Ehe für alle – Lebenspartnerschaften in einer sich öffnenden Gesellschaft

1. Eine unverwüstliche Lebensform?

Ein glückliches Familienleben und eine stabile Partnerschaft gehören zu den sehnlichsten Wünschen der allermeisten Menschen. Das gilt, wie Umfragen zeigen, gerade für die Jungen. 2013 wünschten sich 82% aller Befragten Kinder und bei einer Befragung des Instituts für Demoskopie Allensbach erklärten 84 Prozent der Bevölkerung, der Zusammenhalt im engen Familienkreis sei stark oder sehr stark. Angesichts gravierender gesellschaftlicher Umbrüche wird die Familie als Schutzraum erfahren, als Ressource erlebt. „Familien werden dabei vielfältige Aufgaben zugetraut und zugemutet: Kinder sollen so erzogen werden, dass sie das Leben in einer auf Individualisierung angelegten Wissensgesellschaft bestehen. Ehe und Lebenspartner sollen sich gegenseitig ermöglichen, persönliches Glück zu erfahren und zu genießen und einander eine Stütze sein. Kranke und alte Menschen sollen versorgt werden, verwandtschaftliche, nachbarschaftliche und freundschaftliche Netze wollen gepflegt und weiterentwickelt werden.“

Das Zitat stammt aus der Orientierungshilfe der EKD zur Familienpolitik, die 2013 unter dem Titel „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ veröffentlicht wurde. Der Titel beschreibt das zentrale Spannungsfeld. Laut einer Allensbach-Studie lehnen 64 Prozent der Deutschen mit einem Kind, aber nur 27 Prozent der Franzosen weiteren Nachwuchs ab. In Deutschland, meint Christine Eichel in ihrem Buch „Deutschland – Lutherland“ spuke die Idee einer idealen Familie in den Köpfen, „ein trautes Heim mit Präsenz möglichst beider Eltern, viel Zeit für Erziehung, Bildung und gemeinsame Unternehmungen.“

Auf dem Hintergrund der Widersprüche und Zerreißproben, in denen Familien heute stehen, hatte der Rat der EKD 2009 eine Ad-hoc-Kommission berufen, die kirchliche Empfehlungen für die aktuellen familienpolitischen Herausforderungen erarbeiten sollte. Die Kommission unter Leitung der ehemaligen Familienministerin Dr. Christine Bergmann bekam den Auftrag, sich mit der offensichtlichen Spannung zwischen dem Wunsch nach stabilen Ehen und Familien einerseits und der gesellschaftlichen Wirklichkeit mit hohen Scheidungsrate und einer großen Zahl Alleinlebender und Alleinerziehender andererseits auseinander zu setzen. Es ist nämlich durchaus strittig, ob man von einem Bedeutungsverlust der Ehe sprechen kann, oder ob sogar umgekehrt von einer gesteigerten Erwartungshaltung gesprochen werden muss. Und ob sich in den niedrigen Geburtenraten nicht gerade eine sehr bewusste elterliche Verantwortung zeigt. Günter Burghardt spricht von der „Krise einer unverwüstlichen Lebensform“, um deutlich zu machen, dass Ehe und Familie nach wie vor zentrale Lebenswerte für die große Mehrheit der Bevölkerung sind – auch wenn sie inzwischen neben anderen Lebensformen stehen und auf dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungen unter Druck geraten sind.

 

2. Was wir erleben: Die vier großen Herausforderungen

2.1 Erwerbsarbeit und späte Familiengründung

Lange Ausbildungszeiten und Berufseinstiegsphasen, aber auch mangelnde Unterstützungsangebote haben dazu geführt, dass die Familiengründung immer weiter hinausgeschoben wird. Das Durchschnittsalter der Erstgebärenden liegt gegenwärtig bei 29 Jahren (Ostdeutschland: 27 Jahre). Die Zeit für Familiengründung ist knapp geworden 60% der Kinder werden von Müttern zwischen 26-35 geboren. Dabei spielt Reproduktionsmedizin eine immer größere Rolle.

Wenn alle erwachsenen Erwerbstätigen – Frauen wie Männer, unabhängig von ihren familialen Verpflichtungen – dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen sollen, wie es sowohl im SGB II als auch im Unterhaltsrecht vorausgesetzt wird, dann brauchen Familien mehr Unterstützung bei Erziehung und Bildung, bei der Pflege und in Krisensituationen. Fehlende Betreuungseinrichtungen, aber auch die nach wie vor unterschiedlichen Einkommen von Männern und Frauen führen zurzeit dazu, dass vor allem Frauen ihre beruflichen Ambitionen zurückstellen, sobald Kinder geboren werden. Auch Paare mit anfangs partnerschaftlicher Rollenteilung geben diese spätestens mit der Geburt des zweiten Kindes zugunsten traditioneller Formen auf. Frauen übernehmen den Hauptteil der Familien- und Hausarbeit. Laut Brigitte-Studie von Jutta Allmendinger stimmten im Jahr 2012 53% der Frauen der Aussage zu: „Wer Kinder hat, kann keine wirkliche Karriere machen.“ (bei der Vorläuferstudie 2007 sagten das nur 36%). Die befragten Mütter fühlten sich beruflich ausrangiert. Kinder und Erwerbsarbeit sind immer noch schwer zu vereinbaren. Offenbar stimmen weder die finanziellen noch die zeitpolitischen Voraussetzungen.

