Predigttext in Niesky

Predigttext vom 09.10.2016 in Niesky

Und sie brachen von Sukkot auf und schlugen ihr Lager in Etam am Rand der Wüste auf. Und der Herr zog vor ihnen her, bei Tag in einer Wolkensäule, um ihnen den Weg zu zeigen, bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten. Sie konnten sie Tag und Nacht unterwegs sein. Die Wolkensäule wich bei Tage nicht von der Spitze des Volkes und die Feuersäule nicht bei der Nacht. (2. Mose 13, 20ff.)

Die Amerikanerin Veronika Scott hat einen Mantelschlafsack erfunden, der Obdachlosen im Winter Wärme und auch ein Stück Würde gibt. Der Schlafsack ist wasserdicht und lässt sich im Sommer zu einer Umhängetasche zusammenfalten. Die 100 Dollar, die ein Mantel kostet, werden durch Spenden finanziert. 15.000 Mäntel konnten inzwischen hergestellt werden. Und die Produktion gibt wohnungslosen Frauen Jobs, damit sie sich eine Wohnung mieten und ihre Kinder wieder zur Schule schicken können. Veronika Scott weiß, was das bedeutet, sie lebte selbst eine Zeit lang mit ihrer Mutter auf der Straße. Sie kann sich erinnern, wie es sich anfühlt, kein Zuhause zu haben, und sie weiß auch: das kann schnell gehen, wenn man seinen Job verliert. Zumal in einem Land, in dem das Sozialsystem nicht so ausgebaut ist wie bei uns. Aber auch in Deutschland kann eine fehlende Qualifikation dazu führen, dass Menschen von Gelegenheitsjob zu Gelegenheitsjob wandern und schließlich in der Obdachlosigkeit landen. Und auch hierzulande passiert es, dass Beziehungskrisen, Gewalterfahrungen oder chronische Erkrankungen Menschen die Kraft nehmen, sich aufrecht zu halten.

Es ist alles andere als selbstverständlich, dass wir unseren Blick „nach unten“ richten, auf die, die abgestürzt sind oder nie eine Chance bekommen haben. Viele haben Angst davor; Angst selbst zu fallen. Sie schauen lieber stur gerade aus – und manche treten auch nach unten. Wer sein Herz öffnet, macht sich auch verwundbar.

Aber Gott sei Dank gibt es auch Menschen, die bereit sind, sich berühren zu lassen. Für sie hat der Berliner Jesuitenpartner Christian Herwartz die Stadtexerzitien entwickelt. In kleinen Gruppen kann man Pilgerwege in der Stadt entdecken – Straßen und Plätze, die ihnen im Alltag verschlossen bleiben.[1] Es geht darum, wahrzunehmen, wo es brennt. Mit Rucksack und Turnschuhen, manchmal angeleitet von wohnungslosen Stadtführern, ziehen sie los, am Gefängnis oder an der Notunterkunft vorbei. Die Teilnehmer nehmen sich Zeit, gehen in den Schuhen der anderen, folgen ihrem Gefühl, verschütteten Erinnerungen. Vielleicht, sagt Christian Herwartz, vielleicht entdeckt einer den brennenden Dornbusch auf dem Weg, den Ort der Gotteserkenntnis mitten in der Wüste der Stadt. An der Notaufnahme des Krankenhauses , in der Flüchtlingsunterkunft. Oder auf dem Spielplatz, auf dem noch Bierflaschen und Kondome vom Vorabend liegen. Manchmal beginnt ein Bild, eine Geschichte zu sprechen. Wer spürt, wie sein Herz brennt, bleibt stehen, zieht die Schuhe aus und hört auf die Stimme.

