährige Simonette und die vierjährige Johanna kurz nacheinander. Als Simonette starb, war ihre Mutter Friederike auf einer Dienstreise – sie besuchte eine der Schwesternstationen in Saarbrücken. So fand sie bei ihrer Rückkehr die tote Tochter im Gartenhaus aufgebahrt. Die kleine Mina, damals sechs Jahre alt, erinnert sich an den Weg, den sie an der Hand ihrer Mutter durch den nebligen November-Garten ging. „Wo man zum Gartenhaus heraufgeht, waren Rosen gepflanzt, die im Spätherbst grau und kahl dastanden. „So wird es sein bei der Auferstehung“, sagte sie: „ Wer denkt denn jetzt, dass an diesen Sträuchern so herrlich schöne Blumen wachsen können. So lass uns getrost das Kind zum Gottesacker bringen.

Solange ich denken kann, stand auf dem Bücherregal meiner Mutter das sonnige Bild eines kleinen Jungen mit blondem Lockenkopf. Eine schwarze Schleife und ein gelbes Myrtenkränzchen erinnerten an eine tiefe Trauer und eine große Liebe. Wilhelm Langenohl, ein kleiner Bruder meiner Mutter, starb 1934 mit 6 Jahren am Keuchhusten. Sein Bild und das Blütenkränzchen, das meine Großmutter gesteckt hatte, haben die Familie begleitet, solange meine Mutter lebte. Bis in die nächste Generation blieben Schmerz und Ohnmacht spürbar- als Schatten der Zerbrechlichkeit über unserem Kinderleben. Unvorstellbar, wie die Fliedners und all die anderem Familien dieser Zeit es verkraftet haben, ihre Kinder zu verlieren- oft schon im Kindbett, vor dem dritten Lebensjahr, immer wieder an Epidemien. Was wir Penicillin und Antibiotika, vor allem einer immer besseren Hygiene zu verdanken haben, machen wir uns viel zu selten bewusst. Die ersten Diakonissen, die nicht viel mehr tun konnten, als für Sauberkeit und gute Pflege zu sorgen, standen in dieser Entwicklung ganz vorn – oft genug um den Preis der eigenen Gesundheit.

Die Kinder- und Müttersterblichkeit ist seitdem radikal gesunken, die Gefahr von Epidemien zurück gedrängt, die Lebenserwartung in den entwickelten Ländern unvorstellbar gestiegen – der Tod ist aus unserem Alltag verschwunden, wir sehen ihn oft nur in den Medien in Kriegsberichten oder in Krimis. An seine Stelle ist die Angst vor dem Sterben getreten, die Angst vor Schmerzen und Leiden, vor Verletzlichkeit und Dahinsiechen. Nicht der böse, schnelle Tod, sondern die langsam in unser Leben einsickernde Krankheit, das Vergessen im Alter machen uns zu schaffen. Was wir nicht in der Hand haben, was wir nicht kontrollieren können, das macht uns Angst. Uns fehlt Friederikes Zuversicht, dass uns das Leben blüht- auch da, wo wir nur den Tod vor Augen haben. Wir richten den Blick lieber zurück als nach vorn, wollen das Leben festhalten, wie es ist- getreu dem Motto „Carpe diem“, auf Deutsch „Pflücke die Rose, eh sie verblüht“. In Krankheit, im Alter neue Lebensperspektiven zu entdecken, neues Vertrauen, neue Liebe und Gelassenheit, das müssen wir wohl noch lernen.

Uns allen blüht das Leben“. Den Titel für diesen Vortrag habe ich von Piet Janssen und Friedrich Karl Barth übernommen. Vielleicht erinnern sich einige hier an die Lieder von Kirchentag 1979: „ Fürchte Dich nicht, Du gehst nicht verloren. Bleib bei den Traurigen, teile ihr Unglück. So groß die Liebe, so groß der Schmerz.“ „ Uns allen blüht der Tod- ein Fest für die Lebenden“, steht auf der Platte, die ich in diesen Tagen noch einmal gehört habe. Die Lieder erzählen vom Sterben, von jungen und alten Menschen, von Krankheiten, Unfällen und Kriegen- sie erzählen von der Macht des Todes mitten in unserem Leben, in Abschieden und Ängsten, in unsinnigen Kämpfen und zerbrochenen Lieben. Es scheint , als könnten wir dem Tod nicht entkommen- vielleicht gerade dann nicht, wenn wir ihn mit aller Macht aus unserem Leben verbannen wollen.

Die Diskussion um aktive Sterbehilfe und assistierten Suizid in Europa zeigt: Wir kennen nur noch ein Leben, das Leben in dieser Zeit. Leben mit der Uhr, leben, das sich messen, bewerten, gestalten lässt. Dass Krankheit und Trauer produktiv sein können, dass Schlaf und Träume, Vergessen und Ohnmacht neue Erkenntnisse bringen können, kommt uns nicht in den Sinn. Wie wir Medikamente für Krankheiten entwickeln, so versuchen wir, auch die Trauer schnell unter die Füße zu bekommen und den Schlaf auf das Unausweichliche zu beschränken. Woher wir eigentlich das Recht nähmen, dem Sterbenden die letzte Zeit zu nehmen, die er schlafend und träumend braucht, um sein Leben zu Ende zu bringen, fragte kürzlich ein Psychoanalytiker ín einer Sendung über Sterbehilfe. Unsere Vorstellung von einem guten Leben ist eng geworden.

Alain de Botton, ein Sohn nichtgläubiger Juden, erzählt in seinem Buch „ Religion für Atheisten“, wie sein Atheismus in eine Krise geriet:“ Meine Zweifel hatten ihren Ursprung im Hören von Bachs Kantaten und wuchsen bei der Betrachtung gewisser Madonnen von Bellini.“ In Bachs Musik und Bellinis Kunst begegneten ihm das Wissen um Verletzlichkeit und Verwundbarkeit, aber auch Barmherzigkeit und Trost im Gebet. Die Weisheit der Religionen, meint de Botton, gerate allmählich die allmählich in Vergessenheit.