2.2.Vielfalt der Familienformen.

Die Vielfalt des Familienlebens nimmt zu. Ein Drittel aller Kinder werden nichtehelich geboren. Das sind doppelt so viele, wie noch vor zwanzig Jahren. Hier besteht allerdings ein markanter deutsch-deutscher Unterschied: Im Westen sind es nämlich nur 27% der Kinder, im Osten 61%. Der Zusammenhang von Eheschließung und Geburten – und damit auch der zwischen Ehe und Familie löst sich. Ehe ist nicht mehr Voraussetzung, sondern Folge gemeinsamer Kinder. Zwar sind noch 72% der Familien Ehepaare mit Kindern (BMFSFJ 2012: 22), aber Familien auf Ehebasis sind zunehmend Patchwork-Konstellationen. Familie ist nicht einfach Schicksalsgemeinschaft, sondern mehr und mehr „Herstellungsgemeinschaft“, auf bewussten, oft spannungsreichen Entscheidungen gegründet- von der Familienplanung bis zu den Patchworkfamilien.

2.3 Polarisierung der Lebensformen

Dabei wächst drittens die gesellschaftliche und ökonomische Spreizung – nicht nur deshalb, weil sich die sozialen Milieus in Deutschland in hohem Maße auseinanderentwickeln. Auffällig ist die Polarisierung sozialer Lebenslagen zwischen Ein- und Zwei-Verdiener Haushalten, vor allem aber zwischen denen, die für Kinder sorgen und denen, die keine Kinder zu versorgen haben. Familienarbeit wird finanziell nur dann honoriert, wenn sie Ehe- oder Lebenspartnerschaft basiert ist. Auch deshalb sind Alleinerziehende, die kaum in Vollzeit arbeiten könne, überdurchschnittlich häufig von Einkommensarmut betroffen. Laut Stiftung für Zukunftsfragen schrecken 67 Prozent der jungen Leute die Kosten für Kinder, 60 Prozent wollen frei bleiben und 57 Prozent fürchten um ihre Karriere.

2.4 Kulturell-ethnische Vielfalt in der Einwanderungsgesellschaft

Fast jede dritte Familie im Westen hat inzwischen einen Migrationshintergrund (30 Prozent in West-, 14 Prozent in Ostdeutschland, BMFSFJ 2010: 18). Zu diesen Familien zählen alle Eltern-Kind-Gemeinschaften, bei denen mindestens ein Elternteil eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzt oder die deutsche Staatsangehörigkeit beispielsweise durch Einbürgerung erhalten hat. Knapp ein Viertel der zugewanderten Familien kommt aus der Türkei. Etwa ein Fünftel stammt aus Osteuropa, ein weiteres Fünftel aus süd- oder westeuropäischen Ländern (BMFSFJ 2010: 19). Wenn man sich vorstellt, dass noch in der Nachkriegszeit Ehen daran scheiterten, dass die Paare nicht „das gleiche Gesangbuch“ hatten, lässt sich ahnen, welche Herausforderung in der religiösen Vielfalt steckt, die damit verbunden ist. Zugleich kehren mit den Migrantenfamilien auch traditionelle Rollenbilder in unsere Gesellschaft zurück.

 

3. Zusammenfassung: Veränderungsprozesse und Bedürfnisse

Hinter den aktuellen Statistiken stehen längerfristige Veränderungsprozesse: die medizinischen Möglichkeiten der Familienplanung haben die längst schon begonnenen Emanzipationsbewegungen von Frauen in der Erwerbsarbeit beschleunigt, während zugleich die Bedeutung von Erwerbsarbeit in den entwickelten Gesellschaften zunahm. Tatsächlich lebt die Mehrheit der Bevölkerung inzwischen nicht mehr in Familienhaushalten. Und allen Wünschen nach heiler Familie zum Trotz nimmt die „Versingelung“ der westlichen Gesellschaften zu. Alleinleben scheint der beste Weg, die modernen Werte einer individualistischen Gesellschaft zu leben, so der amerikanische Soziologe Eric Klinenberg nach einer Untersuchung des Time-Magazins zu den Trends unserer Zeit. Single-Sein bedeute Freiheit, Selbstverwirklichung und Selbstkontrolle, eben Autonomie. Auch viele Paare kennen Lebensphasen, in denen sie aus beruflichen Gründen über lange Zeit getrennt leben. Immerhin jedes dritte Paar in den ersten Berufsjahren – also in der Zeit der Familiengründung- ist betroffen, und für viele ist das der selbstverständliche Preis für berufliche Mobilität und Karriere. In ihrem Buch: „Liebe aus dem Koffer“ nennt Alexandra Berg die Lebensformen der Mobilen beim Namen: „Weiblich, mobil, kinderlos“, „Männlich, mobil, Kinder – ein Lebensmodell auf Kosten der Frau“ – und „Mobiles Paar, verpasstes Familienleben.“