„Zieh Deine Schuhe aus. Denn der Boden auf dem Du stehst, ist heiliges Land“. Das waren die Worte, die Mose aus dem brennenden Dornbusch hörte. Dass ein Dornbusch in der Wüste Feuer fängt, ist so ungewöhnlich nicht. Aber diese Stimme brannte sich in sein Herz. Jemand rief ihn bei seinem Namen und er fühlte sich wie magisch angezogen. Die Bibel erzählt, dass Mose der Stimme folgt, dass er die Schuhe auszieht und sein Angesicht verhüllt. Am liebsten würde er sich wohl verkriechen. Er gehört ohnehin zu denen, mit denen man lieber nicht zu tun hat. Er ist ein Randsiedler, ein Rebell. Dass er hier in der Wüste die Schafe hütet, das hat mit seiner Vergangenheit zu tun – beim Bau der Pyramiden hat er einen der Aufseher des Pharao erschlagen. Er konnte einfach nicht ertragen, wie man mit den hebräischen Sklaven umging. Schließlich war er selbst Hebräer, auch wenn nur wenige das wussten. Und nun, mitten in der Wüste, wo er sich eigentlich in Sicherheit wähnte, war diese Vergangenheit plötzlich wieder da. „Ich habe das Schreien der Israeliten gehört und ich habe gesehen, wie sie von den Ägyptern unterdrückt werden“, sagt die Stimme. „Geh, denn ich sende dich zum Pharao. Du sollst mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten führen.“ Es wirft ihn fast um – es muss ihm ähnlich gegangen sein wie Veronika Scott, als sie eines Tages ein kleines Mädchen mit ihrer Mutter auf der Straße schlafen sah. Einer solchen Berufung kann keiner ausweichen.

Es geht um jene Augenblicke, in denen der Schutzfilter weggerissen wird, der uns normalerweise von der Wirklichkeit trennt. Eine schwere Krankheit, eine berufliche Katastrophe, ein Todesfall in der Familie – oder ein politisches Ereignis wie der Mauerfall oder die ersten Flüchtlinge, die vor Lampedusa ertranken: plötzlich spüren wir, dass wir nicht so sicher und nicht so unverwundbar sind, dass die Welt nicht so stabil ist, wie wir glaubten. Und plötzlich nehmen wir unsere Umgebung ganz anders wahr: direkter, tiefer. Der Sozialpsychologe Campbell vergleicht diese Situation mit einem Erweckungserlebnis. „Wenn das Selbst aus dem Bild der Welt verschwindet, wird die Welt plötzlich sehr mächtig, sehr wunderbar. Es ist, als öffne sich ein anderer Horizont – wir hören auf, uns um uns selbst zu drehen, lassen uns ein, lassen uns vielleicht auch verstören.[2]

„Du wirst gebraucht“, sagt Gott „ genau Du“. Mit deiner ganzen Wut. Mit deinem weichen Herzen. Mit deiner schwierigen Lebensgeschichte und mit allem, was daran schief gelaufen ist. Du wirst gebraucht, um mein Volk – und Dein Volk – aus Ägypten zu führen. „Ich?“. „Wieso ich?“ fragt Mose. „Wer bin ich denn, dass ich zum Pharao gehen sollte?“ Mose verkriecht sich, er macht sich klein – zum Pharao gehen: ich kann ja nicht einmal richtig reden?

Als ob Gott nicht bedacht hätte, wer da vor ihm steht. „Habe nicht ich, der Herr, den Menschen einen Mund gegeben? Kann ich sie nicht stumm oder taub, sehend oder blind machen?“ Nein, bei Gott hat jeder und jede einen Auftrag, eine Berufung – auch und vielleicht gerade, wer Wohnungslosigkeit, Flucht oder Mobbing kennt und wer weiß, wie Menschen Menschen behindern können. So wie wir sind, werden wir gebraucht: stumm oder taub, sehend oder blind, querschnittsgelähmt, auf einen Rolli angewiesen und mit unserer ganzen Verletzungsgeschichte. „Go down, Moses, go down to Egypts Land…“. Die schwarzen Sklaven in Amerika haben sich davon überzeugen lassen und machten einander Mut mit Stampfen und Klatschen und Spirituals. Ich kann nur hoffen, dass wir das auch lernen.

So wie vor 150 Jahren Hermann Plitt, der Gründer von Emmaus. Ich weiß nicht, was ihn bewogen hat, seinen Dienst in Gnadenfeld, in Oberschlesien zu beginnen. Aber ich weiß, er wusste sich zum Dienst an den Kranken berufen. Und das hat ihm geholfen, auch schwierige Phasen und Brüche durchzustehen – und weiter zu arbeiten, ob er an einem Ort gefragt war oder nicht. So ging er mit den beiden Diakonissen, die er gewinnen konnte, von Gnadenfeld nach Graz, wieder zurück nach Gnadenfeld und schließlich hierher nach Niesky. Denn die Berufung ist das eine – das andere aber ist das Durchhalten und Weitergehen in den Zeiten, in denen wir keine Resonanz mehr spüren. Der Vorhang schließt sich wieder, der uns eine andere Wirklichkeit erschlossen hat. Das Engagement, das gestern noch so wichtig schien, ist plötzlich nicht mehr gefragt. In solchen Zeiten ist es, als ob auch Gott schweigt. Als gingen wir in die Irre. Graue Tage – kein Feuer brennt.

