Selbst-Für-Sorge

Pflege und Palliative-Care in Corona-Zeiten. Bremen, „Leben und Tod“ 2020

1. Masken und Heldinnen

„Bitte ziehen Sie zuerst die Atemmaske zu sich herunter und helfen Sie dann Kindern, Schwächeren, Ihren Nachbarn“, erklären die Flugbegleiterinnen, bevor wir abheben. Lange habe ich das hingenommen, ohne viel darüber nachzudenken. Bis kürzlich eine blinde Frau auf der Zweiersitzbank gegenüber saß und die Stewardess deren Nachbarin coachte, um der Blinden im Zweifelsfall behilflich zu sein. Dass wir für uns selbst sorgen, ist tatsächlich eine Voraussetzung, um gut für andere zu sorgen. Wer im OP arbeitet, weiß das. Keiner, der ohne Mundschutz und Kittel hineingeht, keine, die sich nicht vorher desinfiziert.

Umso erschreckender die Situation, die wir gerade in manchen Kliniken und vielen Pflegediensten erleben. Fehlende Masken, Kittel, Tests und Hygienemaßnahmen sorgen für Verunsicherung und Angst. Manche Pflegeeinrichtungen wurden zu Hotspots. Und Mitarbeitende, die täglich dort zum Dienst gehen, werden in ihrer Nachbarschaft kritisch beobachtet. Für die einen sind sie Alltagshelden, für die anderen unerwünschte Personen. So wohltuend und anerkennend das nachmittägliche Balkonklatschen, so beunruhigend ist doch der neue Heldinnenstatus. „ Wohl dem Land, das keine Helden braucht“, hat Bert Brecht geschrieben.

Eine der großen Heldinnen in der Pflege ist Florence Nightingale, deren 200. Geburtstag sich am 12. Mai zum 200.Mal jährt. Die WHO hatte deshalb lange vor der Corona-Krise ein „Jahr der Pflege“ ausgerufen. Viele erinnern sich an Florence Nightingale als die „Lady mit der Lampe“, die nachts an den Betten der verwundeten und sterbenden Soldaten im Lazarett von Scutari saß und sich Briefe diktieren ließ an die Angehörigen in England. An Frauen und Mütter, Geschwister und Kameraden. Als sie aus Scutari zurückkehrte, war sie für das Leben gezeichnet durch eine chronische Brucellose-Infektion, dem so genannten Krimfieber, mit der sie sich 1855  angesteckt hatte. Die Umstände, unter denen sie die Lazarettpflege organisierte, waren für unsere heutigen Hygiene-Vorstellung unbeschreiblich. Im Krimkrieg sind siebenmal mehr Soldaten an Krankheiten gestorben als in Verwundungen. Gerade deswegen war Florence Nightingale nicht einfach eine Heldin, die sich selbst ganz hingegeben und Übermenschliches geleistet hat. Sie war eine kluge Managerin und politische Aktionistin, die sich mit den Mächtigen ihrer Zeit zu verbünden wusste, um ihre Ziele zu erreichen. Ihrem Einfluss auf die Gesundheitspolitik und insbesondere auf die Entwicklung einer professionellen Pflege war es zu verdanken, dass die Sterblichkeitsrate in der britischen Armee von 17,5 Prozent 1857 auf 2,4 Prozent 2011 sank. Schon in Scurati  sorgte dafür, dass die vorhandenen Vorräte zentralisiert und registriert wurden und dass auch und gerade für ihre Mitarbeiterinnen gesorgt war- medizinisch und pflegerisch, aber auch mental.