Angesichts der niedrigen Geburtenrate, des kommenden Fachkräftemangels und des tiefgreifenden Strukturwandels am Arbeitsmarkt stehen allerdings nicht nur die Einzelnen vor der Frage, wie Bildung, Erwerbsarbeit und familiäre Fürsorge im Lebenslauf besser zu vereinbaren und gerechter zwischen den Geschlechtern zu verteilen sind. Darin liegt auch eine große sozialpolitische Herausforderung, die weit über das Feld der klassischen Familienpolitik hinausgeht. Denn die Veränderungsdynamik nimmt zu, die Erwartung an Mobilität wächst: Die schiere Zahl der Arbeits- und Lebensbeziehungen explodiert – zugleich schwindet die Möglichkeit, an einem Ort Wurzeln zu schlagen und Heimat zu finden. Dabei richtet sich die Sehnsucht vieler darauf, sich verorten zu können in den großen und manchmal verstörenden Transformationsprozessen, sich zu Hause fühlen zu können in einer verlässlichen Gemeinschaft – in Familie, Heimat, Freundschaften. Aber auch im Mikrokosmos zeigen sich Individualisierung und Beschleunigung: 63% der Männer und 37% der Frauen geben an, zu wenig Zeit für Kinder zu haben, bei alleinerziehenden Mütter liegt der Anteil bei 47%.

Familien brauchen Unternehmen, die der Vereinbarkeit von Beruf und Familie hohe Priorität einräumen, Ganztagsangebote in der Bildung und soziale Dienste, die partnerschaftlich mit ihnen zusammenarbeiten. Und Kirchengemeinden, die ihnen zur Seite stehen.

 

4. Der Streit um Leitbilder

Ehe und Familie dürfen nicht als ewige Ordnungen missdeutet werden (Dietrich Bonhoeffer). Es geht vielmehr um die Beziehung zwischen den Partnern als fundamentale Entsprechung der Beziehung zwischen Gott und Mensch. Im Mittelpunkt steht also nicht die Geschlechterdifferenz, sondern die Angewiesenheit. Das ist die Basis der Orientierungshilfe für das Ja zu „Ehe für alle“, das der Rat im letzten Jahr beschlossen hat – auch wenn das Thema Lebenspartnerschaften keinesfalls das Zentrum der Orientierungshilfe war.

Wer die derzeitige Debatte um die öffentliche Segnung in Württemberg wahrnimmt, spürt noch einmal die Heftigkeit der Auseinandersetzungen in der Kirche. Dabei geht es durchaus nicht nur um kirchliche, sondern eben auch um gesellschaftliche Fragen. Denn es waren die Gleichstellungsentscheidungen in Europa und die Beschlüsse des Bundestages, die die Gemüter erregten.

Die Fragen zur Familienpolitik, die damit verbunden sind, sind politisch noch keinesfalls erledigt. Das gilt für das Thema Adoption in lesbischen Ehen, aber auch für die Fragestellungen, die im Kontext von Reproduktionsmedizin, Samenspende und Leihmutterschaft auf dem Weg sind. Kann es bei einer Samenspende rechtlich betrachtet eine Elternschaft zu dritt geben wie in Großbritannien – oder auch zu viert, wenn ein lesbisches und ein schwules Paar gemeinsam Kinder haben? Und wie steht es dabei um die Rechte der Kinder? Dabei geht es auch um die Frage, ob mit Art. 6 GG ein bestimmtes Ehe- und Familienbild verbunden ist. Und welche Funktion dieser Artikel für die Familienpolitik in Deutschland hat. Die Einrichtung eines entsprechenden Ministeriums war in den 50er Jahren durchaus strittig. Dabei hatten die Kirchen, vor allem die katholische, einen wesentlichen Anteil am Zustandekommen.

Erst in der sozialpolitischen Zusammenarbeit mit anderen Kirchen in Europa ist mir deutlich geworden: Vor allem die Länder, die Erfahrungen mit totalitären Regimen hatten, legen Wert auf die politische Unterstützung von Familien, aber auch auf die Eigenständigkeit und den Eigensinn der Familien. Dass der Staat nicht hineinregiert, dass Vielfalt möglich ist, ist für die Bundesrepublik immer wichtig gewesen. Für die Mehrheit der Deutschen bedeutet das heute eben auch: Vielfalt der Lebensformen und „Ehe für alle“. Und auch aus anderen Gründen ist es unverzichtbar, den Blick zum über Deutschland hinaus auf Europa hin zu weiten. Es ist letztlich die europäische Rechtssitzung, die das Verhältnis von individueller Gleichstellung – zum Beispiel ehelicher und nichtehelicher Kinder oder homo- und heterosexueller Menschen – und dem Schutz von Ehe und Familie als sorgende Gemeinschaften auch in Deutschland verändert hat.