„ Wenn es so weit sein wird mit mir, brauche ich den Engel in Dir. Bleibe still neben mir in dem Raum, jag den Spuk, der mich schreckt, aus dem Raum. Zünd ein Licht an, das Ängste verscheucht, mach die trockenen Lippen mir feucht. Wenn es so weit sein wird mit mir, brauche ich den Engel in Dir“, heißt es auf meiner alten Platte. Auch dieses Lied erzählt vom Sterben, aber es erzählt auch vom Leben: von Fürsorge und Gemeinschaft und von der Gegenwart der Engel. Fast 35 Jahre ist die Platte alt- aber die Engel sind gegenwärtiger als je. Wo die Medizin nicht mehr heilen kann, da gewinnen Pflege und Zuwendung wieder an Bedeutung. Das wissen wir aus der Hospizarbeit. Wer sich dort engagiert, der erlebt eine andere Zeit. Der erfährt, dass uns die nötigen Kräfte geschenkt werden, wenn es darauf ankommt. Der kann- wie damals Friederike – zuversichtlich in die Zukunft sehen und auf das Leben setzen. Die Rosen werden blühen, auch wenn wir nichts davon sehen.

 

2. Diakonie in der Gesundheitswirtschaft – ein Kreuzweg

Ihr kommt mir in den Sinn, Ihr Diakonissen, ihr Nonnen, Sozialarbeiter, Ihr tröstenden Hände für viele Schmerzen.- Ihr letzten Menschen, die ihr einfach und ehrlich Jesus nachzuleben versucht – fremd und verloren ( in unserer cleveren Welt)“, heißt es auf meiner alten Platte. In den 35 Jahren, seit dieses Lied geschrieben wurde, ist die Zahl der Diakonissen und Nonnen in den Krankenhäusern hierzulande rapide geschrumpft- im gleichen Maße wie der Wachstumswahn wuchs – nicht nur in der Finanzwirtschaft, auch in der Gesundheitsbranche. Aber noch immer vertrauen Menschen darauf, dass es in christlichen Krankenhäusern und Altenheimen anders zugeht als anderswo: Hier erhofft man sich Teams, die sensibel geblieben sind für das Leiden, und eine spirituelle Präsenz, die das Leben in seinen Widersprüchen aushält. Kein Wunder, dass Patienten und Angehörige enttäuscht sind, wenn sie erleben, was die Medien inzwischen die „ Helferindustrie“ nennen. Unternehmen, die auf Wachstum und wirtschaftlichen Erfolg ausgerichtet sind, weil sie im Wettbewerb stehen. Ärzte, die auf Fallpauschalen und Zielvorgaben achten müssen. Pflegende, die kaum Zeit haben, ein Bett zu richten, weil der knappe Stellenplan einfach zu eng kalkuliert ist. Es ist ein Kreuz. Denn nicht nur Patienten und Angehörige sind enttäuscht- auch Ärzte und Pflegekräfte leiden.

Vor einigen Jahren bin ich einen Kreuzweg gegangen. Dabei ist mir bewusst geworden, was es bedeutet, dass der Ursprung aller Diakonie in dieser Bewegung liegt- und was geschieht, wenn wir das vergessen. Immer hat es angefangen mit Menschen, die den Kreuzweg mitgehen wollten, die überzeugt waren, dass sie in den Heruntergekommenen, den Verzweifelten und Sterbenden Jesus selbst begegnen konnten. Dass Gott selbst am Wegrand unter die Räuber gefallen ist- wie beim Barmherzigen Samariter. Dass in dem Bett, das sie dem Kranken bereiten, der Gekreuzigte liegt – wie bei der Heiligen Elisabeth.

Meinen Kreuzweg habe ich in Südtirol entdeckt. Am Ende der Einkaufsstraße in der kleinen Stadt Klausen führt ein alter, steiniger Weg den Berg hinauf. Zunächst noch angenehm flach, unter schattigen Bäumen, dann Kehre um Kehre immer steiler nach oben. Schon bald sieht man hinunter über die Weinberge ins weite Land. An dieser Stelle spürte ich zum ersten Mal meinen Atem- und genau da entdeckten wir die Station eines alten Kreuzwegs. Es war schon die dritte, die ersten beiden hatten wir gar nicht wahrgenommen. Von da an gaben uns die Kreuzwegstationen den Rhythmus vor – Laufen und Schauen, Schwitzen und zur Ruhe kommen. Immer wieder einmal Station machen und darüber nachdenken, wie unser Weg mit dem Weg Jesu verbunden ist. Was geht uns dieser Mensch an––- mit seinen Kämpfen und Qualen, mit den Lasten, die er trägt, den Schmerzen und Zusammenbrüchen?

Auch der Atheist Alain de Botton, den ich eben zitiert habe, beschäftigt sich mit dem Kreuzweg. Er schreibt: „Die Faszination der christlichen Geschichte beruht entscheidend darauf, dass Jesus unter den größten Qualen starb, die man sich vorstellen kann. Dadurch ist er für alle Menschen, egal wie gezeichnet sie sind von Krankheit und Kummer, der Beweis, dass sie mit ihrem Elend nicht allein sind. Dieser Eindruck kann leicht entstehen, wenn man bedenkt, wie vehement die Gesellschaft unsere Probleme vom Tisch fegt und uns mit kitschigen Werbeversprechen überschwemmt, die insofern gefährlich sind, als sie fernab unserer Lebensrealität liegen… Wir alle schleppen Verletzungen mit uns herum, die aus unserer Kindheit herrühren, und haben Probleme, die mit… Arbeit und Liebe, Älterwerden und Tod zusammen hängen. Das Christentum weist darauf hin, dass wir gefühllose Monster wären, wenn unser Körper gegen Schmerzen und Verfall immun wäre.“[1] Genau darum geht es auf dem Kreuzweg: dass wir uns nicht abhärten, sondern durchlässig bleiben für den Schmerz des Lebens, dass wir menschlich bleiben. Denn wenn unsere Frömmigkeit auf dem Spiel steht, steht auch unsere Menschlichkeit auf dem Spiel.

Wir waren schon ein Stück auf dem Kreuzweg gegangen, als uns einer entgegen gerannt kam, der weder rechts noch links sah; vermutlich absolvierter er gerade ein Marathontraining. Es gibt eine Geschwindigkeit, die nur noch auf die eigenen Ziele ausgerichtet ist. Da haben andere keinen Platz. Das ist keine Zeit zum Innehalten. Ich kenne das. Wenn ich deadlines hinterher renne, kurzfristig neue Aufträge bekomme, immer schneller to-do-Listen abhake und dann außer Atem komme und schließlich aus dem Tritt. .Anrufe, Mails, Briefe, Meetings – so schön es ist, gut vernetzt zu sein, so schmerzhaft, wenn die Zeit gar reicht nicht, um wirklich in Beziehung zu kommen. Im Alltag von Krankenhäusern und Pflegestationen ist es nicht anders. Mit Zielen und Zeitmanagement versuchen wir, uns vor dem Ausbrennen zu bewahren. Mit Professionalität, Distanz zu schaffen zu den ungeheuren Erwartungen leidender Menschen. Aber dann passiert es doch, dass der Frust wächst, dass die Motivation erkaltet. Die Leidenschaft auf der Strecke bleibt. Sie merke es an ihrer Wut und ihrer Traurigkeit, wenn es auf Station nicht mehr menschlich zugehe, sagte mir kürzlich eine Krankenschwester. Wohl dem, der die Traurigkeit noch spürt.

