„Are the churches prepared to take a risk?”

Sieben Thesen zu den Herausforderungen der Transformation für Theologie und Kirche

  1. Erkenntnis an der Grenze – die fundamentalen Fragen

Die Erfahrung der Grenze, die unweigerlich mit der Transformation verbunden ist, treibt die Wissenschaft zu neuen Erkenntnissen, stellt den Wachstumspfad der globalen Wirtschaft in Frage, führt Gesellschaft und Politik ihre Dilemmata vor Augen und lässt elementare Fragen der Religion wieder aktuell werden. Wenn wir das Ende vor uns sehen, kehren wir zu den entscheidenden, den fundamentalen Fragen zurück. Es geht um Zeitlichkeit und Endlichkeit, um Gerechtigkeit und Verzicht, um die Apokalypse und die Frage, was unsere Hoffnung nähren kann. Die Grenze ist religionsproduktiv. Viele sehen ihre Kritik am Anthropozentrismus der monotheistischen Religionen bestätigt und suchen neue Wege der Spiritualität. Für manchen mag die Umweltbewegung Ersatzreligion sein.

Werden überhaupt noch Antworten von Theologie und Kirchen erwartet? Und sind die Kirchen in der Lage, diese Antworten nachvollziehbar und glaubwürdig zu formulieren, mehr noch, zu leben? Längst werden theologische Fragestellungen außerhalb der Binnenstruktur der Kirche und in anderen Sprachen verhandelt: in filmischen Dystopien, in Fotoreihen und Symbolaktionen von Umweltverbänden und Initiativgruppen. Apokalyptik hat Konjunktur – oft hoffnungslos-dystopisch, manchmal eine letzte Rechtfertigung für Terrorismus und bewaffneten Widerstand. Auch die christliche Apokalyptik schaut auf dem gegenwärtigen und drohenden Unheil wie auf das Heil der gesamten Schöpfung – dabei bleibt der Mensch verantwortliches Subjekt. Diese Verantwortung des Menschen gilt es neu zu reflektieren, als Freiheit in Rückbindung an die Schöpfung. Wir müssen die Beziehung des Menschen zur Erde neu ins Gespräch und ins Gefühl bringen. Denn das Wohlergehen des Menschen hängt vom Wohlergehen des gesamten Habitats ab. „Wir brauchen ein Holozän-ähnliches Anthropozän“, sagte Wolfgang Lucht vom Potsdam-Institut in Wittenberg, um deutlich zu machen, dass der Mensch dafür verantwortlich ist, das Überleben des Ganzen zu sichern. Denn ein „anthropozentrisches Anthropozän“ wäre wohl allenfalls auf einer künstlichen Weltrauminsel denkbar. Aber wie muss der Mensch aussehen, der hier auf der Erde das neue Leben lebt? Welche Menschheit braucht das? Und welche Wege zur Menschwerdung können wir gehen? Für Christen stellt sich die Frage so: Wie folgen wir Jesus von Nazareth als inkarniertem Wort Gottes, als dem Sinn also, der schon in der gebrochenen Schöpfung erkennbar wird?[1]

Die Herausforderungen der Transformation fordern auch die Kirchen heraus – zu einer kritischen Auseinandersetzung über ihre gesellschaftliche Relevanz, ihre Bilder, Symbole und Geschichten, aber auch über die Ordnungen und Gesetze, die das eigene institutionelle Handeln steuern. Welche Rolle spielt die Schöpfungsverantwortung in den Grundordnungen, in der Ausbildung kirchlicher Berufsgruppen, bei Finanzanlagen oder auch in der Auswahl der Perikopen? Es ist wohl unstrittig, dass die Schöpfungsverantwortung in die Mitte der christlichen Botschaft gehört. Hier muss ein ähnlicher Prozess in Gang kommen wie in der Auseinandersetzung mit dem Antijudaismus nach Krieg und Holocaust: von der Exegese bis zum Gottesbild, von der historischen Schuld bis zur Gründung einer Initiative wie Aktion Sühnezeichen und zur Veränderung der Grundordnungen kam ein langer Prozess der Umkehr und des Umsteuerns in Gang, in dem zunächst die historischen Erfahrungen eine theologische Selbstkritik in Gang setzten, ehe dann umgekehrt eine neue Theologie zu praktischen Konsequenzen führte.