Der Ost-West-Vergleich macht ebenfalls deutlich, in welchem Maße auch die Lebensformen gesellschaftlich und politisch geprägt sind. Er spielt deshalb auch in der Orientierungshilfe eine Rolle – und zwar zum ersten Mal in der Reihe der EKD-Denkschriften. Die Philosophin Rahel Jaeggi ist deshalb der Auffassung, dass es nötig ist, eben auch die scheinbar privaten Lebensformen politisch zu diskutieren. Das westdeutsche Modell der Familienpolitik, das mit Ehegattensplitting und Mitversicherung von Frauen und Kindern auch weiterhin den politischen Pfad bestimmt, geht traditionell von der Familie als Erwerbs- und Fürsorgegemeinschaft aus. Mit dem Ehemann als vollerwerbstätiger Familienvorstand und der Hausfrau und Mutter, die für Erziehung und Pflege sorgte. Dabei baute auch das Bildungssystem von Kindergärten bis Halbtagsschulen darauf, dass einer der Ehepartner, und das waren und sind in der Regel die Frauen, allenfalls halbtags arbeitete. Diese familienpolitischen Rahmenbedingungen gelten in den Grundzügen bis heute – zugleich aber hat sich das Leitbild der heute 20-40 –jährigen, wie Untersuchungen des WZB zeigen, grundlegend verändert: Junge Männer wie Frauen wünschen sich für beide die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

Die Gleichberechtigung von Männern und Frauen in der Erwerbsarbeit galt lange Zeit als „eine der größten Errungenschaften“ der DDR und wurde seit den 1970er Jahren durch ein ganzes Bündel sozialpolitischer Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf gestützt. Damit sollte sowohl der ‚Wille zum Kind’ gestärkt werden; es ging aber auch um die Rekrutierung von Frauen für den Arbeitsmarkt. Tatsächlich lag die Frauenerwerbsbeteiligung im Osten 1989 bei fast 90% im Gegensatz zu 55% in Westdeutschland. Inzwischen liegt sie bei 70% in Gesamtdeutschland – gleichwohl ist die Erwerbsstundenzahl nicht gewachsen – der Normalfall ist nach wie vor die Teilzeit für Frauen, die im Steuersystem strukturell gefördert wird. Angesichts des demografischen Wandels geht es nun in ganz Deutschland um eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen und zugleich um die Steigerung der Geburtenrate.

Dabei steht das deutsche Modell familienpolitisch in der Mitte – zwischen hoher Frauenerwerbstätigkeit, Individualbesteuerung, staatlicher Fürsorge und Ganztagsschulen im staatlich-lutherischen Skandinavien oder im laizistisch-zentralistischen Frankreich einerseits und einer noch stärkeren Privatisierung von Familien und Fürsorgeleistungen im katholischen Italien oder Spanien. Dabei zeigt sich noch deutlicher als im Ost-West-Vergleich: Wo Infrastrukturleistungen Erwerbstätigkeit ermöglichen, ist die Geburtenrate höher, wo sie fehlen, besonders niedrig- und zwar ganz offensichtlich unabhängig von dem Familienbild, das religiös-normativ vertreten wird.

Dabei ist klar: eine vollständige Delegation der Sorgearbeit in Erziehung und Pflege ist nicht denkbar und auch nicht wünschenswert – vor allem weil es bei den Care-Aufgaben um mehr als um bezahlbare Dienstleistungen geht. Zwar hat die Familie schon in der Moderne wesentliche politische und ökonomische sowie rechtliche Funktionen verloren, doch hat sie nach wie vor entscheidende Bedeutung für die Sozialisation und soziale Reproduktion. Die Weitergabe von Werten und Traditionen, Erziehung und Betreuung von Kindern, Fürsorge und Pflege, das Teilen gemeinsamer Aufgaben und die Solidarität zwischen den Generationen kennzeichnen Familien, werden dort eingeübt. Es geht um Gemeinschaftserfahrungen, die für den gesellschaftlichen Zusammenhalt unentbehrlich sind.

Aber „das Sozial- und Steuersystem benachteiligt Familien. Die Ideale und Ansprüche, denen die Kindererziehung gerecht werden soll, sind dagegen sehr hoch. Das alles erschwert es den Menschen, das Wagnis des Lebens in Ehe und Familie einzugehen“, heißt es in der gemeinsamen Erklärung der Evangelischen Landeskirche in Baden und der Erzdiözese Freiburg zur Zukunft der Familie. (16.4.2008)

 

5. Familienpolitik und Kirche

„Nach evangelischem Verständnis dürfen Autonomie und Angewiesenheit, berufliche Entwicklung und fürsorgliche Beziehungen nicht gegeneinander ausgespielt werden, heißt es in der Orientierungshilfe der EKD. Leitlinie einer evangelisch ausgerichteten Familienpolitik müsse deshalb die konsequente Stärkung aller fürsorglichen Beziehungen sein“, heißt es in der Orientierungshilfe. „Die Form, in der Familie und Partnerschaft gelebt werden, darf dabei nicht entscheidend sein. Alle familiären Beziehungen, in denen sich Menschen in Freiheit aneinander binden, füreinander Verantwortung übernehmen und eine verlässliche Partnerschaft eingehen, müssen auf die evangelische Kirche bauen können.“ (Orientierungshilfe)

