Kiez, Quartier und Viertel- Gemeinwesendiakonie als Chance und Herausforderung

1. Das Beispiel Roseto

Roseto in Pensylvania wurde in den 60er Jahren berühmt. Das kleine Dorf, das von italienischen Auswanderer gegründet wurde, hatte eine besonders niedrige Sterberate bei den unter 65-jährigen –  30 – 35 Prozent unter dem Durchschnitt. John Bruhn, Mitglied in einem Forscherteam, berichtete, man habe dort keine Selbstmorde gefunden, keinen Alkoholismus, keine Magengeschwüre; die meisten Leute seien einfach an Altersschwäche gestorben. In den nächsten Jahren ging man verschiedenen Hypothesen nach: war es ein besonderes Olivenöl, das so gesund erhielt oder insgesamt eine gesündere Kost? Tatsächlich aber nahmen die Leute dort 41 Prozent Fett zu sich. Lag es an den Genen? Am Trinkwasser, der medizinischen Behandlung in der dortigen Klinik? Keine Hypothese hielt der Forschung stand. Erst in den 70er Jahren kam das Forscherteam zu einem ganz anderen, überraschenden Ergebnis. Damals, als in Rosetto der erste junge Mann am Herzinfarkt starb, hatte das Dorf seinen ursprünglichen, italienischen Charakter schon verloren; die jungen Leute zogen zur Arbeit raus, man ging nicht mehr regelmäßig zur Kirche oder in den Club, aß abends nicht zusammen auf der Piazza. Im Rückblick  zeigte sich: wer in eine solidarische Gemeinschaft eingebunden ist, lebt entspannt und vertrauensvoll. Und das lindert Stress.

Wir leben in einer individualistischen Gesellschaft. Zu den Trends die laut Time-Magazin unser Leben verändern gehört die „Versingelung“ der westlichen Gesellschaften: 28% aller US-Haushalte sind heute Single-Haushalte, verglichen mit 9% in den 50er Jahren – ein enormer Anstieg. In Schweden sind es übrigens 47 Prozent, in Großbritannien 34, in Japan 31 Prozent – aber in Kenia nach wie vor nur 15, in Indien sogar nur 3 Prozent. Der Soziologieprofessor Eric Klinenberg, kommt zu dem Ergebnis, dass Alleinleben der beste Weg ist, die modernen Werte einer individualistischen Gesellschaft zu leben: Freiheit, Selbstverwirklichung und Selbstkontrolle. Single zu sein, ist eine Lebensform. Von vielen frei gewählt oder in Übergangsphasen bewusst gestaltet. Auch viele Paare kennen Lebensphasen, in denen sie aus beruflichen Gründen über lange Zeit getrennt leben. Immerhin jedes dritte Paar in den ersten Berufsjahren ist betroffen- und für viele ist das der selbstverständliche Preis für berufliche Mobilität und Karriere. Die Eigenständigkeit, die wir uns erkämpft haben, geht eben auch mit Einsamkeit einher, darum wünschen wir uns zugleich, in einer verlässlichen Gemeinschaft zu leben- in Familien, Betrieben, Vereinen und Quartieren.

Gesunde Beziehungen sind der Schlüssel für ein gutes Leben und Sterben. In der Zivilgesellschaftsbewegung ist  zurzeit von Caring- Communities die Rede, von sorgenden Gemeinschaften. Die Alterskommission wie die Ehrenamtskommission der Bundesregierung befassen sich damit. Es geht um die Entwicklung von lebendigen und starken Nachbarschaften, um Budgets für Quartierspflege und Bündnisse für Familien. Denn die traditionellen Netze in Familien und Nachbarschaften scheinen zu reißen. Der jüngste Freiwilligensurvey der Bundesregierung zeigt: Waren es vor 10 Jahren noch 74 Prozent der Bevölkerung, die sagten, sie könnten sich in Notlagen auf Familie und Freunde verlassen, so sind es heute nur noch 64 Prozent .Die „ Moralökonomie verliert an Strahlkraft“ sagt der Vorsitzende der Alterskommission, Thomas Klie. Denn wer sich um andere kümmert, und das waren traditionell die Frauen, der hat weniger Zeit für Erwerbsarbeit, weniger Geld für Konsum- und wahrscheinlich auch weniger Geld in der Rente. Kein Wunder, dass viele Ältere Angst haben, ihren Kindern zur Last zu fallen, deren Leben zu stören. Derweil wächst die Spaltung zwischen denen, die sich in der Rushhour des Lebens vor lauter Selbstsorge überfordert fühlen und denen, die auf die Mitsorge anderer angewiesen sind.