 

  1. Kirchen im gesellschaftlichen Dialog? – Die Tanker im Selbstgespräch

Unser Reden schafft Wirklichkeit, unser Handeln erzählt Geschichten. In unserem Verhalten wird auch unsere Haltung erkennbar. Das gilt für den Einzelnen und natürlich auch für Organisationen. Die Schwerpunkte und Entscheidungen im organisationalen Handeln lassen Rückschlüsse auf Werte und Kultur zu. Angesichts drohender Untergangsszenarien und politischer Gräben von der Energieversorgung bis zur Fischerei und zur Armutsmigration fragen manche nach der Haltung der Kirchen, die sich seit langem in Stellungnahmen und Denkschriften kritisch zu Klimawandel und wachsenden Ungerechtigkeiten äußern. Wie wird das in Leitungsentscheidungen und Alltagshandeln erkennbar? Die Kirchen in Deutschland sind bis heute „große Tanker“, die sich bei neuen Einsichten nicht einfach umsteuern lassen. Mein Eindruck ist: Das Bewusstsein von Gefahren und Geschwindigkeit der Transformation ist in der Mitte der Institution noch kaum angekommen. Die Differenzierung gesellschaftlicher Milieus hat dazu geführt, dass die kritischen und experimentellen Geister, die Engagierten in Ökumene- und Umweltbewegungen und mit ihnen die Jüngeren eher am Rande stehen. Sie arbeiten in kirchlichen Umweltgruppen, erstellen Denkschriften, bereiten Tagungen vor, während Ältere aus den traditionellen Milieus die Orts- und Gruppengemeinden leiten. Alle erleben zugleich den Relevanzverlust der Kirche, der sich für die „Insider“ vor allem im Finanzdruck auswirkt, in der Notwendigkeit zu Sparmaßnahmen, Fusionen und Rückzug – mit der Gefahr, dass die Organisation sich umso mehr um sich selbst dreht. Zugleich wird in den Changeprozessen spürbar, dass Kirche noch immer in viele gesellschaftliche Funktionsbereiche hineinragt. Viele davon waren lange nicht mehr im Bewusstsein, manche haben sich abgekoppelt, weil sie kaum verstanden wurden. So arbeiteten zum Beispiel Bildungseinrichtungen, Soziale Dienste, Umweltbewegung aber auch die entsprechenden Kammern häufig nebeneinander her – bis hin zu widersprüchlichen Botschaften zum Beispiel in Fragen des Wirtschaftswachstums.

Zugleich aber haben die Kirchen noch immer großen Einfluss und Vermögen; das gilt für die Arbeitsbedingungen in Erziehung und Pflege bis zur Steuerung von Pensionsfonds und den Umgang mit Grundstücken und Immobilien. Und noch immer sind mehr als die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger Mitglieder. Der „Transformationskongress“ von DGB, EKD und Umweltverbänden 2012 in Berlin[2] hat gezeigt: Das macht den Dialog und die Zusammenarbeit mit den Kirchen attraktiv für Gewerkschaften wie Umweltbewegung, aber auch für Theologie und Naturwissenschaft. Was den Dialog gleichwohl erschwert, sind nicht vergebliche Anstrengungen oder Erfahrungen des Scheiterns, es ist vielmehr die Erfahrung der Selbstvergessenheit und des Selbstwiderspruches der Kirche, von der natürlich auch andere Organisationen nicht frei sind. Angesichts des eigenen Anspruchs, Orientierung zu geben, angesichts der großen biblischen Erzählungen von alter und neuer Schöpfung, ist das nur im Blick auf die Kirche besonders schmerzhaft und enttäuschend. Wo die Kirchen allerdings in der Lage sind, Irrwege und Scheitern offen zu reflektieren, da können sie, selbst Teil des Problems, zum Teil der Lösung werden, so wie es mit der Reflektion von Antijudaismus und Antisemitismus oder sexueller Diskriminierung in der Kirche geschehen ist und geschieht.