An Passagen wie dieser hat sich die Debatte um die Orientierungshilfe entzündet. Viele haben eine stärkere Hervorhebung der Ehe als Leitbild jeder verbindlichen und verlässlichen Lebensform vermisst. Das Sozialwissenschaftliche Institut, das eine Untersuchung zur die Familienpolitik in Landeskirchen durchgeführt hat, sah den Bedarf, „ein orientierendes evangelisches Leitbild zu entwickeln, das weder an der gesellschaftlichen Realität von Familie vorbeiredet, noch mit unterschwelligen Normalitätskonzepten Menschen benachteiligt, die in anderen Familienformen (als der traditionellen) leben.“ Auch die jüngeren Texte verschiedener Landeskirchen setzen sich nämlich nicht mehr so stark mit Familienformen auseinander; vielmehr geht es um die Aufgaben und Leistungen, die Familien übernehmen – um das „doing family“. Erschienen die vielfältigen Familienrealitäten zunächst als Gefährdung des „eigentlichen“ Leitbilds oder als „unvollkommen“, gewann in den letzten Jahren die Überzeugung an Kraft, dass Gefährdungen weniger in einer bestimmten Gestalt der Familie liegen, als darin, wie das Familienleben gestaltet wird.

Das zeigte sich schon vor der Orientierungshilfe an den Veränderungen im EKD-Pfarrdienstrecht, das einen Rahmen für die Landeskirchen setzt. Da es Gliedkirchen gibt, die inzwischen auch ein gleichgeschlechtliches Paar in eingetragener Lebensgemeinschaft im Pfarrhaus leben lassen, während andere über dieser Fragestellung fasst zerbrechen, hat man sich im EKD-Rahmen darauf geeinigt, die Werte zu beschreiben, unter denen die Lebensbeziehung von Pfarrerinnen und Pfarrern gestaltet werden soll: Verbindlichkeit, Verlässlichkeit, Verantwortlichkeit. Das sind die Beziehungsrelationen, die im theologischen Kapitel der Orientierungshilfe wieder aufgenommen werden. Dabei wird die Institution Ehe als besonders geeigneter rechtlicher Schutzraum für dieses Miteinander gesehen. Denn tatsächlich braucht ja auch die Sorgearbeit rechtliche Anknüpfungspunkte und ökonomische Unterstützung.

Im Gegensatz zu diesem funktionalen Verständnis betont die katholische Kirche den sakramentalen und Institutionellen Aspekt von Familie. Die damit verbundenen Probleme im Blick auf die Trauung und die Kommunion Geschiedener und Wiederverheirateter werden ja ebenfalls öffentlich diskutiert. Auf der PK zur Herausgabe der Orientierungshilfe hat der Ratsvorsitzende betont, angesichts der Vielfalt biblischer Bilder und der historischen Bedingtheit des familiären Zusammenlebens entsprächen ein normatives Verständnis der Ehe als „Göttliche Stiftung“ und eine Herleitung der traditionellen Geschlechterrollen aus einer vermeintlichen „Schöpfungsordnung weder der Breite des biblischen Zeugnisses noch unserer Theologie“. Die Orientierungshilfe setze das geschichtliche Gewordensein und den Wandel der Leitbilder voraus. Dabei könne sie sich auch auf Martin Luther beziehen, der bei aller Hochschätzung als ‚göttlich Werk und Gebot‘ die Ehe zum „weltlich Ding“ erklärt, das von den Partnern gestaltbar ist und gestaltet werden müsse, so Schneider. Im evangelischen Eheverständnis könne deshalb eine neue Freiheit auch im Umgang mit gesellschaftlichen Veränderungen erwachsen.

 

6. Protestantische Freiheit und Öffnung der Ehe

Wie sehr eine kirchliche Schrift zur Familienpolitik heute noch die Gemüter bewegen konnte, fasziniert mich noch immer. Insbesondere dieses Luther-Zitat hat dabei eine Rolle gespielt: das „weltlich Ding“. Bei aller Hochschätzung als göttlich Werk und Gebot verstand Luther die Ehe eben nicht mehr als heilsnotwendiges Sakrament. Das Reformationsjubiläum hat mich motiviert, noch einmal genauer hinzuschauen. Die große „Haushaltsfamilie“ Luther- v. Bora aber war nicht neu – sie war typisch für die damalige Oberschicht. Der „Familienvertrag“, der den Hausstand begründete, wurde normalerweise zwischen Brautvater und Bräutigam geschlossen. Die herrschenden Familien machten ihre eigene Familienpolitik. Jenseits aller Romantik ging es um ganz schnöde und dabei elementare Themen wie Eigentum, Erbe und Unterhalt.

Die Kirche war bis ins 13. Jahrhundert erst nachträglich beteiligt – durch den Brautsegen. Dabei gab es eine Fülle kirchlicher Heiratsbeschränkungen wie das Verbot der Verwandten-, der Schwager- und Patenehe. Aber auch aus anderen Gründen stand die Institution Ehe nicht allen offen: Denen, die nicht über die Meisterwürde verfügten, fehlten schlicht die ökonomischen Grundlagen. Knechte und Mägde bedurften der Zustimmung des Hausvaters. Oft wurden deshalb Familien einfach dadurch begründet, dass Mann und Frau Tisch und Bett öffentlich teilten. Diese Lebensform war jedoch zunehmend prekär geworden. Die alten Dorfgemeinschaften und Zünfte verloren ihre Funktionsfähigkeit. Neue Wirtschaftsformen entstanden, zugleich aber wuchs die gesellschaftliche Spaltung und die Wanderungsbewegungen führten zu Mehrfachehen.