Gott sei Dank gibt es auch Gegenbeispiele: ich denke an den wachsenden Einsatz Ehrenamtlicher für Tafeln oder neue Wohngemeinschaften für Demenzkranke. In Mössingen zum Beispiel hat eine Gruppe von Angehörigen eine Wohngemeinschaft für Wachkomapatienten gegründet – und Menschen, die eigentlich schon aufgegeben waren, fanden nach Jahren zu neuem Leben. Ihre Würde wird ernst genommen, Respekt auch vor der Schwäche spürbar. „Die Sorge für die Schwachen schützt die Starken selbst“, schreibt Romano Guardini. „Der Mensch, der es ablehnt, dem sinkenden Leben gut zu sein, versäumt eine wichtige Chance, zu verstehen, was Leben überhaupt ist“ und wie sehr wir Menschen miteinander solidarisch sein können.

 

2. Kirche findet Stadt

„ Kirche findet Stadt“ – so heißt ein Ökumenisches Projekt, das in den Jahren 2011 und 2012 vom Bundesministerium für Stadtentwicklung, Bauen und Verkehr und unter dem Titel „ Soziale Stadt“ gefördert wurde. Kirche findet Stadt, im Dorf, im Quartier, im Viertel. Kirche bleibt nicht im Verborgenen, sie ist kein Museum- sie lässt sich ein auf die Herausforderungen ihrer Nachbarn. Bundesweit aufgestellt, hat das Projekt „ Kirche findet Stadt“ Möglichkeiten der Zusammenarbeit ausgelotet. Es ging um die Kooperation von Kirchen und ihren Wohlfahrtsverbänden mit anderen Partnern im Stadtteil: mit Schulen und Wirtschaft, mit Sportverbänden und Initiativen des bürgerschaftlichen Engagements. Ziel war, die Kirche als zivilgesellschaftlichen Akteur in den Netzwerken der Stadtentwicklung zu verankern. Insgesamt 120 Projekte aus ganz Deutschland haben sich als Referenzstandorte gemeldet; 36 davon wurden ausgewählt. Leuchttürme einer Bewegung, die weit über dieses ökumenische Projekt hinausgeht. In der Evangelischen Kirche sprechen wir in diesem Zusammenhang von Gemeinwesendiakonie. Es geht darum, die Kirche wieder neu im Stadtteilbewusstsein zu verankern – die Türen zu öffnen und Räume anzubieten, Milieugrenzen zu überbrücken und Andockpunkte zu bieten für Hilfe und für Engagement.

So wie in Offenbach. In der Diakoniekirche werden kirchliche und diakonische Handlungsfelder neu aufeinander bezogen: das Familienzentrum, basierend auf der Tageseinrichtung, ist der Knotenpunkt im Netzwerk familienbezogener Dienste, das Beratungszentrum unterstützt die Einzelnen in ihren individuellen Notlagen und der diakonische Gemeindeaufbau zielt ganz auf Community Organising und interkulturelle Projekte. Denn die Diakoniekirche liegt im Mathildenviertel, wo Menschen aus 50 verschiedenen Nationen zu Hause sind. Eine wesentliche Aufgabe ist darum, Barrieren in Sprache und Kultur abzubauen und deutlich zu machen, in welcher Weise das Miteinander der Religionen Vertrauen schafft. Hier machen viele mit: AWO und Caritas, Schulen und interkultureller Arbeitskreis. Oder wie in Berlin Heilig-Kreuz: da ist die Kirche Diakoniezentrum geworden – mit einem geistlichen Raum in der Mitte, mit Cafes und Beratungsstellen und einem wunderbaren Kirchengarten. Ein Zentrum für Wohnungslose, für Engagierte in der  Migrationsarbeit, für Eltern im Stadtteil.

„Gemeinwesendiakonie“  steht für die Bewegung „vom Fall zum Feld“, wie Wolfgang Hinte das nennt: Für eine stärkere Orientierung diakonischer Angebote an sozialräumlichen Gegebenheiten, aber auch für eine vertiefte Zusammenarbeit von diakonischen Einrichtungen und Kirchengemeinden und schließlich für eine Öffnung kirchengemeindlicher und diakonischer Räume für andere zivilgesellschaftlich relevante Gruppen. Sie knüpft dabei an an Erfahrungen der Gemeinwesenarbeit, wie Kirche und Diakonie sie seit den 70er Jahren vor allem zusammen mit Wohnungsbaugesellschaften umgesetzt haben und heute noch umsetzen- in Bonn- Tannenbusch zum Beispiel oder auch in Kassel.. Gemeinwesendiakonie will  Nachbarschaften stärken und trägt damit zur Erneuerung der Subsidiarät bei. Wenn es gut geht, dann ist „Kirche mittendrin“ in Kiez, Quartier und Viertel und übernimmt Mitverantwortung für dessen Entwicklung.