So wie die Kirchen selbst sich oft eher mit dem Erhalt der Organisationen als mit dem Verlust gesellschaftlicher Relevanz beschäftigen und dabei die Probleme der großen Transformation aus dem Blick verlieren, nehmen Wissenschaft und Zivilgesellschaft die Kirche nur noch selten als Dialogpartnerinnen wahr. Eine andere Wahrnehmung prägt das Bild: Viele erleben die Kirchen als Moralinstanz, die angesichts des Klimawandels und der Gefährdung des globalen Gemeinwohls vor allem Verzicht predigen, aber den Worten nur unzureichend Taten folgen lassen. Viel käme darauf an, dass die „Orientierung am Genug“ als Versprechen eines guten Lebens erfahrbar wird. Und dass damit die falschen Glücksversprechen des Konsumismus entlarvt werden. Denn „Coping, Doping, Buying, Shopping“, wie Wolfgang Streeck[3] unseren westlichen Lebensstil nennt, können nur wenigen Erlösung bieten. Und geben auch den Wohlhabenden letztlich keinen Halt. Wie müssten die Kirchen sich verändern, um Orte für neue Lebenserfahrungen zu werden? Wo ein neuer Lebensstil gepflegt, eine neue Spiritualität eingeübt werden kann – ökumenisch, mit Blick auf die ganze globale Welt, und doch mit Angeboten von Ortsgemeinden, Sozialinitiativen und Bildungseinrichtungen, die den Alltag hier im Blick behalten und Einzelne in ihrer eigenen Transformation begleiten?

  1. Die ökologische Frage – eine Gerechtigkeitsfrage

Nicht jeder schafft es, ein sozial und ökonomisch „erfolgreiches“ Leben zu führen. Schon gar nicht das Leben, das Werbung und Serien uns vorgaukeln. Aber gerade die Verlierer trösten sich mit dem „Recht ein billiges T-Shirt zu kaufen“, wie Wolfgang Stierle das nennt. Das Aufstiegsversprechen trägt nicht mehr; die Angst vor gesellschaftlichem Abstieg und vor Wohlstandsverlusten wächst. Der achtjährige Philippino, dessen Zukunftshoffnungen schwinden und der Kohlekumpel in Minnesota, der den Untergang seiner Industriewelt erlebt, teilen das gleiche globale Schicksal. Eine Politik allerdings, die den Kohlekumpel schützt, wird den Jungen auf den Philippinen doppelt gefährden. Aber gerade in der Krise halten wir uns an den Versprechen von Wohlstand und Sicherheit fest, die unsere westlichen Demokratien prägten und stabil halten. Inzwischen allerdings bricht sich die Globalisierung am Populismus. Konkurrenz statt Solidarität, Abgrenzung statt Austausch bestimmt zunehmend politisches Handeln und beschleunigt die Katastrophe.

„Heute können wir uns eine Zivilisation vorstellen – ja, wir sind auf sie angewiesen-, die die Menschheit als Ganzes verstehen kann“, sagte Uwe Schneidewind in Wittenberg. Aber die Phantasie, wie dieses Verständnis in praktische Politik umgesetzt werden kann, scheint in Gesellschaft und Parteien zu fehlen. Und die wenigen Visionen werden in kurzsichtigen Debatten klein geredet, verlaufen sich angesichts von Flügelkämpfen und Wahlperioden im Sande. Ob und wie Nächstenliebe oder gar Feindesliebe, jedenfalls Fremdenliebe global möglich ist, und wie sie gestaltet werden kann, das bleibt eine offene Frage. Die aktuellen Migrationsdebatten um Integrationskosten und Entwicklungszusammenarbeit lassen ahnen, wie komplex sich politische Praxis gestaltet. Dabei lässt die neue Sehnsucht nach Heimat genauso wie ihre Instrumentalisierung befürchten, dass der Kreis sehr eng gezogen wird, wenn es um Gleichheit und Geschwisterlichkeit geht. Wir bewegen uns zwar im World-Wide-Web und haben Freunde in aller Welt, aber die Welt oder gar die Menschheit als Ganzes zu sehen, fällt uns immer noch schwer. Vielleicht weiß der Flüchtling aus Somalia, der der alten Sklavenroute bis über das Mittelmeer gefolgt ist und dann demnächst in einem der neuen „Ankerzentren“[4] lebt, mehr davon als die Entscheider, die die verschiedenen Landschaften und Kulturen meist nur aus dem Flugzeug sehen.