Luther baute die Zahl der Ehehindernisse radikal ab; er forderte die öffentliche Eheschließung für jedermann und stärkte die Bedeutung des wechselseitigen Versprechens von Braut und Bräutigam. Es ging ihm um eine neue gesellschaftliche Ordnung, bei der die Beziehungen in Ehe und Familie eine entscheidende Rolle spielen. Dabei wertet er die Rolle der Hausfrau und Mutter auf – er versteht sie als Beruf und Amt. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung begreift er als Gott gegeben – eben mit der Schöpfungsordnung begründet. Die Liebe aber kann auch die Rollenzuweisungen überschreiten: „Wenn ein Mann hinginge und wünsche die Windeln oder tät sonst am Kindere ein verächtliches Werk, und jedermann spottete sein und hielt ihn für einen …Frauenmann, so er’s doch tät in christlichen Glauben…“

Was wir unter Familie verstehen, ist in einem dauernden Wandel begriffen – und es wäre viel zu kurz gegriffen, diesen Wandel als Verfallsgeschichte zu verstehen. Denn er ging eben auch mit wachsenden Rechten für Frauen, Kinder, homosexuell Liebende und mit einem großen Zugewinn an Freiheit einher. Dabei haben allerdings die Kirchen eine zwiespältige Rolle gespielt. Ihre Bedeutung als politische Akteure lässt sich am Beispiel von Ehe und Familie in Deutschland besonders gut nachverfolgen. Ob es um Elternrechte und Kindererziehung, oder auch um die Rolle der Frau als Mutter ging – die Kirchen haben sich immer wieder positioniert. Und auch das subsidiäre familienpolitische Modell in Deutschland ist ganz wesentlich von der christlichen Soziallehre geprägt. Weil die Kirche für Familienpolitik steht, aber auch für die Entwicklung von Erziehung und Pflege in Deutschland wesentlich Verantwortung trägt, hat sie eine besondere Verantwortung in diesem Feld.

 

7. Biblische Einsprüche? Zum theologischen Hintergrund

Kritiker der Orientierungshilfe sahen den Text in einer Linie mit der Entwicklung der Urteile des BVG zur Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften mit der Ehe. Auch das – und vielleicht sogar vor allem das – war von vielen mit der Anbiederung an den Zeitgeist gemeint. Dabei beziehen sie sich theologisch vor allem auf drei „Ecksteine“: auf die „Schöpfungsordnung“, das “Scheidungsverbot“ Jesu und die Ablehnung von „homosexuellem Verhalten“ in den antiken biblischen Texten. Tatsächlich enthält die Orientierungshilfe in allen diesen Fällen implizit oder explizit eine andere „Einordnung“. Die Polarität der Schöpfung wird eben nicht nur als Geschlechterpolarität verstanden, das Scheidungsverbot wird vor allem als Schutz der Schwächeren interpretiert, die biblische Ablehnung der Homosexualität wird darin begründet, dass ein, unserem heutigen vergleichbares Konzept homosexueller Liebe auf Augenhöhe nicht existierte. Dazu sei einer theologischen der Verteidiger der Orientierungshilfe zitiert, der Alttestamentler Jürgen Ebach. Er schreibt für viele sicher provokativ: „Bei Licht besehen, dreht sich die Sache um. Nicht der weite Familienbegriff der Orientierungshilfe verabschiedet sich von biblisch-theologischen Grundlagen; vielmehr mangelt es dem lange herrschenden kirchlichen Bild von Ehe und Kleinfamilie an biblischer Begründung. Diese Ehe- und Familienform geht nicht auf die Bibel zurück, sondern auf das Bürgertum des späten 18. und 19. Jahrhunderts…Das heißt aber nicht, dass die Bibel zur gegenwärtigen Familienthematik nichts zu sagen hat. Denn… gerade das Alte Testament öffnet den Blick dafür, dass es da für viele scheinbar heute neue Familien- und Lebensformen Vor-Bilder gibt.“ Ebach erinnert wie schon die Orientierungshilfe an Jakobs Patchwork-Familie mit Lea und Rahel und den Sklavinnen als eine Art „Leihmütter“, an Moses und seine ägyptische Adoptivmutter, ja, sogar an die Schwagerpflicht zur „Samenspende“. Er ruft die vielen Ehelosen von Elia über Jesus bis zu Paulus in Erinnerung, die doch nicht ohne Familie sind, und auch die Neutestamentlerin Christine Gerber erinnert daran, dass das Neue Testament familiäre Bindungen angesichts der kommenden Gottesherrschaft relativiert und dass „Familia“ für eine Hausgemeinschaft steht, die auch Sklaven einschließt.

Sowenig wir heute alles gutheißen und leben, was in der Bibel beschrieben wird – von der Polygamie bis zum Umgang mit Sklavinnen – so wenig müssen wir unser Nachdenken über Homosexualität von den wenigen (Lev. 18, 22 und 20, 12) einschlägigen Stellen bestimmen lassen. Denn in der Antike wurde Homosexualität nicht als Anlage, sondern als frei bestimmtes Verhalten verstanden – dabei galt es als Entehrung eines Mannes, bei einem anderen „wie bei einer Frau“ zu liegen.