Auch Theodor Fliedner, der Gründer des Kaiserswerther Diakonissenhauses, dessen Arbeit Florence inspirierte und bei dem sie ein Vierteljahr lang lernte, hatte klare Kriterien für gute Arbeit. Dabei ging es um Qualität und Ethik der Pflege, es ging aber auch um die Gesundheit der Schwestern, darum, dass sie Urlaub und Zeit genug zur Erholung hatten. Was für Patientinnen und Patienten wichtig ist, das brauchen Mitarbeitende genauso: Zeit für Erholung, tragfähige Netze, inspirierende Begegnungen, den Austausch untereinander, und Orte, an denen man sich gern aufhält. Wir alle brauchen aber auch eine Aufgabe, die uns fordert und das Gefühl, unser Leben gestalten zu können. Ein Lehrbuch der Thaimassage, das ich vor Jahren aus Bangkok mitgebracht habe, zeigt die Gesten und Haltungen der Vorbereitung: Reinigungsgesten, Gebetsgesten. Ich denke dabei an die regelmäßigen Gebetszeiten in den Diakonissenhäusern und Klöstern, die ganz selbstverständlich die Arbeit unterbrachen. Gelegenheiten, aufzutanken und sich neu auszurichten.

Wer auf diese Weise bei sich ist, wird sich auch wieder selbst vergessen können. Wird entscheiden, wann es Zeit für Hingabe ist. Und wann es nötig ist, für sich selbst zu sorgen. Bei sich selbst zu bleiben.

2. Druck und Stille

Es ist hundertfünfzig Jahre her, dass der Elisabethorden in München mit seinen Geldgebern darüber stritt, ob die Gebetszeiten und die gemeinsamen Mahlzeiten zur Arbeit gehören oder nicht. Heute scheint das entschieden. Pflegearbeit hat effektiv zu sein, ist auf Ergebnisse auszurichten- und steht unter dauerndem Zeit- und Kostendruck. Wo, wie im Klinikalltag, Fallpauschalen Kosten und Zeit strukturieren, ist das besonders spürbar. Und wo die Einnahmen, wie in den Pflegeeinrichtungen, kaum hinreichen, weil es „nur noch“ um Versorgung geht, gab es in den letzten Wochen kaum Lobby und Einkaufsmacht für den Schutz von Bewohnern und Mitarbeitenden.

Während die einen die Corona-Krise als starke Entschleunigung erleben, haben Pflegende mehr noch als sonst das Gefühl, sich in den täglichen Zerreißproben selbst zu verlieren. Viele funktionieren, ohne sich selbst zu spüren. Der Philosoph Hartmut Rosa hat in diesem  Zusammenhang von Resonanzverlust gesprochen. Es sind wohl die demenzkranken Pflegebedürftigen, die diesen Resonanzverlust gerade besonders spüren und uns widerspiegeln: Nicht nur die Besuche von Angehörigen und Ehrenamtlichen fehlen, auch das Gemeinschaftsleben geht in vielen Einrichtungen verloren. Der Rhythmus der Häuser dreht sich dann nicht mehr um die Bedürfnisse der Bewohner und Bewohnerinnen, sondern um den Schutz vor Corona  – und trotzdem gelingt es am Ende oft nicht, die besonders Vulnerablen zu schützen und die Sterbenden zu begleiten. Es scheint, als sei vieles von dem vergessen, was uns über Jahre getragen hat: Dass auch Schwerkranke und Sterbende das Recht auf Selbstbestimmung haben. Und dass ein Sterben in Würde wichtiger sein kann als Hochleistungsmedizin, Intensivbetten und Beatmungsgeräte.

Mitarbeitende, Ehrenamtliche, Angehörige haben das Gefühl, die Menschen nicht schützen können, die ihnen am Herzen liegen. Das macht sie selbst atemlos und schutzlos. Marco von Münchhausen („Wo die Seele auftankt“ 2004) spricht davon, dass wir in diesen Augenblicken ein inneres Vakuum empfinden. Wir spüren die tiefe Sehnsucht nach wirklicher Begegnung. Wir brauchen den Austausch mit anderen, um uns lebendig zu fühlen. Was gegen diese Leere hilft, hat aber auch mit unseren leiblichen und sozialen Rhythmen zu tun: Spazieren gehen statt Auto fahren, selbst kochen. Es ist kein Zufall, dass gerade jetzt viele Brot backen, den Garten gestalten, auf dem Balkon musizieren oder einen online-Kurs in Yoga buchen.