Und was setzt die Kirche gegen die Sehnsucht der Wohlstandsverlierer nach der verlorenen „Heimat“, den sentimental erinnerten „Fleischtöpfen“ in Ägypten? Schon bei der Auszugsgeschichte Israels zeigt sich: die Hoffnung auf eine neue Welt, wo Milch und Honig fließt, trägt nicht lange durch die Wüstenerfahrungen. Menschen brauchen mehr als eine Hoffnungsgeschichte; sie brauchen eine greifbare Erfahrung. Darum wurde das goldene Kalb gegossen, darum hängen wir am Bargeld, darum wurde das Auto ein Wohlstands- und Mobilitätssymbol im „Autoland Deutschland“. Wenn wir nicht am Materiellen kleben bleiben, sondern Strukturen neugestalten wollen, dann müssen wir darauf setzen, dass ein Aufbruch ins Ungewisse möglich ist. Weil das Manna in der Wüste, weil Gottes und der Schöpfung Zuwendung Ressourcen und Möglichkeiten bereithält, von denen wir noch gar nichts ahnen. Und Kräfte freisetzt, weiter zu gehen und Tag für Tag die Prozesse von Ökonomie, Ökologie und Sozialem zu gestalten. Mutig ins Ungewisse aufbrechen und zugleich ganz auf Gottes Wegstärkung vertrauen – darum geht es. „Vertraue so auf Gott, als ob Du nichts, Gott allein aber alles tun würde. Und wende dennoch alle Mühe so an, als ob der Erfolg der Dinge ganz von Dir und nicht von Gott abhinge, heißt es in einem Paradoxon des Ignatius von Loyola, das in manchem an fernöstliche Koans erinnert.

  1. Erneuerung braucht Auseinandersetzung

Die Begrenztheit der natürlichen wie der wirtschaftlichen Ressourcen ruft uns aber nicht nur die Grenzen des Wachstums in Erinnerung. Deutlicher als zuvor wird uns auch die Leibhaftigkeit und Zeitlichkeit unseres Seins und Erkennens und die Geschichtlichkeit unseres Lebens und Handelns bewusst. In der durch Kultur geprägten Natur wie in den sozialen Ordnungen, aber auch in der Gestaltung wirtschaftlicher Beziehungen und politischer Entwicklungspfade haben sich zugleich Bilder von der Welt und vom Menschen materialisiert.

Die transformative Erneuerung von Kultur, Politik und Wirtschaften erfordert deshalb nicht nur eine gemeinsame Suchbewegung. Politische Auseinandersetzungen über die Rolle von Staaten, internationalen Organisationen und Zivilgesellschaft, wie wir sie derzeit erleben, sind unausweichlich. Dabei müssen die Kirchen die Perspektive der Leidenden aufnehmen und wenn möglich zu Anwälten derer werden, die sich als Opfer der Globalisierung erleben und zuerst unter dem Verlust an sauberen Gewässern und Urwäldern, an Artenreichtum und regionalen Kulturen, aber auch an traditionellen Arbeitsplätzen in Landwirtschaft und Produktion leiden. Es geht um den Umweltflüchtling genauso wie um die prekär Beschäftigte und die Migranten in unserem Land. Es geht aber auch um die wachsenden Gewinne an den Finanzmärkten und Saatgutbörsen, die bislang bei wenigen globalen Konzernen konzentriert sind. Wie eine soziale und ökologische Marktwirtschaft morgen aussehen könnte und welche weltweiten Regeln und Institutionen zu ihrer Durchsetzung nötig wären, dazu gibt es durchaus Vorschläge[5]; die Kooperation der Kapitaleigner ist in diesen Prozessen aber kaum zu erwarten. Ist ziviler Ungehorsam ein Weg, wenn Denkschriften und Stellungnahmen, gesellschaftliche Dialoge und Kongresse an Grenzen stoßen? Kampagnen arbeiten mit Bildern und Geschichten, sie machen eine Situation in Kunstaktionen greifbar. Die graue Armee beim G20-Gipfel in Hamburg war ein eindrückliches Beispiel dafür. Auch Greenpeace und andere haben gezeigt, dass Visionen und Hoffnungen Geschichten brauchen, um anschaulich zu werden. Ist die Kirche in diesem Sinne kampagnenfähig? An Bildern und Geschichten fehlt es ihr nicht.