Damit ist auch schon die Frage nach der Schöpfungsordnung berührt, die ja von den Kritikern ebenfalls angeführt wird. „Hört Gottes Wort von der Stiftung und Ordnung des Ehestandes“ heißt oder hieß es jedenfalls in der Trauagende, die viele noch im Ohr haben. Agendarische Deutungen biblischer Texte dienen ja oft als Geländer, wenn es darum geht, in der verwirrenden und manchmal auch widersprüchlichen Vielfalt biblischer Texte Orientierung zu finden.

„Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“, zitiert die Orientierungshilfe die Schöpfungsgeschichten und betont: Wir sind Beziehungswesen – oder, um es mit Plessner zu sagen: „Wir sind in das Glück der anderen hineingeboren.“ Wir brauchen jemanden, der uns versteht und unsere Sprache spricht, ein Gegenüber auf Augenhöhe, einen Menschen, der spannungsreich anders und doch gleich ist. Davon erzählen die Schöpfungsgeschichten. Im Glück sexueller Begegnung „erkennen“ wir den oder die andere als „Fleisch von meinem Fleisch“, in der körperlichen Hingabe erleben wir ein Angewiesensein jenseits von Hilfebedürftigkeit. Im anderen finde ich eine Ergänzung, an die zu binden mich gerade nicht unfrei macht, sondern viel von dem frei setzt, was mich als Person ausmacht. Erst im Du finde ich wirklich zum Ich, zu meiner eigenen Identität.

Warum also, wurde von den Kritikern gefragt, wird der zweite Teil des Satzes aus Gen. 2, 18 nicht immer mit zitiert: „Ich will ihm eine Gefährtin schaffen, die um ihn sei“? Warum wurde nicht betont, was in Gen. 1, 27 steht, dass Gott den Menschen als Zweiheit schuf – männlich und weiblich? In der Tat hängt an dieser Frage viel – nicht nur der Gedanke der Schöpfungsordnung mit der allein fruchtbaren Geschlechterpolarität ist damit verbunden, sondern auch die Geschlechterordnung und Geschlechterhierarchie, die alles Nachdenken über Ehe und Familie bis ins letzte Jahrhundert bestimmt hat. In der damaligen Gesellschaft war die biblische Legitimation der Unterordnung der Frau von großer Bedeutung.

Auf diesem Hintergrund ist die Orientierungshilfe eher vorsichtig, wenn die Bibel benutzt wird, um zu begründen, dass die Ehe gleichsam in die Natur des Menschen eingeschrieben sei. Die Vorstellung von bestimmten „naturgemäßen“ Lebensformen, die meistens klassische Vater-Mutter-Kind-Bilder zum Maßstab nahmen, reibt sich an der Wahrnehmung, dass Menschen gelingendes gemeinsames Leben in vielfältiger Weise gestalten können. Für Dietrich Bonhoeffer erhalten Ehe und Familie erst als „göttliche Mandate“ ihre Geltung – dabei geht es darum, wie wir die Institutionen leben. Weder lassen sie sich aus der Natur des Menschen ablesen noch dürfe man sie als ewige Ordnungen missdeuten, so Bonhoeffer.

Er betont aber, dass in der Relationalität die fundamentale Entsprechung zwischen Gott und Mensch bestehe. Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen liegt nach Bonhoeffer darin, dass er wie sein Schöpfer frei und zugleich auf den anderen bezogen ist. Auch Gott ist nicht frei an sich, sondern frei für den Menschen. Er hat sich in seiner Freiheit an uns gebunden und kann uns gerade so befreien.

Die Orientierungshilfe geht also nicht von naturrechtlichen Überlegungen aus. Wer ontologische Überlegungen der Geschlechterdifferenz zugrunde legt, um zu beschreiben, dass der Mensch auf ein Gegenüber angewiesen ist, wird Homosexualität oder Transsexualität als Abweichung betrachtet. Dabei ist es, medizinisch und psychologisch gesehen, mit der Polarität der Geschlechter nicht so einfach, wie einige glauben möchten – manche sprechen von insgesamt 8 Geschlechtern. Es geht also um die Frage, ob wir von „Normalität“ und „Anderssein“ oder von Vielfalt ausgehen – eine Frage, die unsere Gesellschaft z. Zt. in vielerlei Hinsicht herausfordert- in Genderfragen, Inklusion und Kultur. Und auch das Generativitätsverhalten – „Seid fruchtbar und mehret Euch“ – hat sich seit Pille und Reproduktionsmedizin radikal verändert, so radikal, dass seit den 70er Jahren 100.000 Samenspenderkinder zur Welt kamen. Einerseits wird also das Geschlechterschicksal, die „Natur der Frau“, längst nicht mehr als zwingend erlebt – andererseits haben Menschen viel mehr mit Entscheidungen Grenzerfahrungen, Scheitern, Einsamkeit zu tun. Mit den Schattenseiten der Herstellungsgemeinschaft wie der Autonomie. Immerhin: schaut man auf die Geschlechterdifferenz, hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass die Gottesebenbildlichkeit in gleicher Weise für beide Geschlechter gilt. Die damit verbundene Vorstellung von der Gleichheit macht nun – anders als zu biblischen Zeiten – möglich, eine gleichgeschlechtliche Beziehung als ebenbürtige zu denken.