 

3. Alles auf Anfang

Die soziale Struktur unserer Gesellschaft ist im Umbruch- viele spüren das, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollen. Dabei geht es um mehr als um die fiskalische Krise der sozialen Sicherungssysteme angesichts einer globalisierten Wirtschaft. Die alte Rollenaufteilung, nach der die erwerbstätigen Männer das Geld für diesen Sozialstaat erarbeiten, während Frauen sich in Familie, Nachbarschaft und Gemeinde unentgeltlich fürs Soziale engagieren, trägt nicht mehr. Und die traditionelle Ordnung des Sozialstaats in Deutschland, nach der vor allem die Verbänden und Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege, kostendeckend finanziert, dafür zuständig waren, soziales Handeln professionell zu gestalten, ist auch längst Geschichte. Und auch das alte Rezept, durch mehr Wirtschaftswachstum zu mehr Verteilung zu kommen, greift kaum noch- auch wenn wir im Blick auf die Arbeitslosigkeit und die Lage der jungen Generation im Süden gerade einen neuen europäischen Sozial- und Wachstumspakt geschlossen haben. Es steht zu befürchten, dass die Staatsschuldenkrise in vielen Ländern Europas die schleichende Sozialstaatskrise verschärfen wird. Und auch hierzulande, im wohl stabilsten Land Europas, gelingt es kaum, die drängendsten Fragen anzufassen, vor denen wir stehen: die Zukunft der Pflege, eine gerechte Entlohnung der Care-Berufe wie der Sorgeleistungen in Familien, eine Mindestsicherung im Alter, die ihren Namen verdient, Tageseinrichtungen und Ganztagsschulen mit durchgängiger pädagogischer Qualität und eine Reform der Kommunalfinanzen, die den wachsenden Aufgaben gerecht wird.

Von einem neuen Gesellschaftsvertrag ist in diesem Zusammenhang oft die Rede. Vor lauter Individualisierung und Spezialisierung, vor lauter Effizienzdenken und Effizienzsteigerung habe man den roten Faden verloren, sowohl individuell als gesellschaftlich, sagt Stefan Grünewald vom Institut Rheingold. Es fehle die Resonanz, die erst Sinn gebe, das gemeinsame Projekt, das Zukunft erschließe, Bindungskräfte gingen verloren-  und das wirke beängstigend. Was ist zu tun, wenn dieser Befund stimmt und was können wir als Kirche und Diakonie dazu beitragen? Ich denke, wir können aus unserer Geschichte lernen.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts suchte die Gründergeneration der neuzeitlichen Diakonie nach Antworten auf die Herausforderungen der ersten Globalisierungswelle: das wachsende Proletariat der Industriearbeiter in den Städten, Armut, prekäre Beschäftigungsverhältnisse und bildungsferne Familien waren auch damals ein großes Problem. Dazu kamen überforderte Familien und die Vernachlässigung von Kindern und Pflegebedürftigen. Wichern und die Fliedners, Amalie Sieveking und Bodelschwingh, Kolping reisten in andere Länder, um die Zusammenhänge zu verstehen und neue Initiativen zu entdecken – denn für sie stand außer Zweifel, dass das Elend, das sie sahen, eine Anfrage an ihr Christsein war.  Ja, dass Gott selbst ihnen in den Kindern, den Kranken und Gefangenen begegnete, so wie es im Gleichnis vom großen Weltgericht erzählt wird. So entstanden die Hospitalkirchen wie in Kaiserswerth, neue Wohnquartiere und Ausbildungsstätten wie in Hamburg-St. Georg, Kleinkinderschulen wie in Düsseldorf, Gefangenenfürsorgevereine wie in Berlin.

In Hamburg setzte sich Johann Hinrich Wichern für junge Leute aus Armutsfamilien ein, vermittelte Bildungschancen, gründete Sonntagsschulen, entwickelte eine Internatsausbildung für Handwerkgesellen und schuf eine Diakonenausbildung, damit die jungen Männer mit solchen Erfahrungen anderen zur Seite stehen konnten. Es ging um die Erfahrung, gebraucht zu werden, einen Platz in der Gesellschaft zu haben. Eine Erfahrung, nach der sich heute wieder viele Menschen sehnen- Berufsträger wie Hartz-IV-Empfänger, Frührentner wie  Jugendliche ohne Schulabschluss und die vielen, die nicht mehr mithalten können in der beschleunigten Arbeitswelt – die Mütter kleiner Kinder, Menschen mit Behinderung und psychisch Kranke. All die Abgehängten, die das Gefühl haben, auf sie käme es nicht mehr an.  Die modernen Arbeitssklaven, von der Globalisierung über die Kontinente gekarrt. Ja, tatsächlich gleichen die Herausforderungen der weltweiten Globalisierung denen des 19. Jahrhunderts und manche Probleme, die wir längst überwunden glaubten, kehren in neuem Gewand zurück.