 

  1. Wissenschaftsgläubigkeit, alternative Fakten und die Theologie

Wissenschafts- und Fortschrittsgläubigkeit haben den Westen lange bestimmt. Beides ist heute gebrochen und umstritten. Noch immer hoffen Wissenschaftler und Philosophen auf den medizinischen Fortschritt, die weltweite Vernetzung, den homo deus, der die Menschheitsbedrohungen Hunger, Krankheit und Krieg besiegen kann und das „ewige Leben“ möglich macht (Yuval Noah Harari[6]). Zugleich aber wird deutlich, dass von dieser rasanten Entwicklung nur wenige profitieren. Das ist die Quelle von Verschwörungstheorien, der Grund für die Bereitschaft, alternative Fakten zu glauben. Insofern ist die Frage nach dem Verständnis von Wissenschaft entscheidend. Wissenschaft lässt sich eben nicht auf Fakten reduzierten; Wissenschaft ist performativ. Als Zusammenspiel von aktiv forschendem Suchen und Erschließungswiderfahrnis, von Offenbarung, steigert sie die innere Bestimmtheit des Vorgegeben. Die Gewinnung und die Kommunikation von Wissen über die in dieser Welt gangbaren Wege zu den gewollten Zielen bleibt eine Grundaufgabe in einer aufgeklärten Gesellschaft. Das mahnt in Zeiten der Autokraten von Trump bis Erdogan auch der March for Science an, der die Freiheit der Wissenschaft ins Zentrum stellt.

Gleichwohl muss die Kirche daran erinnern, dass Wissenschaft Wahrheit nicht produziert: sie entdeckt sie, kommuniziert sie und bringt sie damit ans Licht der Öffentlichkeit. Dazu allerdings braucht es Freiheit – ebenso wie einen bewussten Umgang mit Irrwegen und den Grenzen von Forschen und Gestalten, die letztlich in aufgeklärten demokratischen Prozessen auszuhandeln sind. Es geht darum, im Licht der eigenen Erfahrung und Forschung neu zu begreifen, was die Ursprungsbestimmung von Mensch, Welt und Schöpfung ist. Die christliche Theologie und die Wissenschaftlicher anderer Religionen müssen sich deshalb am Dialog mit anderen Wissenschaften, insbesondere mit den Naturwissenschaften beteiligen. Nur im Dialog untereinander und mit der Politik ist es möglich, die Grenzen der Forschung wie des Handelns zu bestimmen. Ob die Kirche dabei überzeugt, hat sie nicht in der Hand. Es geht darum, Suchenden Orientierung zu geben und zugleich ihre Freiheit zu respektieren.

Theologische Bildung muss darauf zielen, einzelne Christinnen und Christen in ihrem Erkenntnisweg, in ihren eigenen Transformationsprozessen zu unterstützen. Das gilt vom Religionsunterricht bis zur Fort- und Weiterbildung. Dazu gehört auch, Bildungsorte zu fördern und sie interdisziplinär, aber auch transdisziplinär als Dialog von Wissenschaft und Praxis mit ihren indigenen Wissensbeständen zu gestalten. Hier könnten durchaus auch Chancen einer offenen und reflektierten Gemeindearbeit liegen.