Mir hilft dabei eine Erfahrung von Theresa von Avila:  Sie spricht von der inneren Burg. Oder, wie es manche  Therapeuten sagen, von der inneren Kapelle. Es tut gut, in Stille und Meditation, irgendwo im Grünen oder auf einer Yogamatte, den Ort aufzusuchen, an dem meine Seele zur Ruhe kommt. Dieser Raum ist immer da – wir tragen ihn in uns. Meiner ist eine Bergwiese. Vielfältig bunt, mit dem Summen von Vögeln und Grillen. Am Rand steht eine alte Holzbank auf der ich liege und lese. Ein Steinbrunnen mit Bergwasser plätschert. Ich liege da und lese, mehr noch – ich schaue in den Himmel. Nichts fehlt mir. Der Himmel sorgt für mich. Wie für die Spatzen und den Klatschmohn, hat Jesus einmal gesagt. Ein wunderbarer Gedanke. Ich fühle mich leicht. Für einen Augenblick sind Innen und Außen eins. Ich atme tief und tanke auf.

3. Leib und Seele

„Tu Deinem Leib Gutes, damit Deine Seele Lust hat, darin zu wohnen.“ Theresa von Avila, die spanische Mystikerin aus dem 16. Jahrhundert, verstand den Leib als Tempel der Seele. Gebaut aus dem gleichen Stoff wie die Welt, in der wir leben. Aus Erde gemacht, wie die Bibel erzählt – und lebendig, weil der Atem Gottes auch in uns atmet und durch unserer Körper fließt. Der mittelalterliche Theologe Thomas von Aquin spricht von der verleiblichten Seele. Welche Rolle unser Leib spielt, wird uns gerade in der Corona-Krise neu bewusst. Ein winziger Virus kann unseren Körper, unsere Seele, unser gesamtes Sozialleben auf den Kopf stellen. Gut, dass wir die Möglichkeit haben, Besprechungen digital zu gestalten. Tatsächlich hatte aber die Digitalisierung unsere Gesellschaft schon vorher verändert:  Elisabeth von Thaddens Buch  „ Die berührungslose Gesellschaft“ erzählt davon. Von mobilen Familien, langen Wegen, Zeitdruck auch in Zeiten von Tod und Sterben. Von gehetzten Mitarbeitenden in Kliniken, die kaum Beziehungen zu Patientinnen aufbauen können. Hätte es die Hospizbewegung nicht gegeben, die  vielen engagierten Ehrenamtlichen, in der Pflege wäre wenig Zeit geblieben für Berührungen. Stattdessen nahmen die Dokumentationsaufgaben mehr und mehr zu. Digitale Informationen können Teambesprechungen nicht ersetzen. Worte aus der Distanz kein Handhalten.