 

4. Das offene Fenster

Was ist das Geheimnis der Stadtteilläden und Diakoniecafes, der Treffpunkte im Quartier? Als eine, die vor 30 Jahren so einen Gemeindeladen gegründet hat, würde ich es heute so zusammen fassen: In diesem Cafe kamen Probleme zur Sprache, die die Gemeinde lange nicht wahrgenommen hatte: Arbeitslose kamen und erzählten von ihrer aussichtslosen Situation – und manche engagierten sich später im Ladenteam. Überforderte und verzweifelte pflegende Angehörige trafen sich in einer Gruppe. Als zur Eröffnung dieses Stadtteiltreffpunkts einluden, stand auf der Einladung eine kleine Geschichte mit dem Titel: „ Ich traf nur Martin“. Für Etablierte mit einem großen persönlichen Netz das Selbstverständlichste der Welt – aber für Abgehängte eine Tür, die sich öffnet. Ein Fenster in eine andere Welt. Du setzt dich an einen Cafetisch und vielleicht setzt sich jemand zu Dir. Eine Ehrenamtliche- sie hört Dir zu. Und im Gespräch merkt Ihr: Du bist nicht allein mit Deiner Geschichte, Deiner Frage, Deinem Problem. Es geht anderen auch so. Vielleicht entsteht später eine Gruppe, eine Aktion.  Und in diesem Prozess des Zuhörens, Aussprechens und Gestaltens leuchten hinter den Einzelschicksalen gesellschaftliche Strukturen und Entwicklungen auf, entstehen Initiativen im Quartier.

Die 30 Jahre, in denen der Gemeindeladen besteht, spiegeln gesellschaftliche Veränderungen wie in einem Brennglas: da waren zunächst die Angebote für Arbeitslose, für pflegende Angehörige, die Gesprächskreise für Christen und Muslime zum wechselseitigen Verständnis der Religionen. Da waren die Mutterkind-Kurse, weil es noch keine Krippenplätze gab, und die Mittagsangebote für Schulkinder, weil eine Ganztagsschule fehlte. Heute spielt die Entwicklung einer altersgerechten Stadt eine große Rolle – in einem neuen Netzwerk mit Stadt und Wohlfahrtsverbänden wird gerade ein Stadtplan für Ältere erarbeitet.

Denn der demographische Wandel und die zunehmende Berufstätigkeit von Frauen zwingen dazu, neue Modelle wohnortnaher, integrierter Versorgung. Wir brauchen eine alten- und behindertengerechte Wohninfrastruktur, die auch für Familien hilfreich sein wird, und gute haushaltsnahen Dienstleistungen und Pflegedienste in den Quartieren. Denn die Zahl der Zahl der Hochaltrigen wie der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland wird weiter wachsen.- wir rechnen mit knapp 3 Millionen Leistungsempfängern in der Pflegeversicherung bis 2040.  Zwar  werden die meisten Pflegebedürftigen noch immer in ihren Familien gepflegt. Aber mehr als 40 % der 70 bis 85 Jahre alten Menschen in Einpersonenhaushalten. Und sie werden auf neue Kooperationen zwischen Pflegefachkräften, Angehörigen und Freiwilligen angewiesen sein. [1]

Die Entwicklung familien- und alternsgerechter Quartiere ist eine große Herausforderung für die Kommunen. Und das bei einer wachsenden Zahl von Bürgerinnen und Bürger, die von Transfereinkommen abhängig sind- weil die Pflegeversicherung nicht reicht, um den Heimaufenthalt zu zahlen oder weil das Arbeitseinkommen nicht reicht, um die Familie zu ernähren. Die wachsenden sozialen Unterschiede  zwischen Erwerbstätigen und Hilfebeziehern, zwischen Bildungsgewinner und Bildungsverlier und die Parallelgesellschaften zwischen unterschiedlichen ethnischen Gruppen, zwischen Migranten und Autochthonen sind inzwischen für jeden und jede erkennbar. Längst können wir auf Karten verfolgen, wie die soziale Segmentierung sich ausweitet. Und dabei bestimmen Schichtzugehörigkeit und Herkommen, ja- oft die Adresse-  den Bildungserfolg, die gesundheitliche Versorgung, den gesellschaftlichen Aufstieg, Gesundheit und Lebensdauer.