 

Als der Marathonläufer vorüber war, fiel mir die nächste Kreuzwegstation ins Auge: es war die mit dem Schweißtuch der Veronika. Da steht eine Frau am Weg und reicht dem Todgeweihten ein Tuch, um Blut und Schweiß abzuwischen. Bis heute, sagt man, soll sich auf diesem Tuch das Gesicht Christi zeigen. In dem katholischen Dorf meiner Kindheit gab es Kreuzwegprozessionen mit Gesängen, Gebeten und Andachten vor den einzelnen Stationen – das blieb mir immer fremd. Ich sah keine lebendigen Bilder, nur Reliefs aus Stein. Aber hier, an diesem Steinbild der heiligen Veronika, habe ich an die vielen haupt- und ehrenamtlich Mitarbeitenden in den Hospizen gedacht. „Wenn es so weit sein wird mit mir, brauche ich den Engel in Dir. Wisch mir Tränen und Schweiß vom Gesicht, der Geruch des Verfalls stört Dich nicht. Wenn es so weit sein wird mit mir, brauche ich den Engel in Dir.“

 

Wer unter Belastungen zusammenbricht, braucht jemanden, der mit trägt. Wer Blut und Wasser schwitzt, braucht eine, die ihm den Schweiß abwischt. Die Erfahrungen, die auf dem Kreuzweg gezeigt werden, sind Spiegel unser eigenen Erfahrungen. Und wer sich für andere einsetzt, stört manchmal den ganzen Betrieb, der gnadenlos weitergeht. Es ist zum Aussteigen und Weglaufen – aber auch das gehört dazu. Viele der Jünger Jesu sind abgetaucht, als der Kreuzweg begann, weil sie sich selbst schützen wollten. So wie Petrus, der auf Abstand blieb, als Jesus verhört und gefoltert wurde. Die Bibel erzählt von den bitteren Tränen, die er später darüber weint. Auch der Verrat an den eigenen Überzeugungen, an der eigenen Berufung, lässt uns leer und ausgebrannt zurück. Wie schöpfen wir Kraft, wenn das geschieht? Ich denke an die Jünger, die nach der größten Enttäuschung ihres Lebens resigniert zurück gehen in ihr Heimatdorf, weil sie das Gefühl haben, es sei alles umsonst gewesen. Bis ihnen einer begegnet, der deuten kann, was geschehen ist. Der sich Zeit für sie nimmt. Und plötzlich, beim gemeinsamen Essen, spüren sie: da ist noch Feuer unter der Asche. Da ist Leben in allen Leiden.

 

Kreuzwege mit ihren Bildern von Folter und Leid, von Liebe und Lebenswillen sind Spiegel unserer Seelen- wir können uns entdecken in den verschiedenen Personen, den unterschiedlichen Szenen. So wie sich viele Frauen finden in den Bildern von Frida Kahlo. Frida, die bei einem Straßenbahnunglück eine Rückgratverletzung erlitt, hat sich selbst immer wieder wie ein Gefolterte gemalt – mit Blut und Tränen, mit Nägeln und im Streckbett. Aber auch im geblümten Kleid, mit offenen Haaren und einem Papagei auf der Schulter. Voller Leiden – voller Leben und Hoffnung.

 

Am Ende des Kreuzwegs in Südtirol steht eine kleine Kapelle, oben auf dem Berg! Dort hat man einen herrlichen Rundblick über das Tal, der den steinigen Weg vergessen lässt. Mitten in der Kapelle ist ein steinernes Taufbecken, in das man hinabsteigen und untertauchen kann. Trotz allem Ja zum Leben sagen – trotz Krisen und Enttäuschungen- das ist das Ziel unserer Sehnsucht. Aber die Kreuzwege in unserem Alltag haben kein Geländer. Niemand sagt uns, wo unsere Menschlichkeit gefragt ist und wo wir Gott begegnen können. Die Stationen, an denen wir innehalten sollten, sind nicht markiert. Es liegt alles daran, dass wir die Augen offen halten, dass wir die Bilder hinter den Bildern sehen, die Tiefendimension unseres Alltags wahrnehmen. Was hilft mir, was hilft Ihnen weiterzugehen, wenn der Weg aussichtslos scheint? Wo finden wir Rat an Wegkreuzungen? Welche Lieder, welche Texte und Bilder helfen Ihnen, die Quellen Ihrer eigenen Berufung wieder zu entdecken?

 

 

 

3. Keine Angst vor Schwäche: über Inklusion

 

Der gekreuzigte und mitleidende Gott ist das Zentrum unseres Glaubens, die einfühlende Nächstenliebe sein Markenzeichen. Auf diesem Hintergrund sind die diakonischen Dienste und Einrichtungen entstanden, denen es nicht nur um das Seelenheil, sondern auch um das körperliche und soziale Wohl der Menschen ging: Pflegedienste und Krankenhäuser, Einrichtungen für Menschen mit Behinderung. Heute gehen viele Menschen davon aus, dass Gesundheit herstellbar und käuflich ist- als Produkt einer guten und effektiven Medizin, als erfolgreiche Dienstleistung von Pflegenden, als Anspruch an die Sozialversicherung. „Hauptsache gesund“, heißt es, gesund, fit und leistungsstark. Der Psychiater und katholische Theologe Manfred Lütz spricht von einer neuen Gesundheitsreligion in unserer Gesellschaft – Gesundheit, so sagt er, sei für uns zum höchsten Gut geworden. Diese Vorstellung habe aber eine gefährliche Kehrseite: die Unfähigkeit, mit der eigenen Vergänglichkeit umzugehen und die Ausgrenzung der Kranken.