Dabei wissen wir: Der Körper antwortet auf Berührung wie auf ein Gespräch. Erfahrungen verleiblichen sich – wir sprechen heute von Embodiment. Wer einen anderen berührt, rührt damit an Erfahrungen, die sich tief in den Körper eingeprägt haben. Mein Gang, meine Haltung, meine Verletzungen und Schmerzen erzählen von meiner Lebensgeschichte: Ich bin mein Leib. Wer mit einer Behinderung lebt, weiß, in welchem Maße dieser Leib auch die soziale Biographie, die Beziehungen und Berufswege bestimmen kann. Der Körper ist aber auch ein Verbündeter, auch und gerade dann, wenn er Macken hat, uns eine Krankheit schickt, wenn wir sie überhaupt nicht brauchen können.Franziskus von Assisi spricht vom Leib als dem Bruder Esel. Damit erinnert er an die alte Geschichte von Bileam (4.Mose 22, 21ff), dem biblischen Propheten, der mit seinem Esel unterwegs ist. Plötzlich bleibt der Esel stehen. Bileam gibt ihm einen Klaps, er brüllt den Esel an, schließlich prügelt er ihn, aber der Esel steht – alle Hufe fest am Boden. Denn im Unterschied zu Bileam sieht er den Engel, der ihnen den Weg versperrt. Ein Warnsignal – die beiden sind auf Abwegen. Bileams Esel ist nicht einfach nur störrisch, er nimmt mehr wahr als der Prophet selbst. So, sagt Franz von Assisi, sei es mit unserem Leib, dem Bruder Esel. Der sei oft klüger als unser Kopf mit all seinen Plänen. Er sieht die Grenzen, die Gefahren auf unserem Weg. Und sendet Warnsignale.  Wer solche Signale nicht ernst nimmt, verliert das Gefühl für sich selbst – eine Grundbedingung, sich in andere einfühlen zu können. Der Psychologe David Richo spricht von einfühlsamer Präsens. Dazu gehören Aufmerksamkeit, Annahme, Wertschätzung, Zuneigung und Zulassen. Diese Qualitäten sind notwendig, um Mitgefühl zu entwickeln – mit anderen und auch mit sich selbst. Selbstsorge beginnt mit Selbstmitgefühl.

„Ich fürchte, dass Du, eingekeilt in Deine zahlreichen Beschäftigungen, keinen Ausweg mehr siehst und deshalb Deine Stirn verhärtest; dass Du Dich nach und nach des Gespürs für einen durchaus richtigen und heilsamen Schmerz entledigst. Es ist viel klüger, Du entziehst Dich von Zeit zu Zeit Deinen Beschäftigungen, als dass sie Dich ziehen und Dich nach und nach an einen Punkt führen, an dem du nicht landen willst. Du fragst an welchen Punkt? An den Punkt, wo das Herz anfängt, hart zu werden. Frage nicht weiter, was damit gemeint sei: wenn Du jetzt nicht erschrickst, ist Dein Herz schon so weit“, heißt es in einem Brief von Bernhard von Clairvaux. Nicht an irgendwen, sondern an einen Papst, Papst Eugen III (Anselm Grün 2002). Ein hartes Herz zeigt sich nicht nur da, wo wir kein Erbarmen mehr mit anderen haben. Es gibt auch Umbarmherzigkeit gegen sich selbst. Ja, es gibt Heldinnen mit hartem Herzen. Die meisten Pflegenden verlassen den Beruf, bevor es soweit kommt.

Inzwischen haben wir eine Reihe neuer Möglichkeiten, uns Freiräume zu schaffen. Teilzeitstellen, Jahresarbeitszeitkonten, ein Sabbatjahr. Dazu brauchen wir aber auch die Bereitschaft, Arbeit loszulassen und andere ans Ruder zu lassen. Das lässt sich im Alltag einüben- mit regelmäßigen Pausen, Momenten des Innehaltens, ausreichend Schlaf. Es geht darum, Neinsagen zu lernen und Grenzen zu setzen. Das gelingt nur, wenn wir uns selbst, unseren Körper und unsere Gesundheit respektieren. Wenn wir uns selbst wertschätzen, so wie wir andere wertschätzen. Mitgefühl mit uns haben wie wir es mit denen haben, für die wir sorgen. Eben uns selbst wie unsere Nächsten lieben.

Kann es sein, dass Pflegende immer wieder in Gefahr sind, vor lauter Fürsorge die Selbstsorge zu vergessen? Ich fürchte, die kirchliche Pflegegeschichte trägt hier Mitverantwortung. Gottesliebe und Nächstenliebe – darum ging es. Um Gemeinschaft und Fürsorge. Selbstliebe kam dabei nicht vor – weil die Schwestern darauf vertrauten, dass ihre Liebe und Hingabe nicht unbeantwortet blieb. Dass sie Dankbarkeit erfahren würden und Resonanz. Aber der Beziehungsaspekt ist schon lange zurückgetreten hinter der Effektivität professioneller Arbeit- und schon im Lauf des vorigen Jahrhunderts haben Pflichtbewusstsein und Disziplin dem Funktionieren den Boden bereitet. Wer Schwäche zeigte, aus der Reihe tanzte, nicht funktionierte, verlor schnell seinen Platz.