Wie Menschen aus Armut, Benachteiligung und Isolation herausfinden, ist deshalb eine der Schlüsselfragen für die Zukunft der Gesellschaft. Einer der entscheidenden Schlüssel sind die Quartiere. Schon Wichern hatte die Vision eines Stadtteils mit Schule und Krankenhaus, mit Bildungsangeboten und Treffpunkten. Und über lange Jahre haben wir versucht, mit Stadtentwicklung und öffentlich gefördertem Wohnungsbau für gemischte Quartiere zu sorgen. Heute geht es darum, dass Menschen nicht aus wirtschaftlichen Gründen aus ihren Wohnungen vertrieben werden, dass Mietpreise nicht unendlich wachsen, dass die Infrastruktur mit Ärzten und Einkaufszentren erhalten bleibt und dass die Stadtentwicklung mit Jugendhilfeplanung und Pflegeplanung sinnvoll abgestimmt wird.

Aber nicht nur Kommunen, Bildungseinrichtungen und Zivilgesellschaft sind gefragt, sondern auch Kirche und Diakonie. Christen und Kirchen wären besonders stark darin, kleine Netze im Stadtteil zu knüpfen, Heimat zu schaffen  und Benachteiligte einzubinden, konnte man vor einiger Zeit im britischen „Guardian“ lesen. Der Redakteur  hatte das Sozialkapital, das die Kirchen für die Gesellschaft bereitstellen, sogar umgerechnet in Pfund. Und er kam zu dem Schluss, dass diese Leistung in Deutschland anerkannt würde – mit der Kirchensteuer nämlich. Ob wir uns als Kirchen und Gemeinden darüber bewusst sind, dass die Kirchensteuer auch dazu dient – Netze im Stadtteil zu knüpfen und Menschen Heimat zu bieten?

 

5. Fähigkeiten stärken, Teilhabe ermöglichen

Die Philosophin Martha Nussbaum hat grundsätzlich darüber nachgedacht, was es bedeutet, Teilhabe zu ermöglichen. In ihrem Konzept der Gerechtigkeit rückt die Fähigkeiten jedes einzelnen in den Mittelpunkt. [2] Unser Selbstbewusstsein und unsere Würde verbinden sich mit der Erfahrung, etwas beitragen zu können. Für Martha Nussbaum gehört dazu die Fähigkeit, das eigene Denken, eine eigene Lebensperspektive zu entwickeln. Alle Menschen brauchen Angebote zur Bildung und Ausbildung, um sie zu entwickeln. Genauso ist die Fähigkeit, sich selbst zu versorgen, auf die eigene Gesundheit zu achten, für die eigene Wohnung zu sorgen. Es gehört zum Menschsein, Bindungen aufzubauen, zu Menschen und zu Dingen- zu lieben, zu trauern, Dankbarkeit und Zorn zu empfinden.  Auch das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe gehört zum Menschsein.- genauso wie die Bereitschaft, sich politisch einzubringen. Das alles brauchen wir, um Selbstachtung zu empfinden.

Die Idee der Inklusion, die von Martha Nussbaum mit entwickelt wurde, gilt inzwischen als internationale Leitidee in der Sozial- und Gesellschaftstheorie[3] und wird als die soziale Frage der Gegenwart betrachtet[4]. Dabei geht es nicht nur um einen individuellen Rechtsanspruch auf gesellschaftliche Teilhabe und aktive Mitgestaltung, es geht vielmehr um die Verpflichtung von Staaten und Kommunen, aber auch von Kirche und Diakonie, angemessene Vorkehrungen zu treffen, damit Menschen ihre Rechte auch wahrnehmen können. Wir sind herausgefordert, unsere Unterstützungsleistungen so zu erbringen, dass ein Leben in der Mitte der Gesellschaft möglich ist. Das kann nur gelingen, wenn die Leistungen personenbezogen und lebensweltlich ausgerichtet sind. Es geht darum, das Einsortieren von Menschen in „Schubladen“ und Gruppen zu beenden, das auch unsere Hilfesysteme kennzeichnet- mit unterschiedlichen Refinanzierungen und Strukturen je nachdem, ob einer behindert oder pflegebedürftig, alt oder krank ist.