Die Angewiesenheit aufeinander wie auf den Segen Gottes, die die Freiheit nicht in Frage stellt, sondern in einem tieferen Sinne erst ermöglicht, steht deshalb im Mittelpunkt der theologischen Überlegungen der Orientierungshilfe. Angesichts der Umbrüche, die wir erleben, angesichts von Scheitern und Grenzerfahrung, aber auch von unerfüllten Wünschen ist diese Segensorientierung wichtig. Dabei geht es nicht nur um den Schöpfungssegen, sondern um den immer wieder erneuerten Segensbund Gottes, dem unser menschlicher Bund entsprechen soll. In seiner kirchlichen Dogmatik (KD IV/1,57-70) nimmt Karl Barth den Bundesgedanken auf, wenn er die Gottesebenbildlichkeit des Menschen darin entdeckt, dass Menschen Beziehungswesen sind – was sich eben auch und besonders in der Bezogenheit von Mann und Frau zeigt. In der Gemeinschaft, die Gott seinem Volk in immer neuen Bundeszuschüssen zuspricht und zuletzt in seiner Menschwerdung bekräftigt, ist ein tiefer Grund für die Gemeinschaftsfähigkeit des Menschen gelegt – und zugleich wird darin deutlich, dass trotz Brüchen und Versagen immer neue Vergebung und Versöhnung möglich wird. Auf diesem Hintergrund betont die Orientierungshilfe im Blick auf das Scheidungsverbot Jesu vor allem die Schutz- und Anspruchsrechte der Schwachen – damals der Frauen, heute der Kinder, die auf den Rechtscharakter funktionierender Institutionen angewiesen sind. Von den Kindern her begründet Bernhard Laux unsere Hoffnung und Erwartung auf eine dauerhafte Beziehung, das Leitbild der verlässlichen Gemeinschaft in der Ehe oder Partnerschaft. Die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern sind von einer solchen Bedeutung, dass sie in der gesamten Bibel zum Symbol für die Gottesbeziehung werden.

Von Anfang an sind aber auch Familie und Christliche Gemeinde aufeinander bezogen. Die ersten Jünger haben ihre Herkunftsfamilien verlassen, die ersten Christengemeinden haben mit religiösen Normen gebrochen, weil sie ihren Glauben als Befreiung empfanden, sie haben alles daran gesetzt, Menschen aus den unterschiedlichsten Traditionen für einen Weg mit Christus zu gewinnen. Das gilt es neu zu entdecken; es fordert die Gemeinden aber auch heraus. Die religiöse Erziehung in der Familie muss ergänzt werden durch Wege erwachsenen Glaubens; Eltern unterschiedlicher Konfession und Religion müssen darin gestärkt werden, mit Vielfalt zu leben und Kinder brauchen Ermutigung, ihrer religiösen Neugier und Sehnsucht zu folgen; Großeltern brauchen Unterstützung bei der Glaubensvermittlung an ihre Enkel und das Patenamt muss aus dem Schatten der Jahrhunderte geholt und entstaubt werden. Leihomas, Ausbildungsmentoren, Wahlväter oder -mütter können fehlende Rollen in der Familie ergänzen.

Tatsächlich ermöglicht die Gemeinde auch heute wieder eine erweiterte „Familiarität“, die auch Alleinlebende einschließt und zugleich Familien in vielfältiger Weise unterstützen kann. So betrachtet, haben auch die familienkritischen Aussagen gerade des Neuen Testaments eine wesentliche Funktion – Jesus betont die Bedeutung der Jüngerschaft als Wahlverwandtschaft – und relativiert die, Familie als Gemeinschaft des Blutes: „Die den Willen meines Vaters tun, die sind meine Mutter und Schwestern und Brüder.“ Deshalb konnten und können eben auch kirchliche Gemeinschaften die Rolle der Familie übernehmen – so wie in den Klöstern oder den Einrichtungen der Gemeinschaftsdiakonie des 19. Jahrhunderts, als die Kleinfamilien während der industriellen Transformation schon einmal vollkommen überfordert waren.

Ist Familie unverwüstlich, trotz allem Wandel? Wenn wir Familie als Sorgegemeinschaft der Generationen verstehen und dabei die verschiedenen Formen der Partnerschaft und auch christliche Wahlfamilien einbeziehen, ganz sicher. Beginnend mit dem Schöpfungssegen, über das Zeichen des Regenbogens bis zum Sinaibund und den Segenshandlungen Jesu lassen sich die biblischen Texte als Zuspruch lesen, das Leben zu wagen, Verantwortung zu übernehmen und anderen zu verlässlichen Bündnispartnern und zum Segen zu werden. Dass dieser Segen erfahrbar wird, dazu kann auch die Kirche beitragen.

 

Cornelia Coenen-Marx, Hermannsburg 1.3.18