Dass Fürsorge ohne Selbstsorge nicht nachhaltig ist, ist uns erst in den letzten Jahrzehnten bewusst geworden. Dazu brauchte es Kritiker wie Wolfgang Schmidtbauer mit seinen Untersuchungen über die „Hilfslosen Helfer“,  aber auch die wachsenden Zahlen von Krankmeldungen und  Burnout und die Berufsflucht aus der Pflege wegen Zeitdruck, fehlenden Anerkennung und niedrigen Gehältern. Es wäre zu hoffen, dass die gegenwärtigen Erfahrungen daran etwas ändern: Dass es nicht bei Bonuszahlungen in der  Corona-Krise bleibt und dass auf Dauer kein Heldentum nötig ist. Dass auch und gerade  Pflegenden zugestanden wird, gut für sich selbst zu sorgen. Dass Fürsorge über dem Managen nicht verloren geht.

4. Selbstsorge und Zeit

„Die Arbeit ist für viele Menschen der Ort, an dem sie sich selbst verwirklichen möchten – und zugleich der Ort, an dem die Auswirkungen von Beschleunigung, Rationalisierung und Globalisierung großen Druck ausüben. Die Anpassung an diese Bedingungen fordert Reflexion und Verantwortung. Zum einen müssen wir unseren Referenzwert, die Orientierungskoordinaten für unser Leben ständig überprüfen, zum anderen müssen wir Aufmerksamkeit für die Gefahr der Erschöpfung entwickeln“ (Unger und Kleinschmidt 2006). Entspricht meine Arbeit noch meinen persönlichen Werten und Zielen? Achte ich gerade genug auf mich selbst, meine Rhythmen und Körpersignale? Wie verantwortlich und wertschätzend bin ich mir selbst und mir wichtigen anderen Menschen gegenüber?“ Unger und Kleinschmidt, die sich damit beschäftigt haben, was gute Arbeit ausmacht, empfehlen, sich regelmäßig Auszeiten zu nehmen, um sich solche Fragen zu stellen. Es geht um eine furchtlose Inventur, wie wir sie aus der Suchtkrankenhilfe kennen; ein Coaching oder eine Supervision können dabei hilfreich sein. In der Hospizbewegung sind Supervisionstage selbstverständlich – es wird höchste Zeit, dass auch Pflegekräfte regelmäßig diese Möglichkeit bekommen.

Pflege ist immer auch Beziehungsarbeit. Sie kann nur gelingen, wenn Sie sich mit ihrer Person einlassen können, Ihre Sensibilität und Professionalität, Ihre Menschlichkeit und Fachlichkeit, die eigenen Grenzen und Widersprüche einbringen in ihren Dienst. Mit anderen Worten:  Pflege und hospizliche Arbeit sind nicht einfach Dienstleistung, sondern immer Koproduktion. Dienstleistung wird nach Zeit berechnet. Und weil Zeit in den sozialen Diensten das teuerste Gut ist – wird, wo immer möglich, an Zeit gespart.