Kein Mensch soll aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Diese Vision hat in den letzten Jahrzehnten viele Bürger und Bürgerinnen angetrieben: von der Psychiatrieenquete bis zur Ambulantisierung der Behindertenhilfe, von Cecily Sounders bis zu Klaus Dörner. Ihre Träume richteten sich zumeist auf das Zusammenleben im Quartier. Wer pflegebedürftig ist oder mit Behinderungen leben muss, wer unheilbar krank und sterbend ist, soll deswegen nicht ausgeschlossen sein. Keiner soll umziehen müssen oder im Heim untergebracht werden, nur weil er sich selbst nicht mehr versorgen kann; keiner soll isoliert sein, wenn er stirbt. Die Umsetzung dieses Traums in eine menschenrechtliche Norm, die UN-Behindertenrechtskonvention, zwingt uns jetzt dazu, ganz konkret darüber nachzudenken, wie unsere alltäglichen Lebensorte gestaltet sein müssen, damit das gelingt. Wie Wohnquartiere und Arbeitswelt, soziale Dienste und deren Finanzierung sich ändern müssen.

Die neuen sozialen Bewegungen sind Detektoren für neue sozialen Notlagen und Um-Brüche. Ältere Menschen nutzen die zugewonnen Jahre ihre Kompetenzen einzubringen, Angehörige Engagieren sich, in Stadtteilen entstehen Netzwerke, die um den Erhalt einer Fußgängerbrücke kämpfen wie neulich in Saarbrücken. Bürger, die lange marginalisiert waren werden zu Gestaltern des eigenen Lebens. Überall schließen sich Engagierte quer zu den alten, konfessionell oder weltanschaulich geprägten Verbändestrukturen zusammen. Der 3. Freiwilligensurvey der Bundesregierung, zeigt ganz deutlich: Es gibt einen  Wertewandel in der Gesellschaft-  weg von der Geselligkeitsorientierung hin zu Gemeinwohlorientierung.

 

 6. Glaube to go und Weggemeinschaft

Das jüngste Heft der Zeitschrift Stadtteilentwicklung trägt den Titel „Glauben“. Eine Fotoserie in diesem Heft zeigt Autobahnkirchen. Glaube to go, wie die Verfasser sagen. Ohne Gemeinde, ohne Netzwerke. Was muss geschehen, um Menschen im Getriebe der Stadt wieder Heimat und Anknüpfungspunkte zu geben? Glaube to stay so zu sagen?

 

 7. Engagement schätzen und unterstützen

Die Kirchen bieten in Gemeinden, Werken und Verbänden verlässliche und vielfältige Strukturen für freiwilliges Engagement. Thomas Rauschenbach schätzt, dass etwa jeder zweite Ehrenamtliche sich im Raum der Kirchen engagiert. In den Gemeinden, in Diakonie und Caritas, in der kirchlichen Jugend- oder Frauenarbeit, in Eine –Welt-Gruppen und Chören. Bemerkenswert ist, dass auch 20% der Engagierten, die sich anderswo einsetzen, eine starke und immerhin 31% eine gute Kirchenbindung haben.[i] Engagement, Zeit- und Geldspenden sind Ausdruck gelebten Christsein. Die Zahl der Engagierten in den Kirchen nimmt nicht ab; aber die Zahl der Menschen, die sich auch anderswo engagieren, nimmt zu. Es wird deshalb Zeit, das Verhältnis von Kirche und Zivilgesellschaft neu zu beschreiben und mit Wertschätzung auf die Ehrenamtlichen schauen, die sich auf dem Hintergrund ihres Glaubens in anderen Zusammenhängen organisieren. Die Elternvertreter in Kindergärten und Schulen, die Übungsleiterinnen im Sportverein, die Engagierten bei der Freiwilligen Feuerwehr, die Christen im Stadtrat. Sie sind Brückenbauer in die Gesellschaft. Und auch auf die zu schauen, die aus allen Haupt- und Ehrenamtlichen Netzen heraus fallen. Denn es gilt noch immer das Matthäus-Prinzip: Wer hat, dem wird gegeben. Wer soziale Netze hat und gut gesettelt ist, dem fällt es auch leicht einen Anknüpfungspunkt für sein Engagement zu finden und damit wieder neue Menschen kennen zu lernen. Wer aber einsam ist, der findet oft weder Zugang zu einem Job noch  zum Ehrenamt.

 

8. Gemeinde als Agentur für Gemeinschaft

Eine konkrete Utopie für das 21. Jahrhundert nennt Jan Hendricks sein Buch „ Gemeinde als Herberge“: Er sieht Wesen und Auftrag der Gemeinde in einer dreifachen Begegnung: mit Gott, miteinander und mit der Gesellschaft. Kirche hat Begegnungsräume fast in jedem Wohnquartier –oft sind es die letzten öffentlichen Orte. Sie zu öffnen, damit viele sich einbringen können, ist ein wesentlicher Schritt. Wo wir sie nicht mehr brauchen und nicht mehr tragen können, kann es richtig sein, einen Verein mit anderen zu gründen, wie es bei Kirche findet Stadt in Gelsenkirchen geschehen ist. Wir müssen nicht mehr immer Gastgeber sein- wir können, um im Bild zu bleiben, auch als Servicekräfte mithelfen, damit das Leben gelingt.“ Gemeinden sind Agenturen für Gemeinschaft, schreibt Rosemarie Henel, die als AWO-Mitarbeiterin mit einer Kirchengemeinde zusammenarbeitet, sie seien ein „Circle of support“.