In unserer Bildungslandschaft entfalten allerdings inzwischen Teildisziplinen ihren Eigensinn – von Bologna bis hin zur Drittmittelbeschaffung. Es geht deshalb vor allem darum, dem Begriff der transformativen Bildung neue Substanz zu geben – im Bewusstsein, dass Bildung zwar keinen neuen Menschen schaffen kann, aber eben immer auch Persönlichkeitsbildung ist. Je komplexer das Wissen wird, desto mehr kommen wir zu der Einsicht, dass es dabei um Halt und Haltung geht. Um Hoffnung, weil es „zu spät ist, um pessimistisch zu sein“. Die päpstliche Enzyklika „Laudato si“[7] zeigt auf, dass politisches Handeln auch davon lebt und Dynamik bekommt, dass wir ganz leibhaftig Schöpfung entdecken und wahrnehmen (z.B. in Waldpädagogik, Waldwirtschaft und Nachhaltigkeit) und so bewusst das Schöpfungslied singen. Mit diesem Lob der Schöpfung und des Schöpfers beginnt das Nachdenken über Transformation, sagte Klaus Heidel bei seiner Einleitung in Wittenberg.

 

  1. Eine neue Sprache finden – Theologie als Kompass in Umbruchphasen

Wenn Theologie heute hilfreich für Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Politik sein will, muss sie begreifen: Nachhaltigkeit ist kein randständiges Thema, sondern der Horizont, in dem die theologischen Topoi neu verhandelt werden müssen – von der Schöpfung bis zur Offenbarung. Dabei ist es gut, sich an vergessene Begriffe zu erinnern: Gericht und Erlösung, Endlichkeit und Abhängigkeit – aber auch: Freiheit, Entscheidung, Verantwortung, Menschwerdung. Die alten Geschichten und biblischen Erzählungen neu zu rahmen kann dabei hilfreich sein.

Wie kann es gelingen, das Vertrauenskapital der Kirche so zu stärken, dass sie als Vermittlerin akzeptiert wird? Offenbar geht es für Christen darum, eine neue Sprache zu finden: politisch deutlich, gesellschaftlich anschaulich und dabei in Kontakt zu den alten Bildern und Worten der biblischen Tradition. Christen müssen sich zeigen, aus dem Sicherheitsabstand heraus gehen, etwas riskieren. Kirche muss sich öffnen, unterschiedlichen Einsichten und Erfahrungen Raum geben, Widersprüche auf den Tisch bringen und einen Rahmen schaffen, in dem Erkenntnis möglich ist. Gemeinden, Netzwerke, Bildungseinrichtungen könnten ein „Zwischenraum“ sein – zwischen unterschiedlichen Interessengruppen, Wissenschaft und Zivilgesellschaft, zwischen Religiösen und Säkularen. Sie sollten zur Entfeindung beitragen, Fronten auflösen, Suchprozesse ermöglichen. Dabei geht es auch darum, eine gemeinsame Sprache zu finden mit denen, deren Vokabular und Grammatik nicht im Kontext kirchlichen Nachdenkens geformt ist. Eine besondere Herausforderung für Theologinnen und Theologen. Bärbel Warttenberg-Potter hat die Teilnehmenden der Frankfurter Tagung inspiriert, bei den Elementen und religiösen Symbolen anzusetzen, die durch Menschen in Gefahr gebracht werden und der Neuinterpretation als Teil der Schöpfung harren: bei Wasser, Atem, Erde, Flamme. Es geht um Erlösung für die ganze Schöpfung, um die Gegenwart einer heilenden und bewahrenden Kraft, die tief im Leben selbst liegt. Es geht darum, die Ehrfurcht vor dem Leben im Sinne Albert Schweitzers wieder zu entdecken, das Heilige und Sakrale neu zu bedenken. So wie das eucharistische Brot oder das Taufwasser: nach reformatorischer Überzeugung sind sie Hilfsmittel, durch die das Göttliche als real gegenwärtig erfahren werden kann.