Den Jüngern aus Emmaus ist es so gegangen, als sie nach der Kreuzigung Jesu zurück gingen in ihr Heimatdorf. Alles schien umsonst gewesen zu sein – als wären sie einer falschen Hoffnung gefolgt. Immerhin erzählen sie dem Fremden davon auf dem Weg, im Gehen reden sie über das, was sie umtreibt. Aber es braucht Zeit, bis sie begreifen, was da geschieht – und sie begreifen es erst, als sie das Brot in der Hand halten, das der Fremde für sie gebrochen hat. Da plötzlich reißt der Vorhang wieder auf, die Erinnerung leuchtet, hinter dem Fremden, in dem Fremden erscheint ihnen Jesus, wie er das Brot bricht. Mein Leib für Euch gegeben. Und dann ist alles vorbei – aber das Leuchten bleibt. „Brannte nicht unser Herz in uns?“, sagen sie zueinander. Wir brauchen wohl immer wieder solche Erfahrungen des Neuanfangs, damit wir unserer Berufung folgen können. Augenblicke der Erweckung, in denen alles noch einmal in neuem Licht erscheint. So wird es Ihnen hier in Niesky auch gehen – 150 Jahre nach der Gründung von Emmaus. In den Umbrüchen von heute.

Es ist nicht einfach, Gottes Ruf durch die Zeiten zu folgen. Mose wusste das, als er zögerte. Er hatte Angst davor, zu verbrennen, sich zu übernehmen, allein gelassen zu werden. Und auch die Jünger Jesu haben erlebt, wie das ist. Sie kannten die Zweifel, die Einsamkeit auf dem Weg. Sie brauchten Zeit, um nach der großen Enttäuschung wieder aufzubrechen. Worauf also können wir uns verlassen, wenn wir an die nächsten Jahre und Jahrzehnte denken? Die Bibel gibt drei Hinweise:

Keiner muss allein gehen. Jesus schickt die Jünger zu zweit aus – auch die beiden, die nach Emmaus zurück gingen, waren zu zweit. Und auch Mose, der am Anfang so zögerte, musste nicht allein gehen – er bekam seinen Bruder Aaron an die Seite.

Wie Gott dabei mitgeht – und er geht mit, das bleibt ein Geheimnis. Wir können und sollen damit rechnen, dass er uns immer neu und auch anders begegnet. Vielleicht gerade dann, wenn wir ihn nicht verstehen und wenn wir aufgeben wollen. Die Stimme, die Mose hört, verspricht nur eins: Gott wird da sein. „Ich bin, der ich bin“ ist sein Name. „Ich werde sein, der ich sein werde.“

Es kommt also darauf an, wach zu bleiben und die Augen offen zu halten. Denn Gott gibt seinen Leuten Zeichen auf dem Weg. Brot und Wein, aber auch Wolke und Feuersäule sind solche Zeichen. In der Wolke bleibt Gottes Gegenwart Geheimnis, aber in der Feuersäule geht das Leuchten mit – und erleuchtet auch unbekannte Wege.

An solchen Zeichen können wir uns festhalten – und wir sollten sie festhalten, erinnern und nicht vergessen. Darum feiern wir hier heute das Jubiläum. Und deswegen soll am Ende meiner Predigt noch eine andere Mantelgeschichte stehen: Als der Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal gestorben war, fand man in seinen Mantel eingenäht einen Zettel. Auf dem kleinen Papierstreifen stand: „Jahr der Gnade 1654 am 23. November: Gott Abrahams, Isaak und Jakobs, nicht der Philosophen und Gelehrten Gott. Gewissheit- Freude- Friede- Feuer“! Es war eine Erinnerung an sein Erweckungserlebnis, an seinen brennenden Dornbusch. Ich glaube, viele von uns haben eine solche Erfahrung schon gemacht – wir müssen sie nur verstehen. Und all den anderen wünsche ich, dass er kommt – der Augenblick, in dem sie erfahren: Du wirst gebraucht.

Amen.

 

[1] Ursula Richard, Stille in der Stadt, München 2011, S. 106 ff.
[2] Vgl. Die lebensverändernde Kraft von Krisen, Kathleen Mc Gowan, Psychologie heute –
Kompakt – ziemlich stark. S. 18 ff.