 

Vielleicht kennen Sie das so genannte „Hundert-Gulden-Blatt“ – Rembrandts berühmte Radierung. Er zeigt, wie ein ganzer Strom von Kranken und Verzweifelten sich auf Jesus zubewegt. Einige humpeln, schleppen sich heran. Andere werden getragen, auf Karren gezogen. Sie strecken die Arme aus, sie rufen und schreien. Soviel Leid ist kaum auszuhalten. Man möchte sich dagegen abgrenzen und wappnen- und wir lernen das auch, wenn wir professionell in Medizin und Pflege arbeiten. Und auch Jesus bleibt von dieser Not nicht unberührt, es „ jammert ihn“, er wird bis ins Innerste erschüttert. Das Markusevangelium erzählt, wie er am See Genezareth auf ein Schiff ausweicht, um von den Hilfesuchenden nicht überrannt zu werden. „Denn er heilte ihrer vieler, also dass ihn überfielen alle, die geplagt waren, auf dass sie ihn anrührten.“ ( Mk. 3,10)

 

Jesus lässt sich anrühren, er berührt und heilt Aussätzige (Mk 1,41), eine Fiebernde (Mt. 8, 15), Blinde und Taubstumme, ja, er berührt den Sarg eines Toten. Er überschreitet die Grenzen zwischen den Geschlechtern, die Grenzen zur Unreinheit, die Trennungen, die Menschen aus der Gemeinschaft ausgrenzen und ihnen den Zugang zum Tempel verwehren. Denn wer krank ist, ist abgeschnitten von Gott und den Menschen- gerade darum setzen Kranke ihre Hoffnung darauf, Jesus zu berühren, vielleicht auch nur sein Gewand- so wie die Frau, die seit langen Jahren unter Blutungen leidet. ( Mk 3, 10 / Luk. 6, 19 u.a.).

Dass Kranke bei Jesus Anteil bekommen an Gottes heilender Kraft und von ihr berührt werden, gehörte in den Anfängen zu den wichtigsten Gründen für die Anziehungskraft und Ausbreitung des Christentums. Denn die antike Welt war überzeugt, dass kranke und behinderte Menschen in die widergöttliche Sphäre des Todes gehören und deshalb aus der sozialen und kultischen Gemeinschaft ausgegrenzt werden müssen. Dass sie von Dämonen besessen sind oder dass eine Strafe auf ihnen liegt – und dass sie gerade damit das Miteinander bedrohen. Dass Kranke von Gott geschlagen sind. In Jesus aber leidet Gott selbst, auf dem Kreuzweg geht er in die Todessphäre hinein. Er stellt sich an die Seite der Ausgegrenzten. Damit kehrt er alle bisherigen Vorstellungen von Krankheit und Heilung um. „ Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht mitleiden könnte an unseren Schwachheiten…“, heißt es im Brief an die Hebräer. ( Hebr. 4,15) „ Darum lasst uns mit Freudigkeit zum Thron der Gnade treten, dass wir Gnade finden, wenn wir Hilfe brauchen.“

 

Wie ein roter Faden zieht sich die Fürsorge für „die Armen“ und Ausgegrenzten durch die Bibel, die Zuwendung für Schwache, Kranke, für Fremde, Witwen und Waisen. Jesus sieht sich berufen, “ zu predigen den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen, zu verkünden das Gnadenjahr des Herrn“ (Lk 4, 18f). Gleich zu Beginn seines öffentlichen Wirkens deutet er so seine Sendung unter Bezug auf den Propheten Jesaja. Auch seine Heilungen sind in diesem Zusammenhang zu verstehen: es geht darum, Menschen aus dem Dunkel zu holen und ins Licht zu stellen, ihnen ihre Würde wieder zu geben, sie aufzurichten. Darum heilt Jesus immer wieder vor den Augen der Öffentlichkeit.

 

Für uns allein sind wir nicht krank, und allein können wir nicht gesund werden. So oder so sind wir eingeflochten in das Netz der Gemeinschaft, in unsere Geschichte mit Gott. Wer krank ist, spürt: wir brauchen andere Menschen. Menschen, die uns Wege zur Heilung bahnen, wenn wir das nicht mehr schaffen. So wie die Freunde, die den Gelähmten auf einer Trage zu Jesus bringen und sogar das Dach abdecken, um ihn gleich vor seinen Füßen herunter zu lassen. Er wird geheilt, weil seine Freunde auf Jesus vertrauen- und alles daran setzen, dass er gesund wird. (Mk. 2, 1- 12). Weil in diesem Jahr besonders an Albert Schweitzer erinnert wird, hörte ich kürzlich einen Bericht aus Lambarene, wo Schweitzer eine Klinik aufbaute. Noch immer besteht diese Klinik aus einem Hüttendorf – in ihrer Architektur folgt sie der traditionellen Bauweise. Und bis heute ist es so, dass in den Hütten auch die Familien und Freunde der Kranken Raum finden: sie sind es, die für Sauberkeit und Ordnung sorgen und auch das Essen für die Kranken organisieren. Man kann das als Zeichen von Armut und Einsamkeit deuten- ich aber verstehe es als Zeichen von Inklusion. So wie hier Kinderkrankenschwestern in den 70er Jahren darum gekämpft haben, dass die Mütter auf den Kinderstationen mit übernachten konnten. So wie kürzlich eine junge Schriftstellerin mit türkischen Wurzeln beschrieb, dass ihr schwer kranker Vater in der Klinik nicht glücklich war ohne sein geliebtes türkisches Essen. Menschen brauchen ihre vertraute Kultur und Umgebung. Menschen brauchen Menschen. Exklusion macht krank.

 

Der Theologe Ulrich Bach, der als junger Mann an Kinderlähmung erkrankte und dann Zeit seines Lebens im Rollstuhl saß, hat beschrieben, was es heißt, nicht dazu zu gehören. Wochenlang, ja monatelang war er bestimmt von dem Gefühl, nicht mehr er selbst zu sein. Nie mehr tanzen oder Sport treiben zu können, nie mehr allein reisen zu können. Er hatte das Gefühl, der Boden wäre ihm unter den Füßen weggerissen worden und es brauchte lange Zeit und viel Unterstützung von Freunden, bis er begriff: Boden unter den Füßen hat keiner. Wir brauchen alle immer wieder Freunde, die uns leben helfen. „Die Frage, ob ich dazugehöre“, schreibt Ulrich Bach, „wird oft zuerst von der anderen Seite beantwortet. Wenn sich (andere) … freiwillig zu mir bekennen, indem sie sagen: wir gehören zu dir, dann … bekomme ich die Möglichkeit, zu erleben: tatsächlich, ich gehöre zu Euch.“ Ulrich Bach war übrigens überzeugt, dass er auch im Himmel in seinem Rollstuhl fahren würde. Behindert fühlte er sich nur, wenn er nicht dazu gehörte.