Für die Kirchen, deren „heimlicher Lehrplan“ lange darin bestand, Ordnungen zu begründen und aufrecht zu erhalten, ist die Öffnung ins Ungewisse und Andere eine große Herausforderung. Zumal sie zurzeit vor allem in einer „Diskussion mit sich selbst“ festecken, wie Klaus Töpfer bei der Wittenberger Tagung anmerkte – und einmal mehr Zeit und Arbeitskraft in Prozesse der Reorganisation und Veränderung der Ordnungen investieren. Dabei könnten sie doch, wie der Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm dann feststellte, die ganze Breite und Vielfalt weltweiter ökumenischer Erfahrungen ins Spiel zu bringen. Auch das hat mit transformativer Bildung zu tun. Wesentlich ist eine wache Aufmerksamkeit auf die Veränderungsprozesse in Politik und Gesellschaft.

Die Reformation, die 2016/17 immer wieder thematisiert wurde[8], kann als Beispiel dafür dienen, wie in einem historischen Transformationsprozess eine Neuauslegung der theologischen Topoi gelingen kann – bis hin zu neuen Sprachschöpfungen. Und wie diese Neuauslegung wiederum kirchliche, aber auch gesellschaftliche und politische Veränderungsprozesse auslesen kann. Im Blick auf die aktuellen Transformationen geht es, wie Eilert Herms es ausdrückt, „um die Kommunikation der durch Christus erschlossenen Wahrheit über die Welt als Schöpfung Gottes. Denn Im Angesicht des Gekreuzigten wird der Richtungssinn der Schöpfung erkennbar – das Wissen über die Geschöpflichkeit des Menschen und seine Verbundenheit mit dem Schöpfer.“ Das ist der springende Punkt der biblischen Offenbarung: sie stützt sich, wie Paulus schreibt, auf unsere Selbsterkenntnis im Angesicht Christi. [9]Und erweitert so unseren Blick auf uns selbst und auf die Welt. Denn die Auferweckung des Gekreuzigten macht deutlich: Das Ende soll gut sein. Deshalb können wir der Endlichkeit ins Auge sehen – unserem eigenen und dem der Schöpfung – und umso bewusster Verantwortung für unsere Zeit übernehmen. Das Geheimnis ist, die eigene Zeitlichkeit ins Verhältnis zu setzen zur Zeit der politischen und ökologischen Prozesse und damit unsere Möglichkeiten und Grenzen bewusst wahrzunehmen.

 

  1. Wie geht es weiter? Fragen als Konsequenz und Startpunkt

Es geht darum zu begreifen, dass Transformationen ganz unabhängig von unserem eigenen Bemühen längst im Gang sind. In welchem Verhältnis die Arbeit der DDR-Umweltgruppen, der konziliare Prozess von 88/89 und die Friedensgebete der Gemeinden zum Mauerfall standen, werden wir wohl nie ganz begreifen. Klar ist nur: Es gab diesen größeren Zusammenhang, in dem beides eine Rolle spielte. Und es geht auch heute darum, dass die Kirchen sich mit ihrer je eigenen Verantwortung, Deutungskompetenz und mit Orientierungswissen in die aktuellen Veränderungsprozesse einbringen. Angesichts der Selbstwidersprüche und mancher Sprachlosigkeit müssen wir uns darüber klar sein, dass die Kirche nicht Wegbereiter, sondern nur Weggefährte der Transformation ist, nicht Avantgarde, sondern Begleiterin, die aber Wesentliche Schätze einzubringen hat. Vielleicht sogar etwas Manna auf dem Weg. Mit dieser Haltung kommt eine neue Leichtigkeit, etwas Expeditives ins Spiel – ganz anders als bei der Erwartung, Kirche müsse mit ihren meinungsmächtigen Stellungnahmen noch immer eine breite Wirkung entfalten, die heute fast zwangsläufig zur Überanstrengung und Enttäuschung der kirchlichen Akteure führen muss. Spätestens hier ist zu fragen, welche Rolle Spiritualität in diesen Prozessen spielen kann? Welche Traditionen, zum Beispiel aus den Orden, welche Texte, aber auch Bilder und Zeichen sind hilfreiche Ressourcen, dienen als Orientierung bei der Suche nach einem neuen Lebensstil? Was kann die Welt, was kann die Bewegung inspirieren?