Der Philosoph und Politikwissenschaftler Matthew Crawford, der mit den widersprüchlichen Anforderungen in dem Thinktank, in dem er arbeitete, nicht mehr zurecht kam, kündigte und eröffnete eine Motorradwerkstatt. Aus seiner Sicht ist es entscheidend, dass Arbeit uns in einer Wertegemeinschaft verankert. Was ich tue, sagt er, muss Teil eines umfassenderen Bedeutungskreises sein – es soll dem Leben dienen. Ich arbeite nur mit Menschen, denen es genauso geht. Dieses Bewusstsein, das gar nicht ausgesprochen werden muss, konstituiert unser Team. Wir stehen in einer Art „ tätigem Gespräch“ miteinander – und durch dieses Gespräch kann die Arbeit unser Leben zu einem in sich schlüssigen Ganzen machen. Matthew Crawford musste kündigen, bevor er diese Teamerfahrung machte. „Der moderne Individualismus steht nicht nur für einen persönlichen Impuls, sondern auch für einen sozialen Mangel“ (Richard Sennet 2009). „Die moderne Gesellschaft hat die durch Rituale hergestellten Bindungen geschwächt.“ Rituale haben „Zauberkraft“: sie können eine Gemeinschaft in Umbrüchen stärken, sie können eine schwierige Situation in einen neuen Rahmen stellen und alle Beteiligten wieder an den gemeinsamen Werten auszurichten. Rituale können in wenigen Minuten entschleunigen und erden. Fast immer haben sie mit sinnlichen Erfahrungen zu tun: mit einem Klang oder Duft, einer Berührung, einer Geste. Was können es heute für Rituale sein, die uns stärken in Zeiten von Corona?  Die gemeinsame Musik abends auf dem Balkon ist schon eines davon. Und die liebevoll genähten Masken gehören auch dazu.

5. Berufung und die Ethik der Sorge

Eine neue Ethik der Sorge ist also mehr als notwendig. Mit dem Begriff „Sorge“ – einem Versuch, das englische Care zu übersetzen, problematisiert die feministische Theorie die Dominanz einer ökonomisierten Sichtweise im Sozial- und Gesundheitswesen, die den Menschen zum bloßen Kunden und Empfänger von Dienstleistungen macht. „Sorge“ steht für alle Beziehungs- und Zuwendungsarbeit privater wie professioneller Natur, für das grundlegende, umfassende Für-einander-da sein, wie wir es in den Caring Communities erleben.

Für Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen geht es zentral um Zeitgestaltung auf der Station, im Umgang mit Patientinnen, Bewohnern und Angehörigen, aber auch mit Teamkollegen. Es geht um Pausen, Teambesprechungen und um Fehlerfreundlichkeit – also um eine Kultur, in der keiner wie ein Roboter funktionieren muss. Inzwischen kann man im Netz bereits T-Shirts für die Pflege bestellen- mit dem Aufdruck „ Ich bin kein Roboter“. Wenn diakonischer Anspruch und gelebte Wirklichkeit in einen eklatanten Widerspruch geraten, dann wächst die Burnout-Gefährdung, steigen die Fehltage. Dann wird es Zeit, wieder neu zu klären, was wir mit unserer Arbeit erreichen, wofür wir uns einsetzen wollen, was uns heilig ist. Wir schließen ja nicht nur Verträge mit unserem Arbeitgeber, sondern in gewisser Weise auch mit uns selber, wenn wir einen Beruf wählen, einen Job beginnen.

Wohl darum ist in den letzten Jahren das Thema Berufung wieder wichtiger geworden. In einer Welt, in der wir Jobs und Positionen, Wohnorte, Familien und Freundeskreise oft mehrfach im Leben wechseln, fragen sich viele, was der Sinn ihres Lebens ist, was sie an Unverwechselbarem einzubringen haben und wofür sie gebraucht werden. Es geht darum, etwas zu finden, was unseren Einsatz und unsere Hingabe lohnt. Das erinnert mich noch einmal an Florence Nightingale. Zu ihrer Zeit galt Pflege als prekärer Job für die Armen. Ohne Ausbildung, ohne Anerkennung. Sie war es, die dafür gesorgt hat, dass sich das änderte. Mit Hingabe und mit Professionalität. Seit ihrer Kindheit hat sie in der Pflege ihre Berufung gesucht – und jahrelang daran gearbeitet, Menschen und Orte zu finden, die ihr auf den Weg helfen konnten. Bis sie zu Theodor Fliedner nach Kaiserswerth kam. Die erste Diakonissenanstalt, deren Mutterhaus um eine Kapelle herum gebaut war.