 

 

4. Sind die Dämonen gebannt? Über Angst und Verachtung

In meiner ersten Gemeinde in Mönchengladbach feierten wir einmal im Jahr Gottesdienst mit einer Gruppe aus Hephata. Hephata, Mönchengladbach, ist ein diakonisches Unternehmen mit Hilfsangeboten für Menschen mit geistigen Behinderungen. Es war jedes Mal ein Fest, wenn der Chor aus Hephata sang – 20 oder 25 Jungen und Männer, manche davon spielten Mundharmonika, sangen ganz einfache, eingängige Lieder. Gospels, Kindergottesdienstlieder. Mit Klatschen und Stampfen und einer unbändigen Freude, die die Gemeinde mitriss. Am Ende standen die Menschen im ganzen Kirchenschiff und sangen begeistert mit. Alles Trennende, alle Vorurteile waren überwunden, wenn wir gemeinsam Halleluja sangen. Ein Fest war das, es waren Augenblicke, in denen Gottes grenzüberschreitende Gemeinde sichtbar wurde. Inzwischen leben kaum noch behinderte Menschen auf dem alten Anstaltsgelände. Die allermeisten sind ausgezogen und wohnen jetzt in kleinen, betreuten Wohngruppen- auch in meiner alten Gemeinde. Sie wollen nicht länger ausgegrenzt sein- sondern in der Gemeinde leben. Ich hoffe, die neuen Nachbarn haben auch weiterhin einen Platz in der Kirche.

 

Hephata, „Öffne Dich“, ist das Schlüsselwort in einer der Heilungsgeschichten Jesu. Im Mittelpunkt dieser Geschichte steht ein taubstummer Mann. Ich denke an Onkel Friedrich, meinen Urgroßonkel, der in unserer Familie lebte, als ich ein Kind war – er war schwerhörig und später taub und er hatte noch kein Hörgerät, nur ein so genanntes Hörrohr, ein Kuhhorn. Man musste hinein schreien, wenn man mit ihm sprach. Und weil das mühsam war, blieb er oft außen vor. So war er misstrauisch geworden und missmutig –und ich hatte Angst vor ihm. Dabei war er selbst voller Ängste, in sich verschlossen, von der Welt abgeriegelt. Nur Tante Hulda, seine Schwester, konnte ihn besänftigen- sie sah ihren kleinen Bruder, lebenslang.

 

Zur Zeit Jesu war man überzeugt, dass in dieser Krankheit Dämonen am Werk waren. Es waren doch keine menschlichen Stimmen, die sich da artikulierten. Schon deshalb ist es ein kleines Wunder, dass der Mann, von dem das Evangelium erzählt, Freunde hat, Menschen, die ihn zu Jesus bringen, die stellvertretend für ihn um Heilung bitten. Und Jesus hat keine Angst vor Dämonen; er lässt sich ganz und gar auf diesen Menschen ein. Er kommt ihm körperlich nah, so wie wir es tun, wenn wir Taubblinden etwas in die Hand diktieren. Er legt dem Kranken die Finger in die Ohren, er berührt seine Zunge, dann erst spricht er- er betet: Hephata, tu Dich auf. Das Evangelium erzählt ganz anschaulich ( Mk 7, 31ff), wie ein Mensch frei wird, wie sich seine Fesseln lösen, seine Zunge sich löst, wie die Welt sich öffnet. Und plötzlich spricht auch der Stumme, mit einer menschlichen Stimme. Und der Funke springt über, so wie damals in meiner Gemeinde, wenn der Chor aus Hephata sang. „ Jesus hat alles gut gemacht“, sagen die Leute, „ die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen reden.“

 

Wer das liest, der spürt: Auch hier geht es nicht nur um den Taubstummen, es geht um alle, die das miterleben, und um uns, die diese Geschichte hören. Die Menschen, die im 19. Jahrhundert diakonische Anstalten gegründet haben, sahen den Menschen und nicht die bösen Geister in den Kranken und Behinderten. Und war es nicht auch eine Wunder- und Lebensgeschichte, dass Hephata und Bethel und all die anderen Segensorte gegründet wurden? So wie es eine Höllen- und Todesgeschichte ist, dass viele der Bewohner aus Hephata während des 3.Reiches in Hadamar ums Leben kamen? Bleibt es nicht ein Wunder, dass wir gelernt haben, diese Schuld zu erkennen und dass wir heute Verschiedenheit zulassen können? Dass Gebärdendolmetscher inzwischen auf vielen Veranstaltungen selbstverständlich sind und Wörterbücher für Gebärdensprache und ihre Dialekte entstehen?

 

Martin Luther fand übrigens, die biblische Hephata– Geschichte helfe uns, eine tiefere Wahrheit ganz unmittelbar zu verstehen; Jeder Mensch sei isoliert und in sich verschlossen, bis er von Gott angerührt werde. Ein „homo in se incurvatus“ – verkrümmt in die eigene Gedankenwelt. Besessen von den eigenen Ideen und Ängsten. Unfrei und voller Sehnsucht nach Erlösung. Die Geschichte stelle uns ganz leiblich vor Augen, was das heißt. Wie sehr wir darauf angewiesen sind, dass Gott uns die Ohren öffnet. Jesus sagt das ja wenig später zu seinen Jüngern: „ Versteht Ihr noch nicht? Und begreift Ihr noch nicht? Habt ihr noch ein verhärtetes Herz in Euch? Habt Augen und seht nicht und Ohren und hört nicht?“ Wie so oft in der Bibel werden hier Blindheit und Taubheit, Krankheit und Behinderung zum Spiegel für alle anderen. Ist es nicht immer noch so, das wir andere ausgrenzen, weil wir Angst haben, uns selbst in ihnen zu begegnen? Nicht die Behinderten sind behindert, sondern die, die sich für gesund halten. Die Dämonen, die wir bei anderen entdecken, sitzen im eigenen Herzen.