Mit ihrer parochialen Struktur sind Kirchengemeinden eben  immer schon auf das Gemeinwesen bezogen. Pfarrerinnen und Pfarrer, Kirchenvorstände und Ehrenamtliche leben  im Stadtteil, sie kennen Schulen, Sportvereine, Arztpraxen, den Einzelhandel aus eigenem Erleben und können schnell und informell Anknüpfungspunkte finden. Manchmal müssen wir uns selbst in Erinnerung rufen, welches Sozialkapital Gemeinden mitbringen – an Kontakten, Netzwerken und Beziehungen. Gewiss-, die konfessionelle Identität grenzt auch ab und ab. Angesichts des Verlusts an Mitgliedern und Finanzen igeln sich manche Gemeinde ein- sie verlieren ihre offene Ausstrahlung, büßen Professionalität ein, lassen Außenstehende und Interessierte nicht mehr an Entscheidungen partizipieren. Aber dafür gibt es ja Gott sei Dank die Diakonie. Und wo aber Kirche und Diakonie zusammenarbeiten, kann Diakonie das wunderbar kompensieren: sie hat größere Freiheitsspielräume, professionelle Dienstleistungen, oft mehr Unternehmensgeist. Sie ist allerdings auf dem Hintergrund der Versäulung unseres Sozialversicherungssystems auch in hohem Maße Zielgruppen- und manchmal auch Defizitorientiert. Gemeinwesendiakonie bedeutet also für Kirchengemeinden; die Parochie als Sozialraum neu zu entdecken- und für die Diakonie, quartiersbezogen zu arbeiten. Das Gelingen der Projekte hängt davon ab, dass wir beides zusammen bringen – Lebensweltorientierung und Professionalität, Sozialraum und Dienstleistung, aber auch: Orientierung an denen, die in die Gemeinde kommen und denen, die das besondere Engagement der Kirche brauchen. Familienzentren und Mehrgenerationenhäusern leben von einem neuen Mix aus Professionellen und Freiwilligen. So entstehen  neue Netze, die Familien und Dienste verbinden und Generationen überschreiten und darüber hinaus Anknüpfungspunkte für freiwilliges Engagement bieten.

 

9. Wirtschaft und Kommune

 Stadtteilprojekte leben heute aber auch vom Sponsoring aus der Wirtschaft. Manche Firmen stellen aber auch Freiwillige zur Verfügung – zum Beispiel für ein Freizeitprojekt in der Jugend- oder Altenhilfe oder beim Bau eines Spielplatzes. Sie sponsern Mittagstische oder Hausaufgabenhilfen oder organisieren Mentorenprojekte für junge Auszubildende. Es gab über viele Jahre eine Distanz zwischen Kirche und Wirtschaft, und auch der traditionell gute Kontakt zu den Vereinen ist verblasst. Der selbstverständliche Platz bei Firmenweihnachtsfeiern und Meisterlossprechungen ging verloren und damit auch die Vernetzung zu vielen Berufsgruppen, Selbständigen und Unternehmen im Stadtteil.

Wie beteiligen sich Gemeinde an Stadtplanungsprozessen oder an Initiativen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, bei altersgerechten Städten oder  Bürgerkommunen? Es fällt auf, dass auch das Verhältnis zur Kommune lange nicht bearbeitet wurde- die Kooperation mit Kommunalpolitik, Sozial- und Jugendhilfeausschüssen ist oft an andere Ebenen oder die Wohlfahrtspflege delegiert. Angesichts des Ausblutens von Kommunen und des Verlustes an Gemeingütern ist Kirche aber besonders gefragt. Dabei geht es  darum,  öffentliche Plätze zu erhalten, an denen junge Leute sich treffen können. Es geht  darum, die Infrastruktur ganz bewusst aus der Perspektive der Betroffenen anzuschauen und neue Stadtlandschaften zu gestalten. In den altengerechten Kommunen zum Beispiel schließen sich Ärzte und Pflegedienste, Altenzentren und Sportvereine, Bildungseinrichtungen und Tanzschulen zusammen- und nicht immer sind die Kirchengemeinden beteiligt. Wenn wir wollen, dass die Kirche im Dorf bleibt, müssen wir neu entdecken, was wir zu geben haben:  Orte der Stille,  Orte der Erinnerung und der Begegnung, Chöre und Musikgruppen, Gemeindebüchereien und Treffpunkte, für die man keinen Eintritt zahlt und viele Anknüpfungspunkte für freiwilliges Engagement.