Wie spielen überhaupt die unterschiedlichen Generationen und Akteure in der Kirche zusammen – von der Gemeinde oder der Hochschule bis hin zum Rat der EKD? Wäre ein Selbstverpflichtungsprozess, der Einzelne wie Organisationen einbezieht, ein hilfreiches und verbindendes Instrument? Wie kann es gelingen die Grenzen zwischen den sozialen und kulturellen Milieus zu überwinden in der Kirche, aber auch die fachliche „Versäulung“ zu überwinden – zum Beispiel die zwischen Wirtschaft und Arbeitswelt einerseits und Umweltarbeit andererseits? Und wie geht es ökumenisch weiter – zwischen evangelischen und katholischen Kirchen, aber auch im internationalen ökumenischen Dialog? Wie könnten Gemeinden in Afrika und in Europa vernetzen? Schließlich: Was kann geschehen, um andere Interessierte und Bündnispartner außerhalb der Kirche für gemeinsame Plattformen und Aktionen zu gewinnen?

Prozessgestaltung und Organisationsfragen, Selbstverständnis und Spiritualität haben immer auch theologische Aspekte. Theologie muss sich darüber klar werden, was in den Diskursen geschieht: Geht es darum, unterschiedliche Aneignungsgestalten der Wahrheit wahrzunehmen? Oder geht es ohnehin immer nur um eine Annäherung an das Unverfügbare? Wie schaffen wir die Zwischenräume inter-religiösen Nachdenkens über Gottes Schöpfung, Gerechtigkeit und Frieden – auch wenn die Mehrheit islamischer Theologen von einer einzigartigen Offenbarung ausgeht? Und wie bringen die Religionen ihre komplexe und zum Teil unterschiedliche Gesamtsicht in die öffentlichen Diskurse ein? Wenn denn die christliche Sozialethik Erfahrungen als Impulsgeber und Dolmetscher in der Öffentlichkeit hat – wie kann es gelingen, sie im Blick auf die Transformationsprozesse noch einmal neu biblisch-theologisch „aufzuladen“ und auch andere Gesprächspartner einzubeziehen? Die interkulturelle wie die interreligiöse Verständigung über diese Fragen stehen noch ganz am Anfang – zum Beispiel beim Nachdenken über das Weltgemeinwohl. Aber am Anfang zu stehen, ist produktiv. Genauso wie an der Grenze. Denn alles endet in Fragen. Und mit Fragen beginnt alles neu.

Cornelia Coenen-Marx, April 2017

 

 

 

[1] Vgl. Röm. 8, 19ff.

[2]Am Transformationskongress „Nachhaltig handeln – Wirtschaft neu gestalten- Demokratie stärken“, 8./9.6.2012 in Berlin, der im Vorfeld von „Rio“ stattfand, nahmen über 1000 Personen aus Kirchen, kirchlichen Verbänden, Gewerkschaften und Umweltverbänden mit hochrangigen Gästen aus Wissenschaft, Politik und internationalen Partnerschaften teil.

[3] Wolfgang Streeck, „Gekaufte Zeit, die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus“, Frankfurt 2013

[4] Anker steht hier für Ankunft/Entscheidung/Rückführung – also gerade nicht für das, was das Wort emotional repräsentiert, nämlich Halt nach unruhiger Reise.

[5] Vgl. „Wie ein Riss in einer hohen Mauer“, Wort des Rates der EKD, Hannover 2009

[6] Homo deus, Eine kurze Geschichte der Menschheit, 2015

[7]Enzyklika „Laudato SI“, Papst Franziskus, Mai 2015

[8] Vgl. dazu auch den Beschluss zu Reformation und Transformation der EKD-Synode 2012

[9] Vgl. 2. Kor. 4,6