 

Das bedeutet nun nicht, dass wir diese Geschichte nur symbolisch verstehen können. Jesus war Heiler und Wundertäter wie viele in seiner Zeit. Die Methoden, mit denen er heilt, gleichen denen, die heute noch angewandt werden – jenseits der westlichen, wissenschaftlichen, wohlhabenden Welt. Ganz ursprünglich und doch zu unserem Erstaunen oft sehr wirksam und erfolgreich. Und doch ist dieser Erfolg für Jesus nicht das Wesentliche; er will nicht, dass Menschen damit werben. Wichtiger ist ihm, dass jeder Mensch zählt und Teil der Gemeinschaft ist.

 

 

5. Im Augenblick ist Ewigkeit: über die Bedeutung von Spiritualität

 

Viele der Krankheiten, für die die Bibel Dämonen verantwortlich macht, können wir heute erklären. Wenn einer immer wieder stürzt und mit Schaum vor dem Mund zitternd auf dem Boden liegt, dann wissen wir: er ist Epileptiker. Wenn einer bei schrecklichen Kopfschmerzen Lichtreflexionen sieht, kann das eine Migräne sein. Wenn jemand religiöse Visionen hat oder wenn er sich von Gott verworfen sieht, dann hat er möglicherweise eine Schizophrenie. Wir haben Namen für das Unbegreifliche und Fremde. Und wir wissen, auch die psychischen Erkrankungen haben ihre Ursachen im Gehirn. Und was das Wichtigste ist: für viele Erkrankungen, die Menschen früher zugrunde gerichtet und ins Irrenhaus gebracht haben, haben wir Medikamente. Damals aber sprach man vom bösen Geist. Von dem Unerklärlichen, das Menschen niederwirft und niederdrückt. Und ganze Familien krank machen kann.

 

Wir haben kaum noch Zugang zu diesem Denken. Wir gehen rational mit Krankheiten um. Das ist aber nicht die ganze Wirklichkeit. Denn wer eine schwere Krankheit erlebt, der findet sich noch immer in einer anderen Welt wieder – verzweifelt und allein. Ganz wie die Frau aus dem kanaanäischen Bergland, die Jesus nachläuft ( Matth. 15, 21ff) -die schreit und stört, auf die Knie geht und sich vor Jesus niederwirft – ohne Scham, ohne Angst. Sie würde alles tun, damit ihre Tochter gesund wird. Denn das Mädchen ist, so heißt es im Evangelium, „von einem bösen Geist“ geplagt – und man spürt, welche Macht der hat: die Mutter ist selbst ganz außer sich.

Diese Verzweiflung spüren wir nicht nur bei der kanaanäischen Frau, sondern auch bei dem römischen Hauptmann, der um die Gesundheit seines Knechts bangt. ( Luk. 7,1- 10). Eine Kanaanäerin, ein Römer- beide sind keine Juden – und für einen Augenblick steht die Frage im Raum, ob Jesus ihnen überhaupt helfen kann. Segen nur für die frommen Juden? Nein, Segen und Heil für die Welt, wie es im Motto dieser Tagung heißt. Der römische Hauptmann hatte ganz sicher Zugang zu den besten Ärzten am Hof, er wird sie konsultiert haben, alle medizinischen Möglichkeiten ausprobiert – aber nichts hat geholfen. So macht er sich auf den Weg von Kapernaum hinauf nach Kana, eine Tagereise weit auch zu Pferde, weil er von Jesus gehört hat. Von dem Wundertäter, der sogar Wasser in Wein verwandelt hat. Wenn einer helfen kann, dann der. Die Bibel erzählt, wie der Hauptmann Jesus bedrängt – er will ihn mitnehmen in sein Haus. Er fleht ihn an. Aber Jesus scheint das alles nicht zu berühren. Im Evangelium steht ein irritierender Satz – wohl eher zu seinen Anhängern gesprochen, vielleicht auch zu uns: „ Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, so glaubt ihr nicht“: Da hängt das Leben eines Menschen am seidenen Faden, alles drängt zur schnellen Hilfe- und das Evangelium hält uns auf- mit dieser einen Frage: Hängt Euer Glaube davon ab, dass der Mann wieder gesund wird? Was wird aus Eurem Glauben, wenn Gott Eure Gebete nicht erhört? Keine einfache Frage – es lohnt, sich damit aufzuhalten. Denn auf die Antwort wird am Ende alles ankommen in unserem Leben.

 

Ich stelle mir vor, wie der Hauptmann vor Jesus steht. Tausend Gedanken schießen ihm durch den Kopf: Was nutzen Karriere, Ansehen, Einfluss angesichts des Todes? Hier ist nichts zu befehlen, nichts zu zwingen, nichts zu managen – hier bleibt nur noch bitten. Und auf den zu setzen, der unser Leben wirklich in der Hand hält. Und der Hauptmann bittet ganz ohne Scheu. Und da geschieht das Wunder: Jesus wendet sich ihm zu. „ Geh, dein Knecht lebt“, sagt er – und der Hauptmann vertraut ihm und geht. Erst später erfahren wir: das ist der Augenblick, in dem den Knecht das Fieber verlässt.

 

Was ist geschehen zwischen den beiden – und was zwischen Jesus und dem Knecht des Hauptmanns? Was sind das für Heilkräfte, die hier wirksam werden? Es scheint, als seien alle Entfernungen aufgehoben in diesem Hier und Jetzt, in dem das Wunder geschieht. Das Wunder des Glaubens, das Wunder der Heilung. In diesem Moment treten alle Ängste zurück, die Zeit steht still. In diesem Augenblick ist Ewigkeit. Unsere Vorstellungen von Krankheit und Heilung sind durch die westliche, wissenschaftliche Medizin geprägt. Spontanheilungen und Fernheilungen haben wir ins Feld der Esoterik verbannt.

 

Klaus-Dieter Platsch, ein Mediziner, den diese Fragen interessieren, hat ein ganzes Buch über die tieferen Dimensionen im Heilungsprozess geschrieben. Heilung erwüchse aus einem Raum jenseits der Methoden und Medizinsysteme, in einem heilenden Feld der Liebe. Offenheit sei dabei eine wesentliche Voraussetzung. „ Je bewusster der Arzt oder die Ärztin ist“; schreibt Platsch,“ je mehr sie erkennen, dass wir nicht nur die Handelnden sind, sondern auch Raum geben müssen, in dem Dinge geschehen können, desto stärker kann sich ein Heilungsprozess entwickeln.“ Es gehe darum, meint er, das Ich zurücktreten zu lassen – das Ich des Arztes, das Ich des Patienten – und gemeinsam auf das Wesentliche zu schauen. Heilung sei ein spiritueller Prozess, in dem es letztlich um das Licht eines neuen Lebens gehe.