 

10. Kirchliche und andere Orte

Kirchengemeinden können wieder zu Caring Communities werden. Dazu muss die Kirche sich neu entdecken: als Plattform für Teilhabeprozesse, als Lebens-mittelpunkt, als Ermöglicherin. als Herberge auf dem Weg und als Weggemeinschaft mit denen, die unterwegs sind. Gemeinde- und Diakonieläden, Gemeindehäuser, die zu Stadtteilzentren werden machen das sichtbar. Community Organising zeigt, wie es geht: Zuhören und Raum für Selbstorganisation geben – tatsächlichen und ideellen Raum- Ehrenamtliche fördern, Projekte professionell unterstützen und auch Mittel zur Verfügung stellen. Denn eines der größten Probleme der Quartiersbewegung ist, dass sie aus Projektmitteln finanziert ist, die häufig nur sehr begrenzte Zeit fließen.

Dazu muss nicht nur einladen, sondern auch dahin  gehen, wo die Menschen auch sonst sind. In die Kneipen und  Einkaufszentren, in Sporthallen  oder ins Altenzentrum, Konfirmandenarbeit in der Schule, Arbeitsgruppen im Rathaus, Elternabende beim Griechen… Manche Gemeinde hat sich mit diesem Wandern durch die säkularen Orte den Stadtteil neu erschlossen. Dabei werden vielleicht auch die Plätze neu sprechen, in die die Geschichte einer Gemeinde eingeschrieben ist: der Platz, wo die alte Synagoge stand, das Haus, wo die jüdische Familie wohnte, die stillgelegte Fabrik, die Friedenseiche mit dem Gedenkstein, die Fußgängerbrücke, die die Stadtteile verbindet und nun abgerissen werden soll. In Saarbrücken sammelte sich um eine solche Brücke und die Initiative zu ihrem Erhalt ein neues Nachbarschaftsprojekt. Wo Kirche in solchen Initiativen beteiligt ist, wo sie Mitverantwortung für den Ort übernimmt, da ist sie als Wegbegleiterin gefragt.

In unserer mobilen Gesellschaft werden die Institutionen brüchig und die Sehnsucht nach Heimat wächst. In dieser Situation geht es darum, den Alltag im Stadtteil zu teilen, gesellschaftliche Verantwortung wahrzunehmen, Brücken zu bauen. Weggefährte zu sein. In den 12 Kriterien zur Gemeinwesendiakonie heißt es: „Je nach Situation, nach Ressourcen und Begabungen, nach Kräften und gesellschaftlichen Möglichkeiten können Kirche und Diakonie verschiedene Rollen einnehmen. Um es mit dem Bild einer Filmproduktion zu sagen: Sie können Produzent, Regisseur, Haupt- oder Nebendarsteller, manchmal vielleicht auch nur Komparse sein. Wichtig ist, dass sie in ihrer Motivation und ihrem Profil erkennbar bleiben“ Was das angeht, können wir vielleicht von den Gemeinden im Osten Deutschlands lernen. Kirchbauvereine zum Beispiel werden dort auch von denen getragen, die nicht Mitglieder sind – einfach weil sie wollen, dass die Kirche im Dorf bleibt. Denn auch, wenn Geld und Macht der Kirche schwinden: die Suche nach Spiritualität und nach Gemeinschaft hat nicht aufgehört. Ja, es geht darum, dass die Kirche im Dorf bleibt-  und dass wir bei den Menschen bleiben.

 

 

Cornelia Coenen-Marx, 18.3.15 Neumünster

[1] Beispiele dafür hat das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD i2007 n der Dokumentation des Projekts „ Das Ethos fürsorglicher Pflege“ dargestellt
[2] Martha C. Nussbaum: „ Die Grenzen der Gerechtigkeit,
[3] Stichweh 2005, 179: „eine Leitunterscheidung der Gesellschaftstheorie“;  Mayrhofer 2009, 84 spricht in Bezugnahme auf Luhmann von der „Funktion eines Supercodes des Gesellschaftsystems“ und Luhmann von einer „Primärdifferenzierung der  Gesellschaft“ (ebd. zitiert). Antonis 2008 spricht von „Metacode“ und Luhmann 1997, 632 von Meta-Differenz.
[4] So Kronauer 2010b, 24 in seinem Beitrag: „Inklusion – Exklusion: Eine historische und begriffliche Annäherung an die soziale Frage der Gegenwart“. Bude 2008, 65 spricht davon, dass das Paradigma der Ausbeutung durch das der Ausgrenzung ersetzt wurde.