Heute gleichen Gesundheitseinrichtungen „weißen Fabriken“, sagt der Medizinethiker Giovanni die Maio (2018). Es geht um Input und Output, Effektivität und Effizienz, Gewinn- und Verlustrechnungen. So haben die allermeisten gelernt, ihr professionelles Handeln von ihrer Motivation und auch von ihren Gefühlen abzuspalten. „Professionalisierung, Effektivität und Effizienz heißt immer auch Vereisung“, sagt der Ethiker Andreas Heller. Wo dauernd Budgets und Ziele verglichen werden, zähle am Ende Konkurrenz mehr als Kooperation. Vielleicht stehen Familie und Freundschaft, aber auch Nachbarschaftsinitiativen, freiwilliges Engagement, Hospizarbeit und Caring Communities gerade deshalb so hoch im Kurs, weil wir spüren, wie viel Kälte in der Funktionalisierung steckt, wie wenig Nachhaltigkeit in der bloßen Marktlogik. Kein Wunder also, dass wieder nach Berufung gefragt wird.

„Work is not a job“, heißt ein Buch von Catharina Bruns. Sie versteht Arbeit als Umwandlung von Energie, als unseren Selbstausdruck in der Welt, ein Gestaltungselement mit persönlicher, aber auch mit gesellschaftlicher Dimension. „ Ist es zu viel verlangt, sich in dem, was man den ganzen Tag tut, wiederfinden zu wollen“ fragt sie. Wer seine Arbeit nur als Job verstehe, der sortiere am Ende alles nach Arbeitszeiten und Zuständigkeiten. Und suche dann die Work-Life-Balance in dem, was vom Leben übrig bleibt. Wer aber seine Arbeit als Berufung verstehe, der engagiere sich für die Rahmenbedingungen und kämpfe darum, dass die eigene Arbeit im Einklang mit den persönlichen Begabungen und Interessen bleibe. Gerade jetzt gibt es viel Grund dazu. Und viele Verbündete, wenn es darum geht, der Pflege die Anerkennung und den Raum zu geben, den sie braucht. Den die Patientinnen und Bewohner brauchen. Und das Gesundheitssystem so aufzustellen, dass Reserven da sind in Zeiten der Krise.

 „Tu deinem Leib Gutes, damit Deine Seele Lust hat, darin zu wohnen.“ Das Wort von Theresa von Avila erinnert daran, wie wichtig es ist, uns die Lebensfreude zu erhalten – gerade dann, wenn uns die Sorge für andere belastet. Alles fängt damit an, dass wir unsere Ressourcen kennen. Musik hören oder besser noch Musik machen – viele Filme erzählen, wie ein Chor Menschen verändern kann. Die eigene Stimme hören, die Lebendigkeit des Körpers wahrnehmen. Unter grünen Baumdächern walken und beobachten, wie das Licht die Farben verändert. Sich bewegen und die Kraft im eigenen Körper spüren. Oder Lesen und in eine andere Welt versinken. Und lachen. Lachen entspannt und bringt unsere Energie zum Fließen. Wir fänden aber am besten aus Belastungssituationen heraus, wenn wir wieder spüren, dass wir die Lust und die Kraft haben, Ziele zu erreichen, uns selbst und unsere Umwelt zu verändern. sagt Horst Krämer (2010), der ein Buch über Soforthilfe bei Stress und Burnout geschrieben hat. Letztlich kommt es darauf an, eine neue Balance zu finden zwischen Anspannung und Entspannung. Zwischen Fürsorge und Selbstsorge. So kann jeder und jede dazu beitragen, dass unser soziales Miteinander sich verändert.