 

Auf der Suche nach Heilung ist auch der Hauptmann einen Glaubensweg gegangen. Er weiß jetzt: Entscheidend ist, was Leben und Sterben trägt – jenseits von Raum und Zeit, von Gesundheit und Krankheit. Die Psychotherapeutin Anne-Marie Tausch hat ihrer Glaubensweg während ihrer Krebserkrankung so beschreiben „ In den letzten Monaten ist mir klar geworden, dass die wirklichen Entscheidungen nicht in meiner Hand liegen. Wenn ich annehme, was ist, das ist eine große Hilfe. Sich diesem Fluss des Geschehens anvertrauen zu können und zu denken: Du brauchst das Ruder nicht in der Hand zu halten, wenn Du Dich dem Strom anvertraust. Das ist noch schwer, das möchte ich noch stärker hinbekommen- aber in diesem Glauben brauche ich vor nichts mehr Angst zu haben.“

 

In seinen Anfängen war das Christentum eine Heilungsbewegung. Der Heilungsauftrag Jesu war so wichtig wie der Verkündigungsauftrag. Das ist vielen heute nicht mehr bewusst. Denn die Trennung zwischen christlichem Glauben und Heilkunst reicht zurück bis in die Zeit der Auseinandersetzung mit den heilenden Frauen und wurde mit Beginn der wissenschaftlichen Medizin noch einmal verschärft. Nach unserem Verständnis sind Religion und Kirche für die Seele zuständig, Medizin und Pflege für den Leib. Erst in den letzten Jahrzehnten wurde klar, dass diese Trennung von Leib und Seele auch dem Stand der wissenschaftlichen Forschung nicht mehr entspricht- zunächst dank der Psychosomatik, später auf dem Hintergrund der modernen Hirnforschung. Vielen ist bewusst, dass es jenseits der naturwissenschaftlich anerkannten Medizin Heil-Wissen und Heil-Weisheit aus alten Kulturen gibt, das noch nicht ausreichend erforscht und offenbar doch wirksam sind. Nicht mehr nur Patienten, auch Ärzte und Pflegende interessieren sich für Traditionelle chinesische Medizin. Die Frage nach dem Zusammenhang von Heilung und Heil wird heute neu gestellt. In Kirchen und Gemeinden wird wieder entdeckt, dass Jesus wesentlich als „Heiland“ verstanden wurde. Und endlich verstehen wir wieder, dass Gesundheit nicht nur und nicht einmal „in erster Linie ein medizinisches Problem ist.“.[2]

 

Und auch Psychologen entdecken die Religion als einen lange Zeit unterschätzten und übersehenen Heilfaktor“[3]., schreibt der Chefredakteur der Zeitschrift „Psychologie heute“: Zunächst in den USA, jetzt auch in Europa[4], wurden und werden in den letzten Jahren mehr als 1000 Studien durchgeführt – zum Teil mit sehr großen Fallzahlen und langen Untersuchungszeiträumen. Es geht um den Einfluss von Spiritualität auf die Lebenserwartung, auf das Auftreten von Herz-Kreislauferkrankungen, auf die Überlebenszeit von Tumorkranken oder auf die Häufigkeit des Auftretens von Depressionen. Diese Studien kommen in über 80 Prozent zu dem Ergebnis, dass sich Spiritualität positiv auf die körperliche und seelische Gesundheit auswirkt.[5] Gebet, Meditation und religiöse Rituale haben einen messbaren Einfluss auf den Blutdruck und auf Stresshormonen im Körper. Gläubige können innere und äußere Kraftquellen zum Umgang mit Krankheiten und Schicksalsschlägen mobilisieren. Sie leben oft in einem tragenden sozialen Netz.

 

„Sollen wir nun an die Kirchentüren schreiben: Wer wöchentlich hier herein kommt, dessen Lebenserwartung steigt um einige Prozente;“ fragte neulich Peter Bartmann vom Diakonie Bundesverband. Besteht nicht die Gefahr, dass wir den Glauben damit erneut instrumentalisieren, den Kranken gar die Schuld geben, weil sie zu wenig gebetet haben? Das passt nicht zu dem Gott der Bibel, der auch das Leiden umfängt und ihm einen Sinn geben kann. Heilung ist und bleibt uns unverfügbar, sie ist Gottes Geschenk. Die Übersetzung „ Dein Glaube hat Dich gesund gemacht“, die man oft findet, trifft nicht, was im griechischen Text steht: „Dein Glaube hat Dich gerettet“. Nicht die Gesundheit steht im Mittelpunkt der Heilungsgeschichten, sondern die Gemeinschaft mit Gott und den Mitmenschen. Heilung öffnet die Tür zum einem neuen, zu einem anderen Leben.

 

 

 

6. Uns allen blüht das Leben – unser eigener Kreuzweg

Die Heilungen Jesu sind Zeichenhandlungen – nicht mehr und nicht weniger. Sie verweisen auf das neue Leben, das uns im Reich Gottes erwartet. Zwischen Heilung und Heil besteht ein bleibender Unterschied. Selbst die Wunder Jesu, die den Tod in Frage stellen – die Auferweckung der Tochter des Jairus oder des jungen Mannes in Nain, die Auferweckung des Lazarus – bleiben Auferweckungen in ein sterbliches Leben. Nicht jede Krankheit ist heilbar, aber jedem Menschen, auch dem Todkranken und bleibend behinderten, gilt das Angebot, „heil“ zu werden und von der heilenden Liebe Gottes berührt zu werden. Paulus behielt trotz vieler Gebete eine schwere physische Erkrankung, den „Stachel im Fleisch“, den er deutet als einen dunklen Engel, der ihn schlug – und trotzdem erfuhr er sich als geliebt und gerechtfertigt,  grenzenlos angenommen durch Gott.

 

Paulus hat sein Damaskuserlebnis, bei dem er geblendet vom Pferd stürzte und dann einige Tage blind und wie gelähmt lag, als Wendepunkt begriffen. Er musste sich selbst zugeben, dass er auf dem falschen Weg war – ein gut ausgebildeter jüdischer Mann, der um des wahren Glaubens willen die kleine, christliche Sekte bekämpfte. Jetzt musste er sich mit seinen Feinden versöhnen, sich von seinen Gegnern helfen lassen. Er musste seine Ohnmacht anerkennen, um zu einem neuen Leben zu finden. Richard Rohr spricht in diesem Zusammenhang von der Ökonomie der Gnade. Menschen, die mit ihrer eigenen Version vom Erfolg scheitern, sagt er, gelingt oft der Durchbruch zu Erleuchtung und Mitgefühl.[6] „ Wir erfahren die Wahrheit nur dann, wenn wir höchstpersönlich hindurchgehen und auf der anderen Seite wieder heraus kommen“.

 

Das schreibt Rohr in seinem Buch „ Zwölf Schritte der Heilung“ über Gesundheit und Spiritualität, in dem er anhand der 12 Schritte der Anonymen Alkoholiker über unseren persönlichen Kreuzweg als Weg zum Leben spricht. Am Ende heißt es „ Leidende Menschen können einen leidenden Gott lieben und ihm vertrauen. Und nur ein leidender Gott kann leidende Menschen retten.“ „ Jesus ist mehr als alles andere ein Gott der Leidenden…, er steht nicht im Wettstreit mit irgendeiner Weltreligion, sondern ausschließlich in ständigem Wettstreit mit Tod, Leiden und Tragik des Lebens selbst. Das ist der einzige Kampf, den er gewinnen will. Und er gewinnt ihn.“[7]

 

Ich denke an die Kämpfe in unserem Leben, an Krankheiten und Krisen, an Erfahrungen von Sinnlosigkeit, Ohnmacht und Überforderung. Oft genug markieren Krankheiten Wendepunkte und umgekehrt; an Wendepunkten oder in Krisen zeigen wir auch körperlich Schwäche. Darum ist es so wichtig, dass wir ein Krankenhaus wirklich als Gesundheitszentrum begreifen, ein Hospiz als Gasthaus des Lebens. Dass wir nicht nur eine Dienstleistung bringen, sondern einander als Geschwister begegnen. Dass wir in Medizin und Pflege nicht nur den Körper im Blick haben, sondern auch Herz und Kopf- es geht ja um Menschen, die Sinn suchen, vielleicht auch Gott in ihren Erfahrungen, Leiden und Schmerzen. Darum ist es schließlich so wichtig, dass die Kirche nicht nur Kopf und Herz anspricht, sondern eben auch den Leib sieht. Der wird in der Kirche oft genug vergessen und vernachlässigt, während alle Welt immer mehr auf den Körper setzt. Auf Fitness, Gesundheit und Schönheit.

 

Wer baut Brücken für die, die draußen stehen, weil sie chronisch krank, an Leib und Seele verletzt oder dement sind? Brücken zwischen Kirche und Gesundheitswirtschaft ? Wer setzt sich ein für Städte und Gemeinden, in denen auch ältere und behinderte Menschen gut leben können? Woher kommt die Erneuerung, wo wächst Zukunft? Oft sind es ehrenamtlich Engagierte, Bürgerinitiativen, Selbsthilfegruppen. Manchmal auch Gemeinden. Menschen, die Erfahrungen mit Tod und Leben gemacht haben, Erfahrungen, die eine neue Perspektive geben. Ich erinnere mich an die letzten Monate meiner Mutter im Altenzentrum- an ihr Sterben. Ich werde nicht vergessen, welche intensive Zeit ich selbst dort in den letzten vierzehn Tagen erleben konnte und wie sich mein Blick auf die Altenhilfe verändert hat. Oder an meinen Krankenhausaufenthalt vor wenigen Wochen, der mir wieder einmal neue Einblicke ins Gesundheitswesen gegeben hat. Immer wenn ich solche Erfahrungen mache, wünsche ich mir, daraus lernen zu können. Dass ich durchlässig bleibe in Glauben und Handeln, in Arbeit und Leben.

 

Und damit sind wir wieder am Anfang, in Kaiserswerth und bei den Fliedners. Sie kämpften damals mit der Schwesternschaft gegen den Typhus – und erlitten die Seuche in der eigenen Familie. Sie erfuhren Krankheit und Tod wie viele ihrer Patientinnen und Patienten. Die Grenze zwischen Arbeit und Leben war schmerzhaft durchlässig. Wie hielt man das aus? Vielleicht nur mit dieser Zuversicht, dass die Rosenstöcke im Juni wieder blühen. „Nur leidende Menschen können einen leidenden Gott lieben und ihm vertrauen. Und nur ein leidender Gott kann leidende Menschen retten“, sagt Richard Rohr.

 

Noch immer gibt es Frauen, die sich viel zu früh von ihren Kindern trennen müssen. Junge Frauen, die keine gute Gesundheitsversorgung haben und an einer Epidemie sterben. In Bürgerkriegen, in Flüchtlingslagern, in Armutsquartieren. Henning Mankel hat aidskranken Müttern in Uganda geholfen, Erinnerungsbücher zu schreiben. Eine von ihnen, Aguga Christine, schrieb ihrer kleinen Tochter, was ihr Leben trägt: „ Je mehr du gibst, desto mehr wirst du von Gott gesegnet.“ Was für eine Hoffnung in all den Leiden. Und was für ein Engel, de uns diese Hoffnung aufschreibt. Ich wünsche Ihnen die Zuversicht, dass unter dem Schnee die Rosen blühen.

 

 

[1] De Botton, S. 220f.

[2] Deutsches Institut für Ärztliche Mission (Hrsg.), Das christliche Verständnis von Gesundheit, Heilung und Ganzheit. Studie der Christlich-Medizinischen Kommission in Genf, Tübingen 1990, 6

[3] Heiko Ernst, Macht Glaube gesund?, in: Psychologie heute compact, Heft 8 (2004)

[4] In den USA wurde Ende der 1970er Jahre mit diesen Untersuchungen begonnen. Seit etwa zehn Jahren gibt es epidemiologische Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen Spiritualität und Gesundheit auch in Europa: In Deutschland an den medizinischen bzw. psychologischen Fakultäten der Universitäten Trier, Heidelberg, Witten/Herdecke; in Österreich an den Universitäten Wien und Innsbruck sowie in der Schweiz an der Universität Zürich.

[5] Umfassende Überblicke über diese Studien bis zum Jahr 2000 sind zu finden bei: Harold König, Michael McCullough, David Larson, Handbook of Religion and Health, New York 2001; Dale A. Matthews, Glaube macht gesund. Spiritualität und Medizin, Erfahrungen aus der medizinischen Praxis, Freiburg 2000

[6] S. 29

[7] S. 173